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II. PROTEST UND POLEMIK
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ABWICKLUNG DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT
Bescheidener Akt der Solidarität -
»Alle Linken müssen raus«
[siehe Wikipedia]
TOTALABWICKLUNG DER DDR
Über den Umgang mit deutschen Kommunisten
DER NEUE »REALISMUS«
Marginalie zu André Brie
NEUE GLAUBENSSÄTZE
Marginalie zu Wolfgang Gehrcke
KELLER MIT DOPPELTEM BODEN
Glosse zu Dietmar Keller
DIE MORAL DER GESCHICHTE: EINE GESCHICHTE OHNE MORAL
Polemik contra Michael Brie
SCHWARZBUCH ODER POESIEALBUM?
Eine
Rezension
KOLUMNE
Vom Kopf auf die Füße stellen...
WISSENSCHAFT UND AUCH KATECHISMUS
Marxismus-Leninismus in der DDR MARXISTISCHES
FORUM Macht und Sprache
EIN LESERBRIEF Stalin
oder doch nicht Stalin
EIN KOLLOQUIUM Nach-Denken über den Sozialismus
Bescheidener Akt der Solidarität
[in: Humboldt-Universität
23/24-1990/91, S. 3]
An die Mitglieder des
Akademischen Senats der Humboldt-Universität zu Berlin
Magnifizenz, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Studentinnen und Studenten!
Nachdem durch das Berliner Verwaltungsgericht am 20.
Februar 1991 fast 1000 Kollegen unserer Universität zur »Abwicklung«
freigegeben wurden, sehe ich mich - auch aus moralischen Gründen - nicht
mehr in der Lage, mein Senatorenamt weiterzuführen.
Ich möchte Sie bitten, meinen Rücktritt als ein
Zeichen des Protestes gegen eine politische Entscheidung zu verstehen, die -
mutatis mutandis - unheimliche Analogien zu den dunkelsten Zeiten unserer
Universitätsgeschichte nahelegt.
Wenn es nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes
nunmehr deutsches Recht sein soll, daß Vertreter des Marxismus nicht nur
aus Strukturgründen, sondern prinzipiell und also selbst dann zu entfernen
sind, wenn sie nach der Auflösung der Sektion Marxismus-Leninismus
verwaltungstechnische Aufgaben übernommen haben, dann erinnert mich dieser
Vorgang auf fatalste Weise an Säuberungsaktionen, die einstmals darauf
zielten, die Universität »judenrein« melden zu können.
Als Theologe bin ich seit Jahren Mitglied einer
Fakultät, an der der Dialog zwischen Christen und Marxisten zur Signatur
der akademischen Arbeit gehörte. Diesem Dialog verdanke ich wertvolle
wissenschaftliche Einsichten und menschliche Erfahrungen. Und so möchte ich
meinen Rücktritt auch als einen bescheidenen Akt der Solidarität
verstanden wissen.
Eine Universität, die am Ende des 20. Jahrhunderts
angewiesen wird, Marxisten auszugrenzen, wird faktisch dazu verurteilt, den
Gedanken der universitas litterarum preiszugeben. Dieser typisch deutsche
Radikalismus dürfte unter den Gebildeten westeuropäischer Universitäten
kaum auf Verständnis stoßen.
Wäre ich nicht für den Existenzunterhalt einer nach
marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten viel zu großen Familie
verantwortlich, würde ich unter den gegebenen Umständen meine Kündigung
einreichen. So bleibt mir nur der Protest in der Gestalt eines Rücktritts
von meinem Senatorenamt.
In der Hoffnung, mit dieser zweifellos inkonsequenten
Haltung nicht zu der wieder einmal erstaunlich großen Schar von
Opportunisten gerechnet zu werden, grüße ich Sie sehr freundlich.
Ihr Dozent Dr. sc. theol. Dieter Kraft
Berlin, den 23. Februar 1991
»Alle Linken müssen raus«
[in: UnAUFGEFORDERT 22,
Studentenzeitung der Berliner Humboldt-Uni vom 17. April 1991, S. 5]
»Alle Linken müssen raus.« Diese Strategie sieht der Theologiedozent Dieter Kraft hinter der
Abwicklung - und reichte seinen Rücktritt aus dem Akademischen Senat ein. UnAUF
sprach mit ihm.
UnAUF: Sie
haben nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zur Abwicklung ihren Rücktritt
als Mitglied des Akademischen Senats erklärt. Warum?
Kraft: Wer
von einem Konzil in den Senat gewählt wird, kann nachher eigentlich nicht
mehr in diesem Senat weilen, wenn ein Großteil seiner Wähler nicht mehr
der Universität angehört. Und das ist mit der Abwicklung passiert. Das
andere ist, daß man in der jetzigen Situation wenigstens noch durch so
einen protestierenden Akt - der ja hilflos genug ist - widersprechen muß.
Das Bundesverwaltungsgericht wird jetzt vielleicht
drei Jahre brauchen, um festzustellen, ob das denn alles rechtens ist, was
da passierte. Und dann könnten die Kollegen, die - ich will nicht sagen:
abgewickelt - entlassen wurden, sich wieder einklagen in die Universität,
und da würden sie auch noch einmal drei bis sechs Jahre brauchen. Das würde
bedeuten, in neun Jahren würde dann irgendein Gericht ihnen bestätigen:
jawohl, es ist Ihnen Unrecht geschehen. Nur wird dann eine Einklagung gar
nicht mehr möglich sein. Ich halte das Ganze für einen Skandal.
UnAUF: Nun
haben ja die meisten der Abgewickelten zumindest theoretisch die Chance,
sich nach der Warteschleife neu zu bewerben. Nur die ehemaligen Angehörigen
der Sektion M/L sind sofort entlassen worden. Sie haben Ihren Rücktritt
sehr stark mit der Solidarität für die M/L-Kollegen motiviert. Lohnt es
sich denn, wegen dieser doch relativ kleinen Zahl von Leuten den Senat zu
verlassen?
Kraft: Ich
bin zu sehr Theologe, um mich auf solche Quantifizierungen einlassen zu können.
Es geht ja hier um eine prinzipielle Frage. Man könnte das - mal sehr
schematisch abgekürzt - auf den Nenner bringen: alle Linken müssen erst
mal raus. Und wer da wirklich links ist, wissen wir natürlich nicht so
genau, bis auf die professionell Linken - und das sind die M/Ler. Bei den
anderen werden wir da noch mal nachschauen ... Ich halte es mit Thomas Mann
und denke, daß es nicht nur die Grundtorheit unseres Jahrhunderts wäre,
sondern einfach wissenschaftliche Idiotie, M/L aus der Universität
herauszunehmen. Am Ende des 20. Jahrhunderts zu behaupten, M/L sei keine
Wissenschaft, ist entweder keck oder dumm. Und ich glaube, daß mir da viele
westeuropäische Geisteswissenschaftler zustimmen werden.
UnAUF: Ich
will nicht bestreiten, daß der Marxismus eine ernstzunehmende Wissenschaft
ist. Aber ich habe auch fünf Jahre an dieser Universität studiert und die
M/L-Ausbildung über mich ergehen lassen müssen. Und ich würde zumindest
bezweifeln, daß die Mehrheit der an der Sektion M/L Beschäftigten
ernstzunehmende Wissenschaftler, ja überhaupt Marxisten gewesen sind. Ich
denke, daß Sie vielleicht eher mit den Ausnahmen zu tun hatten.
Kraft: Ich
war wahrscheinlich ein bißchen privilegiert an der Sektion Theologie. Wir
hatten sehr seriöse, ernstzunehmende Gesprächspartner von M/L.
UnAUF: Das
ist wohl kein Zufall. Es wurden immer die besten Leute auf die Theologen »angesetzt«.
Kraft: Man
konnte jedenfalls ganz sachlich im Dialog um Erkenntnisse ringen. Und dann
ist es wie in jedem anderen Fachbereich auch: es gibt die interessanten und
die weniger interessanten Vertreter. Es gibt die medizinischen Koryphäen,
und es gibt die praktischen Ärzte ...
Aber hier geht es um dieses á priori, mit dem diese
Leute weg müssen. Und darum, daß sie sich an dieser Universität nicht mal
mehr als Pförtner bewerben können. Selbst dort, wo sie nach der Auflösung
der Sektion M/L in die Verwaltung
anderer Bereiche reingekommen sind, müssen
sie verschwinden. Und das will mir nicht in den Kopf.
Das andere ist, daß mit der Abwicklung der fünf
Bereiche ein M/L-»verseuchtes« Wissenschaftspotential liquidiert werden
sollte. Dort haben wir, z. B. bei den Historikern, so schlechte Leute nicht,
auch sehr exponierte. Natürlich sind deren Arbeiten aus einer ganz
bestimmten Perspektive artikuliert. Das ist mir symptomatisch: es sollen
alle, die in irgendeiner Weise ideologisch »staatstragend« waren,
ausgegrenzt werden. Für den Wissenschaftssenator hat das sicherlich auch
eine innere Logik. Nur bin ich nicht der Wissenschaftssenator.
UnAUF: Nun
war ja M/L doch in besonderer Weise »staatstragend«: die Ausbildung hatte
eine exponierte Rolle im Studienplan; wir haben viel Zeit vertan mit
M/L-Lernkonferenzen und ähnlichem Schwachsinn; die M/L-Noten waren mit die
wichtigsten überhaupt für Diplom und Doktortitel ... Und wer dort beschäftigt
war, der hat, denke ich, in besonderer Weise diese Perversionen mitgetragen.
Kraft: Mit
dem Begriff »Perversion« wäre ich vorsichtig. Es liegt in der Logik der
gegenwärtigen Politik, daß erst einmal alles pervers gewesen sein muß.
Ich weiß nicht, was perverser ist: die Situation jetzt, diese verkehrte
Welt, oder die, die wir hatten. Daß da vieles komisch, schwierig, manches
auch schwer erträglich, vieles auch lächerlich war, ist ja ganz
unbestritten.
UnAUF:
Meinen Sie nicht, daß Sie trotz allem im Senat mehr hätten bewirken können,
auch nach der Abwicklung? Ist Ihr Rücktritt nicht eher ein Punkt für die
Leute in der Wissenschaftsverwaltung, die lieber gemäßigtere, angepaßtere
Leute in den Universitätsgremien sähen?
Kraft:
Viele Kolleginnen und Kollegen haben mich gerade mit diesem Vorbehalt
gebeten, den Schritt noch einmal zu überdenken. Aber: ob es der akademische
Senat will oder nicht - er trägt indirekt und mittelbar die Verantwortung
dafür, daß die Kollegen Entlassungsschreiben bekommen haben. Und diese
Verantwortung kann ich für meine Person nicht übernehmen. Das andere ist,
daß ich nach dem Jahr Senatsarbeit und der Zuspitzung der
wissenschaftspolitischen Situation nicht mehr genau erkennen kann,
wo denn der Senat wirklich eigenständig Verantwortung tragen kann. Wenn
es darauf ankommt, wirkliche universitätspolitische Entscheidungen zu
verantworten, wird - das hat die Abwicklung bewiesen - der Akademische Senat
ausgeschaltet.
Einige Kollegen von FU und TU werden durchaus recht
haben mit ihrer Befürchtung, daß das rigide Eingreifen in die
Humboldt-Universität für die gesamte Berliner Wissenschaftslandschaft auch
als Fanal gedeutet werden kann. es gibt auch an der FU einige Bereiche, über
die der Wissenschaftssenator nicht so sehr glücklich ist. Und man wird
vielleicht damit rechnen müssen, daß Ähnliches, vielleicht nicht unter
dem Begriff »Abwicklung«, sondern »Neustrukturierung« oder »Reorganisation«,
sich dort ebenfalls ereignet.
UnAUF:
Kommt bei Ihrer Entscheidung vielleicht auch eine gewisse Senats»müdigkeit«
hinzu?
Kraft:
Eigentlich nicht. Das spielte keine Rolle. Ich würde sehr gern weiter
mitgearbeitet haben im Senat - nur unter den Bedingungen geht das nicht. Es
gibt Fragen, die so ein moralisches Gewicht bekommen, daß man gegen seinen
eigenen Charakter verstoßen würde, wenn man sie beiseite schöbe.
Das Gespräch führte ms.
Über den Umgang mit deutschen Kommunisten
[Beitrag zum Kolloquium anläßlich des
50. Jahrestages der Ermordung Ernst Thälmanns, Berlin, 9. Juli 1994, in: Weißenseer
Blätter 3/1994, S. 23-29 /gekürzte Fassungen in: ND, 23./24.7.1994, S. 10;
UZ, 19.8.1994, S.13+15]
Ein wenig scheue ich mich, zu diesem Thema auf einem
Kolloquium zu reden, bei dem es weit kompetentere Referenten und zudem wohl
niemanden gibt, der nicht um die ungeheuerlichen Dimensionen der sog. »Abwicklung«
wüßte und schließlich auch darum, wie die deutsche Bourgeoisie mit
Kommunisten umzugehen pflegt. Ich habe aber dennoch nicht gezögert, die
Einladung zu diesem Thälmann-Kolloquium anzunehmen. Schließlich wurde Thälmann
vor 50 Jahren in jenem KZ ermordet, in das auch der evangelische Theologe
Dietrich Bonhoeffer vor seiner Hinrichtung am 9. April 45 deportiert worden
war und in dem der evangelische Pfarrer Paul Schneider schon am 18. Juli 39 zu
Tode geprügelt wurde. Bonhoeffer und Schneider sind Thälmann nie begegnet,
aber Buchenwald hat ihre Biographien in eine Gemeinsamkeit geführt, die über
ihren Tod hinaus Verbindlichkeit schafft. In den faschistischen
Konzentrationslagern, deren Ziel die tödliche Isolation war, ereignete sich
ja weithin das Gegenteil, nämlich jene objektive Gemeinschaft, die dann nach
1945 auch dazu führte, daß es unter denen, die überlebten, Christen und
Kommunisten gab, die, jedenfalls im Blick auf ihre jüngste Vergangenheit, nun
eine gemeinsame Herkunft hatten. Eine historisch einzigartige Situation, die
freilich eine Ausnahme blieb, denn die KZ waren nicht für Christen errichtet
worden, die sich - aufs Ganze gesehen - mehr oder weniger arrangiert und sich
als sog. »Deutsche Christen« mit dem Faschismus sogar begeistert
identifiziert hatten.
Um so einprägsamer wurden denn auch die Namen jener,
denen man in den protestantischen Kirchen nach 1945 den Rang von Märtyrern
zuerkannte - nicht selten allerdings auch bestimmt von dem kirchenpolitischen
Motiv, sich nun nachträglich in dem Widerstand Einzelner repräsentiert zu
geben. Auf die Idee, auch eines Ernst Thälmann kirchlich zu gedenken, kam in
dieser Kirche offiziell natürlich niemand. Dabei wäre sie so abwegig gar
nicht gewesen. Am Vorabend des Münchener Abkommens hatte der 1935 aus
Deutschland vertriebene Schweizer Theologe Karl Barth seinem tschechischen
Kollegen Josef Hromádka geschrieben, »daß jetzt jeder tschechische Soldat
nicht nur für die Freiheit Europas, sondern auch für die christliche Kirche
stehen und fallen wird« (Brief vom 19.9.38). Ein Satz, der einen Sturm der
Entrüstung auf seinen Verfasser zog und die Leitung der Bekennenden Kirche in
Deutschland gar zu einem »förmlichen Verweisbrief« veranlaßte. Gleichermaßen
entrüstet hätte man sich nach 1945 in den deutschen Kirchen über den
Gedanken, daß der antifaschistische Widerstand deutscher Kommunisten im Sinne
Barths letztlich auch »für die christliche Kirche« geleistet worden sei,
wobei davon einmal ganz abgesehen werden darf, daß gerade auch deutsche
Kommunisten vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der deutschen
Kirchengeschichte einer solchen Vorstellung wohl höchst zwiespältig gegenübergestanden
hätten. Für die offizielle Kirche aber wäre sie grundsätzlich indiskutabel
gewesen, denn Thälmann war schließlich kein Christ, sondern Kommunist. Und
wenn man schon nicht oder nicht hinreichend antifaschistisch gewesen war,
antikommunistisch wollte man auch nach 1945 auf jeden Fall sein und bleiben.
Ich erwähne dieses eigentlich nur, um zum Ausdruck zu
bringen, daß ich als evangelischer Theologe an diesem Kolloquium eben nicht
nur teilnehme, weil es erklärtermaßen nicht nur um Thälmann geht. Mir persönlich
geht es gerade auch um diesen deutschen Kommunisten, und nachdem ich zu
sozialistischen DDR-Zeiten häufig Gelegenheit hatte, über den Theologen
Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, freut es mich nun zu kapitalistischen
BRD-Zeiten ganz besonders, auf eine Veranstaltung zum Gedenken des Kommunisten
Ernst Thälmann geladen worden zu sein. Und wenn es auch in dem mir
angetragenen Thema nicht vordergründig um Thälmann selbst geht, so geht es
tatsächlich doch um durchaus Analoges, denn man wird den Totalitarismus, mit
dem die DDR zerschlagen wurde und noch immer »abgewickelt« wird, kaum
begreifen können, wenn man sich dabei ausschließlich auf kapitalökonomische
Interessen konzentriert. Diese allein sind zugegebenermaßen schon so massiv,
daß sie eine ausreichende Erklärung für die verwüstende Tätigkeit der
sog. »Treuhand« liefern könnten. Und die Logik, mit der hier gearbeitet
wird, ist ja auch durchaus stringent: die DDR muß um jeden Preis
deindustrialisiert werden, um dem westdeutschen Industriekapital mögliche
Konkurrenz auszuräumen und den Handelskonzernen jenen
Alleinvertretungsanspruch einzulösen, den das Finanzkapital bereits mit dem
3. Oktober 1990 endgültig erobert hatte. Entsprechend sieht denn auch die
Rechnung aus, die von der sog. »Treuhand« aufgemacht wurde: von dem im
Oktober 1990 auf ca. 650 Milliarden veranschlagten DDR-Vermögen ist nach
nicht einmal vier Jahren nicht nur keine einzige Mark übriggeblieben. Die
offizielle Bilanz weist heute sogar ein Defizit von 275 Milliarden aus.
Eine auf den ersten Blick unglaubliche und nach den
sakrosankten Maximen der Kapitalverwertung absurde Bilanz, die in der
Geschichte des Kapitals ohne Beispiel ist. Kein Konzern der Welt wäre in der
Lage, 650 Milliarden in knapp vier Jahren selbst unter ungünstigsten
Bedingungen nicht wenigstens auf 700 Millarden zu akkumulieren. Wenn die sog.
»Treuhand« nunmehr sogar mit riesigen Schulden operiert, dann gibt es dafür
nur eine Erklärung: sie hat mindestens 275 Milliarden investiert, um aus dem
zehntstärksten Industrieland der Welt eine Industrieruine werden zu lassen.
Daß sich das Kapital weltweit und weithin zum Nulltarif aus dem Volksvermögen
der DDR bedienen konnte, ist also nur die eine und zwar jene Seite der
Liquidationspolitik, die durchaus Tradition hat. Kriege werden geführt, um
Beute zu machen, und wer nach einem gewonnen »kalten« Krieg Millionenobjekte
für 1 Mark »kaufen« kann, hat sogar den Vorzug, wählen zu dürfen, ob er
denn nun als einfacher Käufer oder einfach als Räuber zählen möchte. Und
heutzutage man muß ja auch gar nicht erst zum Kreis der Golfspieler gehören,
um Sinn und Geschmack dafür zu bekommen, daß letzteres nur unter bestimmten
Bedingungen als ehrenrührig gilt.
Für die andere Seite dieser Liquidationspolitik lassen
sich Traditionen hingegen weit schwieriger ausmachen, denn es ist historisch
wohl beispiellos, daß die herrschende Klasse eines Staates nach der
siegreichen Eroberung eines Landes Hunderte von Milliarden ausgibt, um das
besiegte Land industriell, kulturell und sozial zu destruieren. Der
Kolonialismus hatte ein vitales Interesse daran, das bestehende
wirtschaftliche Potential der eroberten Länder zu erhalten und zu entfalten.
Schließlich ging es um die optimale Ausbeutung der unterworfenen Gebiete.
Auch wenn die Annexionspolitik der deutschen Bourgeoisie gegenüber der DDR
mit der abstrafenden Rute des Kolonialherren durchgesetzt wird , gemessen an
dem klassischen Kolonialinteresse dürfte es im wesentlichen nicht einmal
korrekt sein, von Kolonialisierung zu sprechen. Viel eher bietet sich eine
Erinnerung an den Morgenthau-Plan an, der die Vernichtung der deutschen
Industrie ebenso vorsah wie die kollektive Bestrafung aller Deutschen und jene
umfassende Depotenzierung Deutschlands zum Ziel hatte, von der heute - mutatis
mutandis - Ostdeutschland betroffen ist. Dabei geht die herrschende Bonner
Politik über die Vorstellungen des US-amerikanischen Finanzministers
Morgenthau sogar noch hinaus. Dessen spektakulär gewordenes Memorandum sah
immerhin noch vor, aus dem Deutschen Reich einen Agrarstaat zu machen. Im
Unterschied dazu wurde seit dem 3. Oktober 1990 selbst die einst blühende
Landwirtschaft der DDR verwüstet.
Von und mit der GBM, der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht
und Menschenwürde , wurden seit 1992 drei »Weißbücher« herausgegeben, in
denen authentisch dokumentiert ist, wie vielfältig die Analogien zum
Morgenthau-Plan tatsächlich sind und wie ausgesucht zynisch sich demgegenüber
die Wahlkampfdemagogie ausnimmt, die im März 1990 noch mit einem ostdeutschen
Marshall-Plan auf Stimmenfang ging. Und dieses, wie wir wissen, mit einem
Erfolg, der, wie man ja jetzt stereotyp zu sagen pflegt, »aus heutiger Sicht«
die Frage zuläßt, was in der DDR seit dem VIII. Parteitag wohl schnellere
Fortschritte gemacht haben mag: das Wohnungsbauprogramm oder die politische
Dummheit. Die 3 »Weißbücher«, denen noch weitere folgen werden, haben in
einem ersten Fazit eine Bilanz gezogen, die so dramatisch ausfällt, daß der
Vorsitzende des Kuratoriums der GBM, Pastor Dr. Dieter Frielinghaus, bereits
im Vorwort zum ersten Band resümieren mußte: »Wir bezweifeln, daß jemals
außerhalb von Kriegs- und Nachkriegszeiten das Leben so vieler Menschen in so
kurzer Zeit in solche Ungewißheit, Ratlosigkeit und Not gestürzt worden ist.«
( Wolfgang Richter (Hrsg.): Unfrieden in Deutschland. Diskriminierung in den
neuen Bundesländern, Berlin 1992, S. 8)
Die systematische Demontage der DDR hat inzwischen alle
Lebensbereiche erreicht, alle Klassen und Schichten der Bevölkerung und auch
alle Generationen. Bereits eineinhalb Jahre nach dem 3. Oktober 1990 waren 3.
396 000 Millionen Menschen in unterschiedlicher Weise direkt von
Arbeitslosigkeit betroffen, mit den entsprechenden Familienangehörigen also
über 60 % der Bevölkerung. Nachdem das Bauernland wieder in Junkerhand
gefallen ist, werden demnächst 75 % der Beschäftigten im primären
landwirtschaftlichen Sektor arbeitslos sein. Das sind 600 000 Bäuerinnen und
Bauern, mit ihren Familien weit über 1 Million Menschen. Von den in Forschung
und Lehre tätigen 195 000 Wissenschaftlern waren schon im Dezember 1992 nur
noch 12,1 % in einer Vollzeitstelle. Und von den ca 300 000, die in der
Volksbildung der DDR tätig waren, sind heute bereits über 75 000 entlassen
worden. Und es ist noch gar nicht abzusehen, wie viele man künftig noch mit
Berufsverboten belegen wird.
Ich gehe davon aus, daß ich in dem Kreis dieses
Kolloquiums keine umfassende Statistik vorzulegen brauche, um die Totalität
der herrschenden »Abwicklungs«-Praxis noch anschaulicher machen zu müssen.
In eine solche umfassende Statistik würden dann auch jene Hunderttausende
aufgenommen werden müssen, die in den verschiedensten Funktionen im Dienst
des Staates gestanden haben, auch in dem der Gewerkschaften und anderer
gesellschaftlicher Organisationen. Und aufgenommen werden müßten natürlich
auch all jene, die die zur Ware degradierte Wohnung nicht mehr bezahlen können,
die als Rentner von Armut bedroht sind, die als Jugendliche keine Lehrstelle
finden und keine Lebensperspektive haben, all jene auch, die den sog. »Alteigentümern«
weichen müssen, für die medizinische Hilfe zu einer Geldfrage zu werden
beginnt, für die Bildung ein unerreichbares Privileg werden wird und für die
soziale Sicherheit schon längst zu einem Fremdwort mutiert ist - ganz zu
schweigen von den Millionen Biographien, die nunmehr als »abgebrochen«
gelten, obwohl sie doch vorsätzlich zerbrochen worden sind.
Es wäre ein Irrtum, davon auszugehen, diese
katastrophale Situation sei lediglich eine sog. »Begleiterscheinung« der
Machtergreifung des Kapitals, zu dessen Herrschaft Arbeitslosigkeit und
soziale Verelendung nun einmal ebenso konstitutiv gehören wie die rücksichtslose
Privatisierung und der gnadenlose Konkurrenzkampf. Selbstverständlich ist die
Situation im nunmehrigen »Ostdeutschland« auch eine Folge der ganz gewöhnlichen
Systemmechanismen des Kapitalismus samt seiner gegenwärtigen Krise. Aber
dieses ist eben nur die eine Seite der Kapitalisierung der DDR durch die
deutsche Bourgeoisie. Die Totalabwicklung der DDR ist mehr als der von Verwüstung
begleitete Prozeß einer reinen Systemakkommodation. Sie ist zugleich und
zudem eine umfassende Vergeltungsaktion dafür, daß deutsche Kommunisten 40
Jahre lang dem deutschen Kapital den ungehinderten Zugriff auf einen
bedeutenden Teil des deutschen Territoriums verwehren konnten. Dieses muß natürlich
in den Augen der deutschen Bourgeoisie als ein Unrecht von unerhörtem Ausmaß
gelten. Und wenn die DDR heute von ihnen und ihren Ideologen als »Unrechtsstaat«
disqualifiziert wird, dann trifft dieses Urteil gerade auch in seiner
Pauschalität einen politischen Sachverhalt, der geschichtlich ja durchaus
gedeckt ist. Wenn man davon ausgeht, daß es keinen abstrakten Rechtsbegriff
gibt und das herrschende Recht immer das Recht der herrschenden Klasse ist,
dann läßt sich nach Maßgabe des heute nun auch wieder zwischen Elbe und
Oder herrschenden Rechts des Kapitals auf uneingeschränkte Akkumulation
sagen: Mit der Existenz der DDR wurde der deutschen Bourgeoisie in der Tat ein
Unrecht zugefügt, zudem noch vorsätzlich. Die Auseinandersetzung mit der »Unrechtsstaats«-These
greift deshalb dort viel zu kurz, wo lediglich apologetisch beteuert wird, daß
auch die DDR ein Rechtsstaat gewesen sei. Die eigentliche Auseinandersetzung
beginnt nicht dort, wo die These vom »Unrechtsstaat« einfach bestritten
wird, sondern in der Auseinandersetzung mit jenem Recht, von dem her das
Kapital die »Unrechtsstaats«-These ableitet. Wobei das Rechtsmonopol des
Bourgeois mit dem Rechtspostulat des Citoyen nicht einfach identifiziert, die
Rechtsdoktrin des Bürgerlichen mit dem Rechtsanspruch des Bürgers nicht
kurzschlüssig verwechselt werden darf.
Ähnliches gilt übrigens auch für die These von der
»SED-Diktatur«, die ja nicht deshalb demagogisch ist, weil es in der DDR
keine Diktate gegeben hätte, sondern weil in und mit ihr unterstellt wird, daß
die vom Kapital beherrschte Gesellschaft keine diktierte Gesellschaft sei.
Gerade Thälmann hat den Begriff der »Diktatur des Proletariats« in strenger
Korrelation zur real existierenden »Diktatur der Bourgeoisie« gebraucht, und
damit zugleich zum Ausdruck gebracht, daß jede Klassengesellschaft dem Wesen
nach eine Diktatur ist, die sozialistische gar nicht ausgenommen. Die
Auseinandersetzung mit der demagogischen Formel von der »SED-Diktatur« kann
also nicht damit einsetzen, die Diktatur des Proletariats nachträglich
kaschieren zu wollen, wiewohl durchaus auch die eigene Frage beantwortet
werden muß, inwieweit und wie lange die Diktate der SED die Diktatur des
Proletariats gültig zum Ausdruck gebracht haben. Die eigentliche
Auseinandersetzung aber muß vielmehr darin bestehen, transparent zu machen,
daß der Begriff der Diktatur im wesentlichen nicht eine bestimmte politische
Herrschaftspraxis zum Inhalt hat, sondern ein gesellschaftliches
Herrschaftsverhältnis, das auch mit den Mitteln der parlamentarischen
Demokratie aufrechterhalten werden kann. Die parlamentarische Demokratie
schließt die Diktatur des Kapitals nicht aus, sie ist vielmehr eine ihrer
politischen Gestalten. Und seit dem 3. Oktober 1990 ist das in Ostdeutschland
auch für immer mehr Menschen zunehmend handgreiflich geworden. Auch die
Tatsache, daß es im sog. »Rechtsstaat« nicht etwa um soziale Gerechtigkeit
geht, sondern um soziale Ungerechtigkeit auf rechtlicher Grundlage, hat dazu
geführt, daß legislative Entscheidungen gewählter Politiker in wachsendem
Maße nicht nur als Diktate erfahren, sondern als solche auch durchschaut
werden, selbst wenn sie von parlamentarischen Mehrheiten sanktioniert worden
sind. Was in den gleichgeschalteten Medien gern unter dem Stichwort »Politikverdrossenheit«
verhandelt wird, ist im Grunde ja nichts anderes als die Verdrossenheit darüber,
daß »die da oben eh machen, was sie wollen«. Und selbst das unreflektierte
Bewußtsein davon, daß »die da oben eh machen, was sie wollen«, ist der
erste Schritt zur Einsicht dessen, was eine Klassengesellschaft ausmacht.
Gegenwärtig wäre mit einer solchen Einsicht politisch nicht sehr viel
gewonnen, wenn sie davon absehen würde, daß es nun eben doch einen
erheblichen Unterschied macht, ob das Kapital in der Gestalt einer »parlamentarischen
Demokratie« oder in der des offenen Faschismus regiert. Denn die Gefahr eines
erneuerten Faschismus beginnt inzwischen wieder so groß zu werden, daß die
Verteidigung der »parlamentarischen Demokratie« zu einer aktuellen Aufgabe
aller antikapitalistischen Kräfte wird.
Gemessen an Frankreich, aber sogar auch an Großbritannien
gehört es zum Spezifischen der kapitalistischen Gesellschaft deutscher
Provenienz, daß die politische Linke nicht zur Nation gerechnet wird, schon
gar nicht, wenn sie sich als kommunistisch definiert. Dieses Verdikt hat
Tradition und reicht bekanntlich zurück bis zu den sog. »Sozialistengesetzen«
des Urgroßvaters des Grafen von Einsiedel, der dessen ungeachtet wenig
Probleme mit dem Nationalen hat. Unter Kanzler Bismarck durften Sozialisten
natürlich nicht nur keine Professuren innehaben, sie sollten letztlich überhaupt
nichts mehr dürfen. Unter Kanzler Hitler durften sie nicht einmal mehr am
Leben bleiben. Unter Kanzler Adenauer sorgten Hitlers Richter und Staatsanwälte
dafür, daß Tausende Kommunisten und Linksdemokraten wieder in Gefängnissen
verschwanden. Unter dem SPD-Kanzler Brandt wurden sie mit Berufsverboten
belegt. Und unter dem CDU-Kanzler Kohl geht es seit Oktober 90 schon gar nicht
mehr ausschließlich um Kommunisten, sondern um den sog. »staatsnahen« DDR-Bürger
schlechthin, der mit dazu beigetragen hat, daß der erste sozialistische Staat
auf deutschem Boden immerhin 40 Jahre Bestand hatte. Und weil es sich eben um
einen sozialistischen Staat handelte, geht es in der politischen Verfolgung
und sozialen Diskriminierung des »staatsnahen« DDR-Bürgers letztlich eben
doch wieder um den deutschen Kommunisten. Früher sollte er ausgegrenzt und
eliminiert werden, weil er die Machtfrage stellte; heute soll er ausgegrenzt
und isoliert werden, weil er die Macht hatte. Und letzteres wiegt doppelt
schwer, zumal damit gerechnet wird, daß sich in diesen 40 Jahren ein
Potential an antikapitalistischem Bewußtsein entwickelt hat, das nun eben
nicht mehr nur von Kommunisten repräsentiert wird. Damit gerät vor allem
auch der sog. »ostdeutsche Intellektuelle« als solcher unter Verdacht und
Verdikt. Seine »Abwicklung« ist deshalb auch nicht eine Frage »fachlicher
Qualifikation« oder »fehlenden Bedarfs«, sondern eine Frage der »politischen
Brauchbarkeit« im Sinne jener Kriterien, die durch eine möglichst ungestörte
Kapitalakkumulation nun einmal diktiert werden. Nicht auszudenken, wenn sich
dieses Potential in den sich permanent vertiefenden Krisen der
kapitalistischen Gesellschaft entfalten würde und man es wieder nötig hätte,
es in Lagern zu konzentrieren.
Wie wir wissen, hat man in der deutschen Bourgeoisie
dafür schon längst ein Problembewußtsein entwickelt. Wolfgang Richter hat
in dem von ihm 1993 herausgegebenen 2. Weißbuch den im Frühjahr 1991 in
Wildbach Kreuth vor Zeugen geäußerten Satz eines westdeutschen
CDU-Vertreters dokumentiert, in dem es im Blick auf den beabsichtigten Umgang
mit den Intellektuellen Ostdeutschlands wörtlich heißt: »Wir werden sie
nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den
sozialen Rand drängen.« (Unfrieden in Deutschland. Wissenschaft und Kultur
im Beitrittsgebiet, Berlin 1993, S. 7) Schon heute aber hält man es für nötig,
das antifaschistische Erbe der DDR möglichst restlos zu liquidieren. Wer
seine politischen Ziele so offen in Analogie zum deutschen Faschismus
formuliert, wird einen verordneten Antifaschismus unmöglich dulden können.
In eben dieser Logik gründet auch jene große Rochade, die gegenwärtig mit
Macht vollzogen wird. Während mit der Gründung der BRD unter Adenauer 1949
die faschistischen Beamten wieder in den »öffentlichen Dienst« aufgenommen
wurden, sollen nach der nunmehr vollzogenen Begründung der »deutschen
Einheit« unter Kohl die Antifaschisten sogar aus dem öffentlichen Bewußtsein
entfernt werden. Aber wahrscheinlich stimmt das Bild von der Rochade auch gar
nicht. Unbestritten ist jedenfalls, daß es im Staatsdienst der BRD nach deren
Gründung prozentual mehr NSDAP-Mitglieder gab als zu Zeiten des »Deutschen
Reiches« - und daß man sich in dessen Nachfolgestaat heute schon sehr
anstrengen muß, um noch Straßen, Schulen und Plätze zu finden, die die
Namen deutscher Antifaschisten und Kommunisten tragen, von Kasernen, die
ohnehin eher für Hitlers Generale stehen, einmal völlig abgesehen.
»Hitlers zweimal getötete Opfer«, so der Titel der
von Monika Zorn in diesem Jahr herausgegebenen Publikation über die »Westdeutsche
Endlösung des Antifaschismus auf dem Gebiet der DDR«. Eine Lektüre, nach
der man darüber doppelt irritiert ist, daß sich der Demontage des
Kommunisten und Antifaschisten Ernst Thälmann selbst bestimmte Kreise
innerhalb der PDS angeschlossen zu haben scheinen. Im sog. »Ingolstädter
Manifest » kommt sein Name jedenfalls nicht mehr vor, was ganz sicher all
jene gefreut haben wird, die zielstrebig daran arbeiten, die Kommunisten
innerhalb der PDS zu isolieren und möglichst zu eskamotieren und diese Partei
auf einen Weg zu schieben, der sie parteipolitisch kompatibel macht. Eine
Strategie, die man nach den letzten Wahlerfolgen der PDS ganz sicher mit noch
größerem Nachdruck verfolgen wird. Entsprechende Diskussionen in der SPD und
bei den Grünen haben das bereits ebenso indiziert wie die vorletzte Ausgabe
des »Spiegel«, in der Rudolf Augstein die Sache auf den Punkt bringt, wenn
er davon spricht, daß man die PDS »zu Recht (noch) nicht demokratisch nennen
kann« (Nr.27/ 4.7.94, S. 26), und in der man denn auch prompt wieder die »Kommunistische
Plattform« gegen die sog. »Reformer« ausspielt, indem letzteren schmackhaft
gemacht wird, wie »seriös« und »integrierbar« die PDS doch eigentlich
werden könnte, wenn sie sich von der KPF trennen würde. Und schließlich sei
ja auch der Wahlerfolg eine Bestätigung der sog. »Reformpolitik« innerhalb
der PDS.
Gerade dieses aber dürfte am wenigsten zutreffen, wenn
unter »Reform« die Mutation der PDS in eine linksbürgerliche Partei rechts
vom ganz linken Rand der SPD gemeint sein sollte. Eine solche »Reformpolitik«
haben bei den letzten Wahlen ganz gewiß die wenigsten gewählt. Und man müßte
sich schon sehr verrenken, wenn man behaupten wollte, die PDS habe so viele
Stimmen bekommen, weil die SPD im Osten eben keinen linken Rand hat und nicht
einmal zu sagen weiß, worin eigentlich ihre Mitte besteht. Sie hat so viele
Stimmen bekommen, weil gerade auch durch die Totalabwicklung der DDR eine
gesellschaftliche Situation entstanden ist, in der höchstens noch
Opportunismus und Dummheit damit rechnen können, daß im real existierenden
Kapitalismus die sozialen Insignien einer »zivilisierten Gesellschaft« zu
finden seien. Die Abwicklung der DDR ist so total und umfassend, daß von ihr
Menschen ganz unterschiedlicher politischer, sozialer und weltanschaulicher Prägung
gleichermaßen betroffen sind. Selbst wenn sie sich im Blick auf ihre
DDR-Vergangenheit keinerlei Gemeinsamkeit konzedieren würden, seit dem 3.
Oktober 1990 wächst eben zusammen, was zusammengehört. Für einen derart
populistischen Satz müßte ich mich jetzt eigentlich entschuldigen. Aber
warum sollten wir ihn eigentlich jenen überlassen, die mit ihm nicht einmal
recht haben. Er ließe sich im Blick auf den Wahlerfolg der PDS freilich auch
viel nüchterner übersetzen, denn die PDS ist von ihren Wählern nicht gewählt
worden, obwohl Sarah Wagenknecht zum Parteivorstand gehört oder weil Andre
Brie das Wahlbüro leitet, sondern weil ein Bewußtsein dafür gewachsen ist,
daß die außergewöhnliche Situation ein außergewöhnliches Maß an
Gemeinsamkeit abfordert, das selbst außergewöhnlich konträre Positionen überbietet.
Dem Wähler der PDS war jedenfalls bewußt, wer seine Stimme dieser Partei
gibt, der gibt sie auch den Kommunisten in dieser Partei, für die eben gerade
auch ein Ernst Thälmann zur Traditionsgeschichte gehört. Insofern ist die
Frage nach dem Umgang mit den deutschen Kommunisten seitens dieser Wähler
bereits beantwortet worden. Und vielleicht ist das sogar das Spektakulärste
an diesem Wahlergebnis, das ja damit zugleich bestätigt, daß die politisch
gebotene Reaktion auf die Totalabwicklung der DDR nicht getrennt werden kann
von dem heute gebotenen Umgang mit Kommunisten. In Bonn jedenfalls sieht man
das seitenverkehrt genauso.
Marginalie zu André Brie
[in: Neues Deutschland, 12./13.12.1992, S.
10]
Ich hätte nicht zur Feder gegriffen, aber diese
Kolumne von André Brie im ND vom 28./29. November und dann auch noch eine
solche Advents-Beilage von Herrn Konrad Weiß - das nenne ich Nötigung. Wer
will mich eigentlich so penetrant zwingen, das ND abzubestellen und lieber
gleich zur FAZ zu greifen? A.B. jedenfalls würde doch offenbar einiges darum
geben, in der FAZ beerdigt zu werden, vorausgesetzt, er dürfte die Grabrede
selber schreiben. Dazu hätte er das Niveau, denn schließlich kann er etwas
mit den »demokratischen Universalien« der Cora Stephan anfangen. Von
jemandem, der an Peter Glotz »zur Erkenntnis zu kommen« begann und also in
einer höchst intimen politisch-intellektuellen Nähe zu einem der »interessantesten
sozialdemokratischen Querdenker« siedelt, kann man das auch erwarten. Es soll
aber auch Leute geben, selbst in der PDS, die sind nicht an P.G., sondern an
Umberto Ecco »zur Erkenntnis« gekommen. Der hat es nämlich in »Der Name
der Rose« vermocht, den mittelalterlichen »Universalienstreit« so plausibel
zu machen, daß er nun nachgerade zur Allgemeinbildung gehört. Man muß jetzt
also weder Theolog noch Philosopher sein, um wenigstens dieses zu wissen: der
Streit geht gar nicht darum, ob es (demokratische) Universalien gibt oder
geben muß. Da waren und da sind sich alle einig: die gibt es. Aber:
universalia ante oder post res - das war, das ist die Frage! Gerade und vor
allem auch, wenn es um »demokratische« geht. Im Klartext: Kann es einen
allgemeinen Demokratie-Begriff geben, der vor (ante) jedweder
historisch-konkreten Definition von Demokratie liegt - oder ist nicht vielmehr
der Allgemeinbegriff »Demokratie« nur denkbar als Folge (post) konkret
definierter Verhältnisse?! A.B. hält es offensichtlich mit dem ante der
verwirrenderweise als Realisten Bezeichneten. Das ist durchaus auch opportun,
denn die sog. Nominalisten, die es mit dem post hielten, galten/gelten als
Ketzer - jedenfalls in der »offiziellen Gesellschaft«. Wer will das schon?!
A.B. ganz gewiß nicht. Und so stimmt er denn Frau Stephan auch ganz ungeniert
zu: jawohl, für »einen Teil der Linken, auch die SED,« trifft das »letztlich
zu« - sie sind bzw. waren »der Feind der Demokratie«. Und weil A.B. eben
ein »Realist« sein möchte, braucht er nun auch nicht mehr zu erklären, was
er unter »Demokratie« verstanden wissen möchte. Ist »Demokratie« ein
gesellschaftlicher Zustand, den man alle vier Jahre bekommen kann, wenn man
sich an der Wahlurne zwischen 4 bis 5 kapitaltragenden Parteien entscheiden
darf? Oder ist »Demokratie« eher eine »Universalie« zur Bezeichnung
gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen vielleicht nicht im traditionellen
Sinne »gewählt«, dafür aber in jener sozialen Sicherheit gelebt werden
kann, die offensichtlich erst nach ihrem Ableben die dialektische Differenz
zwischen Bürgerfreiheiten und Menschenrechten massenhaft ins Bewußtsein
treten läßt - und das nicht nur bei den Millionen Menschenrechtslosen
deutscher Provenienz? Oder ist »Demokratie« lediglich eine historisch
gewachsene Herrschaftsform der Bourgeoisie? Dann allerdings hätte A.B. selbst
hierin unrecht: nicht »die Linke«, das Bürgertum hat »mehr für
demokratische Verhältnisse gefochten...als jede andere politische Strömung«!
- Für den extremen mittelalterlichen Realismus erhöhte sich die Realität
der universalia mit zunehmendem Abstand von den konkreten Einzeldingen. Eine für
A.B. offensichtlich ideale Voraussetzung politischen Denkens. Denn wenn »Demokratie«
nicht mehr konkret definiert zu werden braucht, dann läßt es sich prächtig
reden über die »demokratische Austragung« und »Gestaltung« der Widersprüche
des weltweit herrschenden Kapitalismus. Der Nominalismus freilich hätte das -
mutatis mutandis - als bloße Rhetorik bezeichnet - wenn er freundlich gewesen
wäre.
Marginalie zu Wolfgang Gehrcke
[in: Neues Deutschland, 17./18.4.1993, S.
10]
Die Politik lebt immer von beidem: von der ergriffenen
Gelegenheit und von der verpaßten
Chance. Und nicht nur für den Historiker ist es interessant herauszufinden,
ob denn nun wirklich Chancen bestanden, und warum gute Gelegenheiten vertan
wurden.
Wolfgang Gehrcke hatte die nun wirklich sehr gute
Gelegenheit, in seiner ND-Kolumne vom 10./11. April ein Wort zum Ostermarsch
zu sagen. Wenn schon nicht ein marschweisendes, so doch aber wenigstens ein
Beiwort, das wenigstens in einem Nebensatz wenigstens auf die brennendsten
Themen der diesjährigen Demonstrationen hätte eingehen können. Statt dessen
hat Gehrcke die Chance ergriffen, diese Gelegenheit auszuschlagen und lieber
einen Ausflug in die Vergangenheit zu machen. Der (leicht überzeichnete)
Skopus seiner historischen Reminiszenz: 1968 hätte es zur Weltrevolution
kommen können, wenn dieses nicht
vom Warschauer Vertrag verhindert worden wäre.
Mit dieser Altlast im Gepäck wird fortan jeder
Ostermarsch nur noch ein Canossa. Es sei denn, der Pilger findet zur Kantschen
Fähigkeit zurück, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen. Dann mag er möglicherweise noch immer keine Antwort auf die Frage
finden, ob der Einmarsch in die CSSR politisch notwendig war. Aber daß der »Prager
Frühling eine der möglichen Antworten« auf den sich auch im Osten
herausbildenden neuen Produktionstyp der wissenschaftlich-technischen
Revolution gewesen sein soll, das wird er höchstens noch heimlich glauben können,
nachdem er so unheimlich deutlich zusehen mußte, wie ein Gorbatschow unter
Berufung auf Dubcek (!) den Sozialismus abschaffte und ein Dubcek in die
Politik zurückkehrte, nachdem die »Perestroika« vollendet war.
Gehrcke aber fordert nicht nur diesen Glaubenssatz ab.
Er will (warum eigentlich?) auch glauben machen, daß die bundesdeutschen »Achtundsechziger«
die damalige BRD »in den Grundfesten« erschüttert hätten - als sei eine »Rebellion«
schon eine Revolution. Doch die Konklusion ist durchaus einprägsam: wären
die Russen nicht nach Prag marschiert, könnten die Bonner heute nicht nach
Berlin umziehen.
Glaubenssätze lassen sich nicht theoretisch entfalten.
Vielleicht mußte Gehrcke dem Leser auch deshalb einen systematischen Zugang
zu dem von ihm entworfenen Szenarium schuldig bleiben. Mit politischer Theorie
hat es jedenfalls wenig zu tun, wenn Dutschkes Forderung nach »Produzentendemokratie«
abgeleitet wird von dem Erfordernis veränderter gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen für einen »neuen Produktionstyp« und wenn diese »Produzentendemokratie«
gleichzeitig zur »Bewegungsform der wissenschaftlich-technischen Revolution«
erklärt wird. Es sei denn, Gehrcke meinte schon 1968 etwas ganz anderes als
Dutschke.
Was »Produzentendemokratie« auch immer bedeuten mag -
wenn es im Zusammenhang mit ihr letztlich doch nur um die »Konzeption
kapitalistischer Modernisierung« ging, dann läßt sich freilich verstehen,
warum Gehrcke den wichtigsten Erfolg der »Achtundsechziger« darin sieht, daß
sie »den Übergang zu zwanzig Jahren sozialdemokratisch geführter Politik«
brachten. Und verstehen läßt sich dann auch, warum Gehrcke Dubcek noch immer
für einen 68er hält.
Glosse zu Dietmar Keller
[in:
Dietmar Keller, Matthias Kirchner (Hg.): Zwischen den Stühlen. Pro und Kontra
SED, Dietz Verlag, Berlin 1993, S. 103-105]
Mein liebes ND!
Wie soll ich Dir nur danken für die Dokumentation des Dr.D.K.,
MdB, v.d.E.-K.d.d.B. vom 1.3., S. 11: »Die
historische Wahrheit zwischen den deutschen Stühlen«. Allein schon
dieser fäkale Titelbalken ersetzt einen Besuch in der »Distel«. Und dann
erst die verborgene Story! Da war einmal ein Mann. Der wollte gern ein Herr
werden. Da ließ er sich verführen und ward ein stellvertretender Herr Mi...ster.
Herr M hatte es gut. In seinem Mi...sterium saß er
immer nur ganz stumm herum. Und wenn er schon einmal telephonierte, dann nur mit seiner stellv. Frau M.. Zwei- bis dreimal am Tag sagte er ihr mit unverstellter
Stimme, daß und wann er heimlich nach
Hause kommen würde. Mann konnte ja nie wissen. Er selbst wußte auch kaum
etwas. Er hatte nicht einmal Ahnungen,
wie er v.d.E.-K.d.d.B. gestand,
obgleich er auf diesem Gebiet studiert
war. Statt Bücher von Deckel zu Deckel zu lesen, ging er lieber ganz unorganisiert
in Kneipen. Dort dachte er gleich.
Bis an existentielle Fragen ging es!
Nach gedachter Arbeit ließ er sich erzählen, daß »in
jedem theologischen Seminar« das »gesamte«
»Kapital« gelesen werde. Er rechnete nicht nach (pro Semester ca. 12
Seminare x 2 x 9 theologische Ausbildungsstätten = 216 Gesamtlesungen im
Jahr). Dafür errechnete er Karriere-Gleichungen mit mehreren Unbekannten.
Z.B.: Was passiert, wenn man »zum
falschen Zeitpunkt am falschen Ort falsch gehandelt hat«? Die richtige
Antwort muß lauten: Nichts, denn es ist zu unübersichtlich. Es passiert nur
etwas, wenn man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort richtig gehandelt hat,
bzw. wenn es sich um das falsche tempus auf dem Wege zu einem richtigen locus
handelt.
Als ein echt
zivilisatorischer Charakter wollte er um keinen Preis mit den einfachsten Mitteln gebildet
werden. Dann lieber gar nicht, dachte er wohl. Und mein Deutsch versteht
ohnehin jeder, der einmal ins bewußte
politische Leben getreten ist. Und Lamberz ist schon absolut lange tot. Ob wenigstens der jesuitischen Intellekt hatte? Jedenfalls hat er nicht stalinistisch
gefühlt!
Ach, ich danke Dir, mein liebes ND, daß Du mir mit
dieser Dokumentation endlich die Augen geöffnet hast. Weniger über Dr.D.K.,MdB,
der sich endlich offenbart hat, in
seiner ehemaligen Partei ein Verhältnis
gehabt zu haben, zudem ein wahnsinnig
opportunistisches. Unmoralisch ist das ja nur, wenn man dem Verhältnis
untreu wird, bloß weil der Mann die Parteifronten wechselt. Viel
beeindruckender ist ja das wirklich Beeindruckende: die DDR hat tatsächlich
40 Jahre lang bestanden, obwohl sie solche Mi...ster hatte.
_______________________
Sehr geehrter Herr Dr. Keller,
für Ihren auch an mich adressierten Rundbrief bedanke
ich mich. Selbstverständlich stelle ich Ihnen meinen für das ND bestimmten
Beitrag zur Verfügung, vorausgesetzt natürlich, daß Sie ihn ungekürzt
publizieren. Die von Ihnen geplante Broschüre hätte ohnehin nur dann einen
übergreifenden und untendenziösen Sinn, wenn Sie sämtliche
Zuschriften unzensiert und also ohne Kürzungen abdruckten. Woher wollen
Sie wissen, was »für die Leser interessant sein dürfte«, wenn Sie doch
schon jetzt wissen, daß die Interessen vieler Leser mit Ihren Interessen
nicht koinzidieren? Und wer sagt Ihnen, daß nicht gerade auch die
argumentative Übereinstimmung in der Kritik an Ihrer Rede von höchstem
Interesse sein könnte? Mit einer Selektion würden Sie sich jedenfalls keinen
guten Dienst erweisen, zumal Sie mit der Broschüre ohnehin in den Verdacht
kommen werden, ein Kapitelchen Selbstrechtfertigung schreiben lassen zu
wollen.
Ich bin mir allerdings gar nicht sicher, ob Sie für
meinen Beitrag überhaupt Verwendung finden können, denn ich habe durchaus
keinen »interessanten Leserbrief« geschrieben, sondern eine satirische
Glosse für den BLATTSCH(L)USS. Zu einem »interessanten Leserbrief« war ich
unmittelbar nach der Lektüre Ihrer Rede gar nicht in der Lage. Dafür standen
mir, um es in der Diktion freier Rede zu sagen, viel zu viele Haare zu Berge.
Und noch heute fällt es mir schwer, mich mit Ihrem Votum emotionslos
auseinanderzusetzen. Ich möchte Sie wirklich nicht kränken oder gar
beleidigen, aber ich muß es wenigstens einmal so sagen dürfen: ich fand Ihre
Rede einfach peinlich. Weniger wegen der von Ihnen veröffentlichten
Halbbildung, die wahrscheinlich auch nicht so heftige Reaktionen provoziert hätte,
wenn Sie mit ihrer Verallgemeinerung zurückhaltender gewesen wären und
wenigstens offen eingestanden hätten, für historische Perspektiven keinerlei
Verständnis aufbringen zu können. Letzteres wäre in der deutschen
Geschichte ja nicht einmal eine Schande, wo doch selbst ein Schopenhauer
nichts mit Hegel anzufangen wußte.
Wirklich peinlich berührt hat mich vielmehr Ihre zur
Schau getragene »Opfer«-Attitüde, bei der ich eigentlich nur noch die
Behauptung vermisse, die Thesen Ihrer Dissertation wären unter dem Druck
eines angedrohten Karriereknicks formuliert worden. Aber es ist für einen
Stellv. Kulturminister a.D. schon geschmacklos genug, sich als »Verführter«
zu präsentieren - und das auch noch ausgerechnet unter Berufung auf Brecht
& Company. Das nimmt Ihnen leider jegliche Glaubwürdigkeit.
Sie werden nun gewiß sagen, ich schlage hier einen Ton
an, von dem Sie glaubten, »daß er in unserer Partei nicht mehr zu finden sei«.
Ich gehöre aber weder der PDS an, noch war ich je Mitglied irgendeiner
anderen Partei. Ich war lediglich ein DDR-Bürger, der allerdings nach wie vor
zu der Tatsache steht, daß die DDR der »bessere« deutsche Staat gewesen
ist, auch wenn in ihm ein Stellv. Kulturminister nur die Direktiven eines
Politbüros umzusetzen hatte - was ja insgesamt weniger kulturunverträglich
war als die Umsetzung der kulturlosen Interessen deutscher Banken durch die »politische
Klasse« der BRD.
Sehr geehrter Herr Dr. Keller, Ihr Brief hat mich
glauben gemacht, Ihnen gegenüber ein offenes Wort schuldig zu sein, denn es
geht nicht nur darum, »den Mantel des Schweigens über unsere(r) Geschichte«,
sondern ebenso auch über unserer Gegenwart »zu lüften«. Ich gestatte Ihnen
also auch sehr gern, diesen Brief in Ihre Dokumentation (ungekürzt)
aufzunehmen, und bin sehr gespannt, ob Sie sich dazu entschließen können.
Mit freundlichen Grüßen
Polemik contra Michael Brie
[in: Neues Deutschland, 18./19.12.1993, S.
10]
Der gewaltfreie
Diskurs ist eine Fiktion. Wer sich heute über den Sozialismus von gestern
äußert, der ist gezwungen, wenigstens in einem Nebensatz zu bestätigen, daß
da tatsächlich vieles im argen lag. Nun hat Heinz Jung in seinem
ND-Forum-Beitrag vom 4./5.12.93 sogar grundsätzliche Fehlentwicklungen
benannt - und dennoch hat Michael Brie ihn im ND vom 11./12.12.93 der
unbelehrten Unwissenheit geziehen. Legt man beide Texte zur Synopse, dann überrascht
das freilich nicht, denn was Jung unter dem Reizwort »Gorbatschowismus«
charakterisiert, ist weitgehend identisch mit dem, was Brie in seinen Thesen
formuliert. Zudem belegt Brie mit seiner Replik Jungs Feststellung, daß
dieser »G.ismus« nicht Ausdruck einer qualifizierten Theorie, sondern
lediglich eine bestimmte »politische Verhaltensrichtung« (gewesen) ist.
Diese Richtung hat nun Brie in nachgerade
atemberaubender Offenheit beschrieben und damit offiziell bestätigt, was
bisher immer noch als üble Nachrede gelten konnte: Auch in der DDR war es (un/erklärtes)
Ziel der sog. »Reformkräfte innerhalb der SED«, den Sozialismus zu
guillotinieren, denn, so die jetzt nachgereichte magere (Selbst-)Rechtfertigung:
der Sozialismus sei halt »nicht mehr verteidigungswert« gewesen.
Abgesehen davon, daß Bries Offenbarungseifer unter all
jenen lebhafte Diskussionen auslösen dürfte, die sich noch heute mit
Parteistolz als »Reformer« bezeichnen - die »Aufarbeitung« des DDR-Finale
wird sich von nun an auch der spannenden Frage stellen müssen, wer hier wem
eigentlich zugearbeitet hat.
Brie hat - nach eigener Aussage - natürlich nur der
Geschichte zugearbeitet, die nach der »Selbstaufhebung« (!) des Sozialismus
endlich »wieder möglich geworden« (!) sei. Ob er ausreichend Gelegenheit
haben wird, den Dank der Geschichte entgegenzunehmen, nachdem nun selbst der
Faschismus wieder eine geschichtliche Möglichkeit geworden ist, ist ja
offensichtlich eine völlig irrelevante Frage. Jedenfalls wird man seiner
Sorge um die Unantastbarkeit des »Unternehmertums« schon irgendwie gedenken,
auch seiner aufrichtigen Absage an die sog. »Fundamentalalternative« und des
damit ja wohl verbundenen Verzichts auf das für Politiker und Wissenschaftler
gleichermaßen unverzichtbare Prinzip, in Grundsätzen und grundsätzlich auch
in Alternativen zu denken.
Doch hier kommt nun wirklich alles durcheinander, denn
auch M. Brie hat ja eigentlich Grundsätze - z.B. den, daß es zum
Kapitalismus keine Alternative gibt, höchsten die Möglichkeit, ihn einfach
anders zu benennen. Aber selbst damit wäre die Geschichte schließlich doch
wieder nur in eben jener »Sackgasse«, aus der sie mit den vereinigten Kräften
aus West und Ost und nach Ansicht von M. Brie gerade erst herausgeholt worden
ist. Aber was tut’s. Wahrscheinlich sind nicht alle »Sackgassen« gleich.
Dazu aber hat sich M. Brie bezeichnenderweise ebensowenig geäußert wie zu
der Frage, warum wohl der Sozialismus »moralisch« »nicht mehr überlebensfähig«
gewesen sein soll, wenn doch der Kapitalismus in seiner strukturellen Amoralität
furchtbar lebendig bleiben konnte.
Eine Rezension
[in: Neues Deutschland, 5. bis 10.10.1994
(Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1994), S. 9]
Monika Deutz-Schröder/Jochen Staadt (Hrsg.): Teurer
Genosse! Briefe an Erich Honecker, TRANSIT Buchverlag, Berlin 1994, 157 S.,
kart., 28,- DM
Nun ist die DDR im Nachhinein doch noch zu
einem Schlaraffenland geworden, jedenfalls für Historiker und solche, die sich
dafür halten. Man braucht nur in irgendein Archiv zu gehen und irgendwelche
Akten zu ziehen und irgendwo einen Verlag zu finden - und schon ist die
Bibliographie um eine Nummer reicher und man selbst natürlich auch ein bißchen.
Doch wenn man nicht aufpaßt, dann kann es einem ergehen wie den Herausgebern des
vorliegenden Bändchens, die sich vor lauter Eifer selber ad absurdum geführt
haben. Und so geht es den beiden Mitarbeitern vom "Forschungsverbund
'SED-Staat'" an der Westberliner Freien Universität auf ihre Weise, wie es E.H.
auf seine Weise erging: zum Schluß kommt eben doch etwas ganz anderes heraus.
Als E.H. mit bayrischem Milliardenkredit
der DDR Bestes zu suchen gedachte, beschleunigte auch er eine Entwicklung, an
deren Ende die Abwicklung stand. Die beiden Hrsg. hingegen wollen erklärtermaßen
gerade das schlechthin Schlechteste an der DDR zu zeigen versuchen: "den Alltag
im Zentrum der Diktatur" "mit seinen bürokratischen Abgründen" und der "banalen
Boshaftigkeit" (S.7). Doch siehe da: herausgekommen ist eine kleine
Dokumentation, deren Einband eher an ein sozialistisches Poesiealbum erinnert
und so gar keine Schwarzbuch-Assoziationen freisetzt. Womöglich ein ganz
raffinierter Effekt, der auf Makabres aus ist und auf Verwirrung setzt? Außen
hui und innen pfui? Vielleicht, aber es funktioniert nicht, denn auch innen ist
das Bändchen gar nicht so übel, wie es die Hrsg. im Vorwort suggerieren wollen.
Immerhin konnten sie unter 2 Millionen
Briefen auswählen, aber so viele haben sie ganz gewiß nicht einmal sortieren
können. Doch das, was sie schließlich und mehr oder weniger zufällig drucken
ließen, widerlegt eigentlich ihre These von der bösen DDR und dem noch böseren
E.H.. Gemessen an dem, was der Zugang zu den wohlweislich sehr fest
verschlossenen Archiven bundesdeutscher Kanzler an Skandalösem zu Tage fördern
würde, lesen sich die Schreiben an E.H. eher wie Briefe aus der Provinz. Manches
(und durchaus nicht nur das Kleinkarierte) hätte - mutatis mutandis - auch in
Bonn diktiert worden sein können, und anderes wäre dort weit weniger harmlos
ausgefallen. Doch was man in Bonner Ablagen nun wirklich nicht finden wird:
Briefe, die jene Selbstverständlichkeit dokumentieren, mit der im
DDR-Sozialismus Bürger davon ausgingen, zur Lösung ihrer sozialen und
kulturellen Probleme den Staat in Anspruch nehmen zu können. Schon nach 4 Jahren
"deutscher Einheit" wirken sie tatsächlich wie aus einer "anderen Welt", und in
20 Jahren wird man sie womöglich für Fälschungen halten.
Die Ironie dieser Geschichte will es
offensichtlich so: es bleibt eigentlich nur, den Hrsg. zu danken. Sie wollten
zwar zeigen, wie schrecklich die "SED-Diktatur" gewesen ist, doch herausgekommen
ist ein Bändchen, das man nicht gleich kaufen muß, weil es sich in 20 Jahren
sicher noch besser liest als heute.
Zurück zum Anfang
Vom Kopf auf die Füße stellen...
[in:
Neues Deutschland, 13./14.3.1993, S. 1]
Friedrich Engels konnte nicht wissen, daß er am Grabe
von Karl Marx ein understatement formuliert hatte. Marx war nicht nur der »bestgehaßte
und bestverleumdete Mann seiner Zeit«. Er ist es weit über seine Zeit hinaus
geblieben. Und am 110. Todestag muß nun gar resümiert werden: in diesen
Zeiten ist er es noch immer, geradezu beispiellos. Der europäische
Sozialismus ist zwar liquidiert, doch für Marx gibt es keine Amnestie.
Das hat durchaus auch seine Gründe, wiewohl die kaum
auf gutem Grund gewachsen sind. Aber plausibel ist das schon: Marx hat
klassischen Hochverrat begangen - zudem nicht nur an seiner deutschen
Herrschaft, sondern am internationalen Kapital. Das bleibt für alle Zeiten
ein Kapitalverbrechen. Jedenfalls wird es nicht verjähren, solange die
Kapitalgesellschaft auch davon lebt, daß niemand verrät, wovon sie
eigentlich lebt.
Ein uralter Vorbehalt. Schon Platon wußte um die
ungeheuerliche Macht des konstitutionellen Staatsgeheimnisses: Die Herrschaft
der aristokratischen Polis habe nur Bestand, solange keiner ihrer Bewohner in
Erfahrung bringen könne, von wem er eigentlich geboren wurde. Der Aristokrat
Platon wußte, was das sollte: Wer weder Vater noch Mutter kennt, der wird in
dem Staat seines Königs etwas naturgemäß Gegebenes erblicken und natürlich
unbedingt loyal und staatstreu sein.
Es ist ein (offensichtlich unkorrigierbarer) Irrtum,
Platons »Politeia« als Geburtsstunde der »kommunistischen Utopie« zu
feiern. Und es ist ebenso ein Irrtum zu meinen, das Prinzip seiner Politik gehöre
lediglich der Antike an. Hätte Marx nicht ein Staatsgeheimnis verraten, keine
nach ihm benannte Straße müßte heute wieder Königsnamen tragen. Aber der
Verrat wiegt zu schwer. Vergleichbar dem unverzeihlichen Frevel in Platons »Politeia«:
Wehe dem, der in Erfahrung bringt, daß die Polis nicht naturgemäß gegeben
ist, nicht unwandelbar in ihrer Herrschaftsform. Und wehe dem, der das
Geheimnis des Mehrwerts lüftet und das Bewegungsgesetz der Bürgergesellschaft
entdeckt und dieses nicht für sich behält, sondern auch noch unter diese
Massen bringt.
Nichts ist destabilisierender als ein Bewegungsgesetz
und die Erkenntnis, die sich mit ihm organisiert. Selbst wenn die Organisation
zerschlagen ist, das Gesetz bleibt. Und es bleibt gefährlich, weil es für
neue Erkenntnis offen bleibt - und also auch für neue Organisation.
Und deshalb muß Marx präventiv denunziert bleiben.
Allein schon dieses verhindert im Vorfeld so manche Erkenntnis, die an die
Wurzel gehen könnte. Das klerikale Veto des Mittelalters gegen die Radikalität
der Naturwissenschaft prolongiert sich in dem militanten Kapitalprotest gegen
eine radikale und also auf das Wesen zielende Gesellschaftswissenschaft. Nicht
nur für Konzerne, Banken und Versicherungen gehört das »Betriebsgeheimnis«
zu den Rahmenbedingungen einer profitablen Existenz. Die Bürgergesellschaft
als solche steht unter Verschluß. Wer ihr »Betriebsgeheimnis« lüftet und
verrät, dem wird der Prozeß gemacht.
Natürlich handelt es sich dabei um Notwehr. Wenn das
Wesen einer Wohnung nicht mehr darin besteht, daß Menschen in ihr wohnen,
sondern an ihr verdienen; wenn die Krankheit der einen zur Quelle des
Reichtums der anderen wird; wenn Arbeitslosigkeit die Profitrate steigert;
wenn der Wohlstand sich am Elend nährt und die Politik nicht der Polis,
sondern der kapitalen Aristokratie verpflichtet ist... - dann kann ja gar
nicht zugelassen werden, daß eine politische Wissenschaft ernsthaft nach dem
Wesen hinter der Erscheinung fragt. Wenn die Anarchie des »Marktes« die
Verfassung der Gesellschaft bestimmt und buchstäblich alles zur käuflichen
Ware wird (einschließlich Leib und Seele!), dann hat schon der als »Radikalist«
zu gelten, der allein auf diesen Sachverhalt verweist und eigentlich nur
recherchieren wollte.
Die einst maßgeblich vom Bürgertum getragene europäische
Aufklärung hat in der verbürgerlichten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts
ihren ärgsten Feind. Und Marx muß auch deshalb tabuisiert werden, weil sein
Name nicht nur für eine proletarische Bewegung steht, sondern zugleich das
herausfordernde Erbe der Aufklärung repräsentiert.
Der Kampf der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert
galt der falschen Wahrheit. Heute aber geht es um die reine Unwahrheit. Das »Betriebsgeheimnis«
der Kapitalgesellschaft darf nicht gelüftet werden, weil die Lüge zum System
gehört wie die (verlogene) Werbung zum Produkt.
Die Perversion ist total und grundsätzlich: Parteien
nennen sich »christlich« und sind doch das reine Gegenteil; Arbeitnehmer
nennen sich »Arbeitgeber«, und Arbeitgeber müssen sich als »Arbeitnehmer«
bezeichnen; man sagt »Entwicklungshilfe« und meint neokoloniale Abhängigkeit;
man spricht von der »gewachsenen Verantwortung Deutschlands gegenüber der Völkergemeinschaft«
und meint eine neue deutsche Hegemonie; der »Blauhelm« ist ein Stahlhelm,
der »Solidarpakt« eine Verhöhnung der Solidarität: »es kann nicht länger
geduldet werden, daß die Sozialhilfeempfänger die Gesellschaft ausbeuten«...
»Aufklärung« ist am Ende des 20. Jahrhunderts noch
immer eine epochale Kategorie, auch wenn es zunächst nur darum geht, die
Wahrheit vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Marxismus-Leninismus in der DDR
[in: Neues Deutschland, 27./28.2.1993, S.
10]
Da ist von »Religion« die Rede, vom »Sündenfall«,
auch vom »Beschneidungsfest«; der »Katechismus« wird erwähnt, neben der
»Gebetstrommel« und der »Orgelstunde«; »mythische und biblische Themen«
kommen in den Blick; sogar der »Antichrist« wird aufgeboten. Und dabei geht
es gar nicht um »Religionsunterricht«, wiewohl auch der im Text zu finden
ist. Es geht in Reinhard Moceks ND-Artikel vom 16.2.93 (S.10) um den »Marxismus-Leninismus
in der DDR...«. Und Mocek hatte gute Gründe und vielleicht noch bessere
Motive, diesen Artikel zu schreiben. Ein Grund: herrn eppelmanns »Enquete-Kommission«,
das ideologische Versatzstück in einer mit Polit-Gauklern inszenierten
Schmierenkomödie, in der außer den Regisseuren und ihren Assistenten niemand
mehr etwas zu lachen haben soll. Ein Motiv: die Ermutigung der »Übriggebliebenen«
(Marxisten) zu einer, wie Mocek es nennt, »öffentlichen theoretischen und
methodologischen Vergewisserung«.
Des Mutes bedarf es da heutzutage durchaus, in diesem
Land ohnehin. Aber nicht nur Marxisten trifft der Bannstrahl eines Systems,
das - in typisch deutscher Bürger-Tradition - die Linke nicht zur Nation zählt.
Es reicht also schon, nicht zu leugnen, bei Marx etwas gelesen zu haben. Auch
Theologen werden bei »Evaluierungen« von Theologen befragt: »Wie hältst du
es mit dem M.?« Eigentlich ja eine ganz wichtige Frage! Natürlich kann und
soll sie, um mit Mocek zu sprechen, zum »Karrierehemmer« werden. Aber wer
spricht denn heute noch von »Karriere«?!
Vergewisserung tut Not, gerade auch, wenn sie
not-wendig ist. Und Mocek macht es sich nicht leicht mit seinem Veto gegen das
hämische Verdikt: M/L habe doch auch in der DDR höchstens das Niveau einer
(endlich überwundenen) Quasi-Religion gehabt. Gewiß, sagt er, gewisse Züge
gab es da schon. Und als die Ökonomie zu wanken begann und die Planung das
Chaos zu organisieren hatte, da wurde M/L höchst offiziell zum
kompensierenden Religionsersatz relegiert. Aber inoffiziell und aufs Ganze
gesehen blieb M/L eine Wissenschaft, auch wenn sich das Politbüro niemals in
ihr prüfen ließ.
Vieles spricht dafür, daß Mocek mit dieser These von
der Wahrheit nicht weit entfernt ist. Und nolens volens bekräftigt er mit ihr
auch Sahra Wagenknechts Opportunismus-Theorie. Aber die ganze Wahrheit ist mit
dieser These noch nicht eingefangen, denn sie greift im Ansatz zu kurz. Der
Ansatz aber läßt sich nur finden, wenn man weit genug ausholt. In diesem
Falle sehr weit. Wir müssen zurück in die Geschichte, denn der Marxismus war
nun gerade kein archimedischer Punkt
jenseits und außerhalb des irdischen Geschehens. Engels hat bekanntlich noch
am Grabe von Karl Marx vor diesem faszinierenden Mißverständnis gewarnt: Wäre
Marx 500 Jahre früher geboren worden, er hätte vielleicht auch Karl geheißen
- aber das »Manifest« hätte er ebensowenig schreiben können wie das »Kapital«.
Kapital gab es 1318 nämlich noch gar nicht und auch
keine Arbeiterklasse. Wohl aber eine Weltkirche, die gerade auch in ihrer »babylonischen
Gefangenschaft« das blieb, was sie unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert
geworden war: die offizielle Nachfolgerin der heidnischen
Tempelpriesterschaft.
Diese aber hatte eine Aufgabe von staatspolitisch
allererster Bedeutung: die Verantwortung für den cultus publicus. In einer von diversen Göttern beherrschten Welt
war die Religion alles andere als eine Privatsache. Sie war
Staatsangelegenheit, denn die Götter mußten motiviert werden, innen- und außenpolitisch
auf die je gewünschte Weise einzugreifen. In den Kriegszügen sollten sie die
Götter der Feinde besiegen, und im eigenen Lande wurde ihre Macht zur
Garantie für jenen Herrschaftsanspruch, der sich noch im 19. Jahrhundert mit
den Insignien des V.G.G. zu legitimieren wußte.
Das »Von Gottes Gnaden« entsprang nicht, wie freilich
schon einige antike Sophisten argwöhnten, der bloßen Cleverness politischer
Machterhaltung und -entfaltung. Die Götter gab es ja, sozusagen, wirklich.
Und die Religion als der buchstäblich »geistige Überbau« hatte nicht nur für
die Polis der Sklavenhalter eine fundamentale Bedeutung. Erst recht war sie in
ihrer totalitären Gestalt für den Feudalismus die umfassendste
gesellschaftliche Integrationskraft.
Als nach der politisch begründeten Hinrichtung des
Jesus von Nazareth im Römischen Reich die ersten christlichen Gemeinden
entstanden, hätten nur besonders böswillige Kritiker unterstellen können,
daß sie sich im Verlauf der folgenden Jahrhunderte zu einer einflußreichen
ökumenischen Organisation entwickeln würden, die 380 endgültig in den Rang
einer Staatskirche erhoben werde sollte. Und als diese Kirche schon unter
Konstantin d.Gr. die römischen Heidenpriester aus ihrem Amt des cultus
publicus zu verdrängen begann, konnte niemand damit rechnen, daß dieses
Amt einmal seine umfassende gesellschaftliche Bedeutung verlieren würde.
Es hat sie verloren. Doch waren es nicht die säkularisierten
Religionskritiker, die ihr diese politische Grundlage entzogen. Vielmehr war
die Säkularisierung selbst nur das Ergebnis einer gesellschaftlichen
Entwicklung, in deren Verlauf die gesellschaftsintegrative Funktion von
Religion und Kirche durch die alles dominierende und konzentrierende und
strukturierende Macht des Marktes abgelöst wurde.
Im 19. Jahrhundert wird definitiv verifizierbar, was
sich mit der frühkapitalistischen Manufakturwirtschaft vorbereitet: die
gesellschaftsintegrative Rolle der Kirche geht auf den Markt über. Er wird nun zu dem, was die kapitalistische »Welt im
Innersten zusammenhält«. Die Kirche behält höchstens noch Einfluß, nicht
aber mehr die gesellschaftskonstitutive Funktion des cultus publicus. Und selbst um diesen Einfluß muß sie nun kämpfen,
denn der Markt bedarf ihrer nicht.
Zwar nimmt er noch dankbar die theologische Sanktionierung der Markt-Wirtschaft
entgegen und finanziert den »Freiraum«
auch des kirchlich-religiösen Lebens, doch die einst so fundamentale
Integrationsfunktion des Kultes wird nur noch dann beschworen, wenn die
Allmacht des Marktes an ihre Grenzen
stößt und Grenzen gerade überschreiten will.
Wurde das Pathos der deutschen Kriegs- und Rüstungspredigt
im 1.Welteroberungskrieg noch von kulturprotestantischem Klerikalismus und
episkopalem Chauvinismus getragen, der deutsche Faschismus übernahm für die
weltweit gesteckten Ziele des deutschen Kapitals die Regie in eigene Hand und
mobilisierte alles: Klerikalfaschismus und Neuheidentum, Germanenkult und
Volksreligiosität, Blut- und Boden-Mystik und deutschen Weiheschauer. Und je
ferner der »Endsieg« rückte, desto lauter wurde Wagner aufgespielt. Götterdämmerung
auf zerbombtem deutschen Marktplatz.
Der Mai 1945 wurde der Monat der beiden deutschen Wege.
Von Befreiung sprachen nur die
einen. Die anderen sprachen von der
Niederlage. Und während die anderen ihren Markt
neu bestellten, wollten sich die einen auch von dem befreien. Was für ein
Vorhaben! Selbst Prometheus hätte da gezögert, denn der qualitative Sprung
von der Markt- in die Plan-Wirtschaft hatte nicht nur die subjektive Dramatik eines salto
mortale, auch wenn er von historischem Optimismus beflügelt wurde. Hier
vollzog sich tatsächlich ein evolutionäres Unikat: der Abruch einer durch Jahrhunderte gewachsenen Sozialisationsstruktur.
Die real-existierende Dialektik dieses Prozesses, der
kaum um Übergänge wußte: die
deutsche Geschichte war auf dem Boden der DDR fortgeschritten und fand sich
zunächst dort wieder, wo der Feudalismus aufgehört hatte. In diesem Zusammenhang macht das von Hanfried Müller geprägte Wort
vom »feudalabsolutistischen Sozialismus« tatsächlich Sinn.
Die Folgen dieses Prozesses, der in seinem Bereich den
Ausbruch aus dem Reich der Markt-Mechanismen
erzwingen mußte: an die vakant gewordene Stelle des bereits als »Naturordnung«
empfundenen Integrationsprinzips des totalen Marktes trat die entsprechend totalitär wirkende Ordnung der
ideologischen Integration. Das über Jahrhunderte zum Indikativ gewordene
Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft wurde durch einen weltanschaulichen
Imperativ besetzt. Und eben damit kam dem Marxismus-Leninismus - z.T. sogar
detailgetreu - auch jene Funktion zu, die im Feudalismus die Religion
innehatte.
Reinhard Mocek hat also völlig recht: »Der
Marxismus-Leninismus war Wissenschaft - und auch Katechismus. In so mancher
Marxistenbrust war beides unauflöslich verbunden.« Aber: dieser dialektische
Anachronismus läßt sich nicht auflösen, indem man sich nachträglich von
der »Religion« distanziert, um die Wissenschaft verteidigen zu können. Auch
im Rückblick wird man nur beides
haben können, es sei denn man verzichtet bei der angesagten »Vergewisserung«
auf historische Perspektiven und mithin auch darauf, den Begriff der Religion religionssoziologisch und also wissenschaftlich zu
thematisieren.
Macht und Sprache
[Ein
Diskussionsbeitrag für die Konferenz des Marxistischen Forums »Die
Sozialisten und die Macht heute«, 5./6. Oktober 1996, in: Marxistisches Forum
Heft 11/12, Januar 1997, S. 25-30]
Ich bin angefragt worden, etwas über den Zusammenhang
von Macht und Sprache vorzutragen. Und leichtsinnigerweise habe ich zugesagt,
ohne den hohen Anspruch zu bedenken, der sich bei einem solchen Thema aus
sprachwissenschaftlicher Sicht einstellt. Nun bin ich aber gar kein Philologe
und muß deshalb zu der Hilfskonstruktion greifen, daß das bei der
angezeigten Problematik nicht nur ein Nachteil sein muß. Jedenfalls werde ich
sprachphilosophische, semantische, strukturanalytische oder metalinguistische
Fragestellungen nicht in den Mittelpunkt stellen - obwohl auch das seinen ganz
eigenen Reiz hätte, wenn man nur bedenkt, wie alt die Reflexion des Verhältnisses
von Macht und Sprache ist.
Natürlich nicht so alt wie dieses Verhältnis selbst,
das ja durchaus als ein soziologisches Grundphänomen angesehen werden kann
und in seiner permanenten Reproduktion gerade auch für die Pädagogik eine
anhaltende Herausforderung darstellt. Kein Kind erlernt seine Muttersprache
jenseits der Erfahrung von Macht und Ohnmacht. Dabei geht es nicht nur um die
sich sprachlich vermittelnden Machtverhältnisse in Familie und Gesellschaft.
Es geht zugleich auch um die unmittelbare Erfahrung von Sprache als Macht und
um die Erfahrung von Macht als Sprache.
Das läßt sich psychologisch ausleuchten, und es läßt
sich vor allem auch sprachgeschichtlich untersetzen. Letzteres vorzüglich
dort, wo der Zusammenhang von Macht und Sprache bewußt reflektiert wird. Und
das ist in der Antike in all jenen religionsphilosophischen Systemen der Fall,
die von einem Logos konstituiert und beherrscht werden.
Im Deutschen übersetzen wir das griechische »logos«
mit »Wort«. Und in der Regel fällt dann auch einem guten Marxisten gleich
der Prolog des Johannes-Evangeliums ein, in dem es in Luthers Übersetzung heißt
(1,1-3): »Im anfang war das Wort, Und das wort war bey Gott, und Gott war das
Wort. Das selbige war im anfang bey Gott. Alle ding sind durch dasselbige
gemacht, und on dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.« Bekanntlich
wollte Goethes Faust am Anfang lieber eine »Tat« sehen, weil er »das Wort
so hoch unmöglich schätzen« konnte. Aber wie schon der in griechischer
Logos-Terminologie interpretierende Johannes-Prolog zu erkennen gibt: für
antikes Denken ist »logos« weit mehr als nur ein »Wort«. Es ist eine
Macht, in der das Wort »tatsächlich« wird.
Und nun verkürze ich noch mehr und sage: Hier
widerspiegelt sich kollektive Erfahrung, die um den Zusammenhang von Sprache
und Macht weiß - und auch darum, wie umfassend und bestimmend dieser Konnex
sein kann. Und die Antike hat ja denn auch nicht zufällig ein umfassendes
Regelwerk der Sprache geschaffen und sich in Grammatik, Poetik und Rhetorik geübt.
Nicht nur aus reinem Hedonismus und also aus purer Lust an der Ästhetik des
Wortes, sondern sehr wohl auch mit dem Ziel, über dieses Regelwerk an der
Macht des Wortes teilhaben zu können. Cicero begann seine politische Karriere
als Rhetoriker. Und das griechische Theater wollte nicht Zeitvertreib bieten,
sondern Macht über die Menschen gewinnen, um sie in die Katharsis, in die
seelische Reinigung führen zu können.
Ich belasse es bei diesen
Andeutungen, die mir aber wichtig sind, weil sie belegen, daß das Thema
Sprache und Macht eine sehr lange Tradition hat und eigentlich ein
Menschheitsthema ist. Und als solches sehr wohl auch kompatibel mit der
Engelsschen Einordnung der Genese der Sprache beim Anteil der Arbeit an der
Menschwerdung des Affen, wobei Engels den Machtcharakter der Sprache in diesem
Kontext ja nur in seiner Beziehung auf die Entwicklung kollektiver
Naturbeherrschung hervorhebt (MEW 20,446ff.).
Doch genau hier läßt sich
anknüpfen und feststellen: Wäre es bei der einfachen Konstellation
Mensch-contra-Natur geblieben, dann würden wir uns wohl auch heute noch in
Ellipsen unterhalten. Eine Kommunikationsform, die ja nicht ausgestorben ist,
sondern in weiten Bereichen der Arbeitswelt ihren Sitz im Leben hat - zumeist
dort, wo Verständigung ausschließlich der Naturbeherrschung dient, wie etwa
im Cockpit des Piloten oder auf der multikulturellen Baustelle, ganz zu
schweigen von der digitalisierten Computersprache, die inzwischen auch schon
die Syntax unsere Alltagssprache zu unterlaufen beginnt.
Wie die Genese der Sprache mit der Naturbeherrschung
verbunden ist, so ist ihre Entwicklung zu einem komplexen System
differenzierter Kommunikation verbunden mit der durch Arbeitsteilung eröffneten
Differenzierung sozialer Verhältnisse, in deren Folge neben die Beherrschung
der Natur durch den Menschen die Beherrschung des Menschen durch den Menschen
tritt. Und hier nun schlägt die eigentliche Geburtsstunde des Themas »Sprache
und Macht«. Fortan nämlich ist Sprache immer auch ein Instrument der
Eroberung und Verteidigung - nicht ausschließlich, aber in besonderer Weise
gerade auch der politischen Macht.
Das galt natürlich
auch für den Sozialismus, der den Zusammenhang von Macht und Sprache ja
keineswegs kaschierte, sondern öffentlich exerzierte - und das nicht nur im
Blick auf die Uniformierung politisch-ideologischer Sprachregelungen. Wer in
dieser Hinsicht die Uniform auszog, der konnte sich allerdings sehr rasch in
den Verdacht bringen, die Machtfrage stellen zu wollen. Und zweifelsohne sind
in dieser Hinsicht sozialistische Ideale verkommen. Aber - und ich spitze zu
und frage volkstümlich: was bedeutet für die Sprache schon das Verkommen von
Idealen gemessen an der Sprache verkommener Ideale. Und die wurde in der Tat
öffentlich entmachtet und hatte, um mit Thomas Mann zu reden, »das Maul zu
halten«.
Erheblich irrt, wer da glaubt, die politisch-ideologische
Uniformität sei etwas typisch Realsozialistisches gewesen. Sie ist für den
real existierenden Kapitalismus nicht minder typisch. Und wenn das womöglich
doch anders empfunden wird, dann dürfte dieses bereits ein Produkt einer
Herrschaftssprache sein, die sich nicht weniger flächendeckend, wohl aber
weit differenzierter und somit auch weit effizienter zu artikulieren weiß.
Ich möchte im Folgenden 3 Formen dieser
Herrschaftssprache herausstellen, ohne sie strikt voneinander abgrenzen zu
wollen. Denn natürlich sind hier die Grenzen oft fließend und Übergänge
geschmeidig. Und gerade darin liegt ja auch ein Teil ihrer Wirkung. Aber
typologisch gesehen, lassen sich durchaus Charakteristika erkennen, die
beachtet sein wollen, will man ihnen gegenüber Resistenz aufbauen. Und das
ist um so wichtiger, desto aussichtsloser der Versuch wird, sich dieser
Herrschaftssprache entziehen zu wollen.
Wir alle sind viel zu fest im Griff der Medien, als daß
wir behaupten dürften, ihrer Wirkung in keiner Weise zu unterliegen.
Selbstverständlich, wer läßt sich schon vom ”Stern” beeinflussen. Aber
was passiert, wenn der mit Herrn Andre Brie ein Interview macht, das zum
Charakter dieser Zeitschrift besser paßt als zum Parteiprogramm der PDS? Man
führt hernach stundenlange Diskussionen zu einem Thema, von dem man
eigentlich genau weiß, daß es einem aufgezwungen wurde und womöglich auch
nur von anderen Themen ablenken sollte! Und zu solchen Debatten gibt es nicht
einmal eine vernünftige Alternative.
Es gehört zur Signatur der sog. »Mediengesellschaft«,
daß man dem Totalitarismus ihrer kapitalen Medienmacht offensichtlich nicht
entrinnen kann. Und wenn demnächst dann auch noch das »Neue Deutschland« in
der Bundesrepublik endgültig »angekommen« sein sollte, wird selbst die
Illusion einer alternativen Medieninsel immer blasser. Die einzige Folge von
Heinrich Bölls Demaskierung der »öffentlichen« als einer »veröffentlichten
Meinung« bestand einst darin, daß in den Redaktionen von Zeitung, Rundfunk
und Fernsehen Sektkorken knallten und Gehälter erhöht wurden. Was Böll
denunziert wissen wollte, konnten die Medien als einen Triumph feiern, den
ihnen heute - als sprichwörtlich gewordene 3. politische Kraft - ohnehin
keiner mehr nehmen kann, zumal sie nicht mehr nur Meinungen, sondern auch
immer mehr Markt beherrschen.
Da wirkt es eigentlich schon wie Donquichotterie, sich
gegen Herrschaftssprache immunisieren zu wollen. Aber wenn wir uns schon nicht
der Macht der Medien entziehen können, sollten wir uns wenigstens darum bemühen,
die Sprache der Macht transparent zu machen.
Zu dieser Herrschaftssprache zähle ich u.a.: 1. die
instrumentalisierte Sprache des Herrschaftswissens - 2. die Sprache der
politischen Camouflage - und 3. die Sprache der offenen Demagogie.
Herrschaftssprache erschöpft sich aber in diesen drei Formen nicht, denn sie
verfügt über ein breites Repertoire, zu dem nicht zuletzt auch die Zerstörung
des Denkens durch gezielte Vernichtung der Sprache in Bild-Zeitungen oder
Computercomics gehört.
1. DIE INSTRUMENTALISIERTE
SPRACHE DES HERRSCHAFTSWISSENS
Sie trägt in vielem die Züge
einer Arkansprache. Die Arkansprache ist, kulturhistorisch gesehen, ein Kind
alter Kulte, deren religiöse Geheimnisse sorgfältig gehütet wurden. So
partizipierte lediglich ein Kreis von Auserwählten an einem
Herrschaftswissen, das in der Kenntnis ganz bestimmter Formeln und Riten
bestand und dem Eingeweihten eine Macht verlieh, die er nur mit seinesgleichen
teilen mußte - wie etwa der römische Legionär, dem der Mithras-Kult ewige
Siege über seinen Gegner verhieß - und nach einer tödlichen Niederlage
wenigstens eine himmlische Genugtuung. Diese Arkan-Typologie ist aber nicht
auf die Welt der Religionen beschränkt. Sie entwickelte sich in ganz
unterschiedlichen sozialen Beziehungen und ist natürlich auch heute überall
dort zu Hause, wo es in der Sphäre der Sozialität um Machtfragen geht.
Die haben bekanntlich sehr
unterschiedliches Gewicht. Doch ihnen gemeinsam ist die Funktion eines
Herrschaftswissens, das sich mit Geheimnis umgibt und sich dementsprechend
artikuliert. Ein ebenso gängiges wie in der Regel auch harmloses Paradigma:
die sog. »Götter in Weiß«, die ihre Kittel wie Gewänder tragen und ihre
Visiten wie Messen zelebrieren und vor allem: in einer Sprache reden, die die
unmittelbar Betroffenen zu Analphabeten degradiert - und die im übrigen recht
nützliche Glieder der Gesellschaft sind.
Weniger harmlos dagegen bestimmte Herren in Schwarz,
denen zwar auch nachgesagt wird, sehr nützlich zu sein, die ihre
Existenzberechtigung jedoch nur einem Rechtssystem verdanken, das - aufs Ganze
gesehen - für den Uneingeweihten unüberschaubar ist und dessen
Undurchschaubarkeit vorsätzlich kultiviert wurde durch ein Gefüge von
Sprachregelungen, hinter deren Gebrauchssinn nur der Eingeweihte kommt. Den
wiederum muß man kennen, und kraft seiner Amtsrobe auch anerkennen.
Nach solchen sekundären Herrschaftsinsignien griffen übrigens
auch Professoren der Humboldt-Universität bei der Semestereröffnung im
Herbst 1990, um mit ihnen sehr feierlich ins Audimax zu schreiten und dabei
ganz entschlossen nicht an ihre künftigen Nachfolger von Rhein und Ruhr zu
denken. Die aber waren schon längst aufgebrochen, das Wissen der neuen
Herrschaft anzupassen. Wozu sie sich auch berufen fühlten, kamen sie doch in
die einzigartige Lage, ihre »sog. Kollegen« nicht nur »bewerten« zu dürfen,
sondern gar »evaluieren« zu können. »Hier offenbart die...Terminologie
nicht bloß Angeberei, sondern die Entscheidung - auch sprachlich - für ein
angebliches Herrschaftswissen.« So Hans Mayer in seinem Essay »Sprechen in
der Wende« in seinem 1993 erschienenen Band »Wendezeiten« (suhrkamp
taschenbuch 2421, 1995, S. 290) Mayer schreibt dann übrigens weiter: »Bei
Molièr vergewissert sich der falsche Arzt zunächst darüber, daß der
Patient kein Latein versteht. Dann legt er los mit ›bonus, bona, bonum...‹.«
»Evaluierung« - die mit der sog. Wende über die DDR-Deutschen buchstäblich
hereingebrochene Herrschaftssprache bedient sich eines vielfältigen
Vokabulars. Es muß ja nicht immer Latein sein. Ein »Sachenrechtbereinigungsgesetz«
tut’s für manche auch schon.
Selbst wenn ich mir dieses noch erklären lassen kann,
wer aber erklärt mir die Geldsprache der Herren in Nadelstreifen, die wissen,
wie ihre Börse funktioniert und ihr Banksystem und ihr Aktien- und
Kapitalmarkt, von dem ich immer nur die Folgen zu spüren bekomme und
ansonsten an irgendwelche Vermittler verwiesen werde, die mich höchstens
wissen lassen, daß ich ihnen glauben soll. Und wer erklärt mir, warum ich im
Fernsehen irgend etwas über einen DAX erfahren muß, dessen wirkliche
Bedeutung mir aber keiner der Sender erklärt und denen ja auch nicht zu erklären
braucht, die die Informationen über den Wert ihrer Gelder ohnehin nicht über
den Fernseher beziehen?!
Seit die Banken die Türme selbst der gotischen Dome überragen,
hat das Bankgeheimnis die Geheimnisse der alten Religionen gesellschaftlich außer
Kraft gesetzt. Wer heute über Macht verfügen will, der muß zu jenem auserwählten
Kreis von Eingeweihten gehören, die ein entsprechend großes Bankgeheimnis zu
hüten haben - die entscheidende Voraussetzung dafür, durch politische
Formeln und soziale Riten die Strukturen einer vom Geld- und Warenfetischismus
durchdrungenen Gesellschaft beherrschen zu könne. In dieser Ordnung kommt der
instrumentalisierten Sprache des Herrschaftswissens eine sehr präzise Rolle
zu. Sie soll Macht suggerieren und gezielt demonstrieren, ohne dabei die
Machtmechanismen und ihre möglichen Bruchstellen zu erkennen zu geben. Und
sie kommt überall dort zu ihren massenpsychologischen Erfolgen, wo sie auf
die volkstümliche Bereitschaft trifft, Herrschaftsverhältnisse als
elementare soziale Gegebenheit anzuerkennen. Ihr größter Erfolg besteht denn
auch darin, diese Bereitschaft permanent reproduziert zu haben.
2. DIE SPRACHE DER POLITISCHEN
CAMOUFLAGE
Diese gibt sich, im Gegensatz zur Arkansprache, weder
autoritär noch geheimnisvoll. Im Gegenteil. Sie setzt auf Allgemeinverständlichkeit
und Plausibilität, stets darum bemüht, keine Irritationen zu schaffen und so
zu reden, daß bei möglichst vielen der Eindruck entsteht, durchaus mitreden
zu können. Das weckt Vertrauen und sichert Wahlergebnisse. Doch geht es bei
ihr durchaus nicht so harmlos zu, wie sie gern wirken möchte, denn ihre
Wirkung ist noch verheerender als die den Faktor Macht psychologisch
instrumentalisierende Arkansprache. Was für diese das Fremdwort, das ist für
jene das Schlagwort. Und das Spezifische dieser sich zu einem
Assoziationssystem verbindenden Schlagworte besteht darin, daß sie
miteinander die Funktion haben, die politische Gedankenwelt auf den Kopf zu
stellen und also ein buchstäblich verkehrtes Bewußtsein von den tatsächlich
existierenden Verhältnissen und Motiven zu erzeugen.
Die Methodik dieser Manipulation ist ebenso simpel wie
effektiv. Sie bedient sich nicht des Argumentes oder der Interpretation oder
der Analyse. Auf das alles kann sie völlig verzichten, denn sie lebt
wesentlich von einer ganz gewöhnlichen Perversion, nämlich von der reinen
Verkehrung des Wortsinnes. Die aber wird spätestens dann nicht mehr oder kaum
noch wahrgenommen, wenn das verkehrte Wort durch die Medien zum Schlagwort
gemacht worden ist und als »Zeitgeist« ein sprachliches Eigenleben führt.
Bei sehr vielen solcher Schlagworte ist das schon lange
der Fall, schließlich ist die Bundesrepublik mit ihnen groß geworden. Und
wer redet heutzutage nicht vom »Arbeitnehmer«, wenn er doch eigentlich einen
seine Arbeit Gebenden meint - und vom »Arbeitgeber«, wenn es um den diese
Arbeit Nehmenden geht. Das häßliche Wort vom »Arbeitsmarkt« geht immerhin
davon aus, daß die Arbeitskraft als Ware auf den Markt gegeben werden muß,
um für einen bestimmten Preis genommen zu werden. Aber selbst in den sog.
Neuen Bundesländern hat diese die realen Verhältnisse auf den Kopf stellende
Sprachregelung in bedauerlich kurzer Zeit gegriffen. Das Interesse, beide
Schlagworte beschleunigt durchzusetzen, war nun aber auch besonders groß.
Denn sie eignen sich zugleich ganz trefflich dazu, dem Ostdeutschen ein Kernstück
seiner neuen gesellschaftlichen Über- und Unterordnung klarzumachen, ohne auf
die Terminologie von »Herr und Knecht« zurückgreifen zu müssen.
Die Sprache der versteckten Absicht vereinnahmt durchaus
nicht jedes Wort. Sie läßt Spielräume, die gegebenenfalls zum Beweis für
Presse- und Meinungsfreiheit erhoben werden können. Die politische Camouflage
besetzt und uniformiert ideologische und sprachstrategische Schlüsselbegriffe
- und sie verfügt darin über erhebliche Erfahrung. Nicht zufällig
firmierten die beiden großen bürgerlichen Nachkriegsparteien unter einem großen
»C«, obgleich CDU/CSU als Parteien genau so »christlich« sind wie die
Republikaner »republikanisch«. Doch wer solchen Sprachgebrauch über
Jahrzehnte erst einmal verinnerlicht hat und den Widersinn gar nicht mehr spürt,
der nimmt schließlich auch nicht mehr wahr, daß Schlagworte wie »Freiheit«
oder »Einheit« oder »Selbstbestimmung« nicht erst zu Klischees verkommen
sind, sondern bereits bei ihrer Einführung die Funktion hatten, politisches
Denken zu paralysieren.
Bis auf wenige Ausnahmen - und einmal abgesehen von den
68er Protesten - ist das den Schlagworten auch durchaus geglückt. Die »Nachrüstung«
hatte es Anfang der 80er Jahre etwas schwerer angesichts einer
Friedensbewegung, die wieder politisch zu denken anfing, weil die Vorrüstung
der NATO allzu offensichtlich war und das Schlagwort von der »Gefahr aus dem
Osten« sich umzukehren begann. Doch diese Friedensbewegung gibt es nicht
mehr, und so hat es heute das Schlagwort von der »Friedensmission« viel
leichter, nicht als Tarnname für neue deutsche Kriegsübungen aufgedeckt zu
werden.
Auch andere Schlagworte können sich einer nahezu
unangefochtenen Verbreitung erfreuen, wie etwa der »Standort Deutschland«,
der auf breiteste Zustimmung trifft und von dem kein Kommentator sagen würde,
daß er identisch ist mit der Zurücknahme des politisch und also auch als
Schlagwort überflüssig gewordenen Sozialstaates, der ja offiziell nicht
abgebaut, sondern lediglich »umgebaut« wird, mit Hilfe eines »Sparpaketes«,
das »Reformen« durchsetzen und den Staat durch »Modernisierung« und »Privatisierung«
»verschlanken« soll.
Wie Werbeplakate hängen solche Schlagworte in der
Medienlandschaft herum, und die Beihilfe der Werbepsychologen ist ja auch unübersehbar:
die Worte sind bestens ausgewählt, sie setzen in ihrem eigentlichen Sinn
keine negativen Emotionen, keine Ängste frei, sondern knüpfen an Positives
an, an Erstrebenswertes. Und sie können darauf bauen, daß der von der
gigantischen Werbeindustrie auf Schlagworte planmäßig dressierte und also
vorsätzlich deformierte Intellekt geradezu erwartet, nun auch von der Politik
und ihren Multiplikatoren in dieser Form bedient zu werden.
Glücklicherweise hat die
Werbung ihr Klassenziel noch nicht vollständig erreicht. Und so gab es bei
dem sog. »Sparpaket« sogar aus der Spitze sozialdemokratischer
Gewerkschaftsführung nicht nur die Frage, ob es sich hierbei nicht womöglich
um eine »Mogelpackung« handeln würde - übrigens auch eine schlagwortartige
Standardformulierung für eine ebenso verschämte wie unausweichliche Kritik
-, es gab tatsächlich die überraschend klare Aussage, dieses »Paket« sei
ein Pakt zwischen »Kabinett und Kapital« und ein Kapitel »Klassenkampf«.
Ein Wort, das ich aus der Spitze der PDS-Führung schon lange nicht mehr,
vielleicht auch noch gar nicht gehört habe.
Um so mehr fällt mir auf, daß sich auch in der PDS eine
bestimmte Schlagwort-Unkultur eingenistet hat. Jedenfalls funktioniert das
Schlagwort »Stalinismus« nach dem angezeigten Schema, nur das es natürlich
negativ besetzt ist, weil es ja Kritiker politisch ausschalten soll. Etwa
jene, die den Versuch, den »Gesellschaftsvertrag« als PDS-Schlagwort einführen
zu wollen, politisch für naiv und historisch für abwegig und so manche Äußerung
der sog. »Reformer« für einigermaßen fragwürdig halten.
Mehr Format als der »Gesellschaftsvertrag« hat da schon
Andre Bries durchdachte Formulierung von dem »in der Bundesrepublik
Angekommensein« bzw. »Nichtangekommensein«. Während man nämlich noch
betroffen darüber nachdenkt und streitet, ob man oder ob man nicht oder ob
man nur noch nicht angekommen ist, hat man Bries Prämisse bereits geteilt.
Die aber besteht darin, daß man sich ja irgendwann einmal auf den Weg gemacht
haben müßte. Und das unterstelle ich den wenigsten Mitgliedern und Wählern
der PDS, wie ich auch Andre Brie nicht unterstelle, daß er bei seinem Marsch
in die BRD keine Weggefährten hatte.
Doch das ist ja gar nicht mein Thema, auch wenn das Thema
Macht in der PDS eine erhebliche Rolle spielt - und das nicht nur im Streben
nach irgendeiner Regierungsverantwortung, die ja mit der wirklichen Machtfrage
in dieser Gesellschaft nur vermittelt und also abgeleitet zu tun hat, weil
selbst das kleinste Bundesland nicht gegen die fundamentalen Interessen der
Banken und Konzerne regiert werden kann, was übrigens vor vielen Jahren sogar
ein Björn Engholm öffentlich einzugestehen wußte.
3. DIE SPRACHE DER OFFENEN
DEMAGOGIE
Die ist ja in der deutschen Geschichte mehrfach so laut
geworden, daß anschließend die ganze Welt erzitterte. Und gegenwärtig
erleben wir, nicht nur, aber gerade auch in der BRD, daß Politiker, Militärs,
Wirtschaftsbosse und auch Intellektuelle wieder zu einer Sprache zurückfinden,
die der Camouflage nicht mehr bedarf. Das war auch vorauszusehen, denn es
liegt nicht im Wesen des Kapitalismus, das Kapital und seine wirtschaftliche
und politische Herrschaft zu verstecken. Dazu muß er sich schon gezwungen
wissen. Und dazu war er ja denn auch wenigstens teilweise gezwungen. Seit aber
der europäische Sozialismus nicht mehr existiert, muß sich das Kapital
jedenfalls seinetwegen keinerlei Zwang mehr antun. Und wie jetzt die
politischen Gründe für den sog. Sozialstaat entfallen, so entfällt auch die
Notwendigkeit, in einer Sprache zu reden, die sich populistisch geben und
hinter Masken verstecken muß. Jetzt kann endlich wieder Fraktur und Klartext
geredet werden. Und das geschieht inzwischen immer häufiger - in Entsprechung
zu einer immer hemmungsloser werdenden Politik und Praxis der puren
Kapitalverwertung.
Die Wende zu der rekonstruierten Sprache der reinen
Machtpolitik findet bereits im sog. »Einigungsvertrag« statt, der in Artikel
2 ganz programmatisch nur noch von »Deutschland« redet und damit schon
rhetorisch jenes nationale Pathos rekonstruiert, das dann nicht nur in Rostock
und Hoyerswerda prompt seine Interpreten fand. Nur 2 Jahre nach der sog. »deutschen
Einheit« legte auch die deutsche Generalität mit ihren »Verteidigungspolitischen
Richtlinien« eine Interpretation vor, in der das Schlagwort von der »gewachsenen
Verantwortung des größer gewordenen Deutschland« abgelöst wurde von der
nunmehr offen militaristischen Reklamierung »vitaler« deutscher »Sicherheitsinteressen«
an der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten
Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«.
Wer die Herkunft dieses
Zitates nicht kennt, könnte es durchaus für eine Kriegszielbestimmung von
1939 oder 1941 halten und an ukrainischen Weizen und russisches Erdöl denken.
Selbst ein so neutral wirkender Begriff wie der der »Wende« verliert ja
seine semantische Unschuld, wenn man sich durch Victor Klemperers LTI daran
erinnern läßt, welche Rolle er gegen Ende des 2. Weltkrieges gespielt hat
und in welchem Wahnsinn diese »Wende« noch im April 45 zu »des Führers
Geburtstag« erwartet wurde.
Die Sprache dichtet und denkt nicht nur für uns, wie
Schiller sagt, sie verrät uns auch, wie wir aus der Biographie des Petrus
wissen. Und es gibt eben nicht nur ideomatische, es gibt auch ideologische
Dialekte. Und der Begriff der »Wende« gehört zweifellos zu einem solchen
Dialekt. Jedenfalls beinhaltet er jene Dialektik, die der erzkonservative
Berliner Bischof Otto Dibelius einmal auf die Formel brachte: Es muß etwas
Neues kommen, und das Neue muß irgendwie das Alte sein.
Inzwischen artikuliert sich das Alte tatsächlich wieder
ganz neu, etwa in dem Begriff der »Nation«, der nicht mehr einem rechten
Rand vorbehalten ist, sondern die Mitte der Gesellschaft zu erobern beginnt,
nachdem er von Herrn Schäuble öffentlich rehabilitiert wurde. Nicht wenige
Publizisten und Journalisten haben diese Wende begeistert aufgenommen und den
Katalog der zu rehabilitierenden Begriffe rasch erweitert. So fordert Jochen
Thies, Ressorleiter für Außenpolitik in der Tageszeitung »Die Welt«,
endlich doch wieder dem Begriff der »Elite« und der Tugend des »Dienens«
Geltung zu verschaffen (S. 227ff.). Ansgar Graw, Redakteur beim »Sender Freies
Berlin« will in einer, wie er sagt, »wehrhaften Demokratie« die »Dekadenz«
des Pazifismus mit der Wurzel ausgerissen sehen und neben »Opferbereitschaft«,
»Staatsbewußtsein« und »Nationalbewußtsein« auch eine »Kampfbereitschaft«
etabliert wissen, die der »ewigen Notwendigkeit« des »Sichwehrens«
Rechnung zu tragen habe (S. 285ff.). Ähnlich Peter Meier-Bergfeld,
Korrespondent der Wochenzeitung »Rheinischer Merkur« und ideologischer
Wegbereiter eines endgültigen Anschlusses Österreichs an Deutschland: es sei
hohe Zeit, endlich von der Behauptung des »Nonsens« zu lassen, »Gewalt sei
kein Mittel der Politik« und »soldatische Ehrbegriffe« gehörten nicht in
die Gesellschaft (S. 203f.).
Das alles und noch sehr viel
mehr über alte und neue deutsche »Heimatliebe«, über »Patriotismus« und
»Treue« und »Mut« und »Ehre« ist nachzulesen in dem im Ullsteinverlag
1994 von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband »Die
selbstbewußte Nation«. Schwilk und Schacht arbeiten beide für die »Welt am
Sonntag«, und natürlich haben sie auch Autoren der FAZ und der »Jungen
Freiheit« aufzubieten.
Aus diesem also erschreckend repräsentativen Band ein
letztes Zitat zur Demokratie eines »Deutschland«, dessen »Vereinigung«,
wie es an anderer Stelle heißt, »Auschwitz« als Datum deutscher Geschichte
endlich relativiert habe (ebd., S. 185). Rainer Zitelmann, der für
Zeitgeschichte zuständige Ressorleiterkollege von Herrn Graw, schreibt: »Wer...eine
Demokratie will, die rechte Positionen von vornherein aus dem
Verfassungskonsens ausgrenzt, setzt sich dem Verdacht aus, die pluralistische
Demokratie durch eine antifaschistisch-demokratische Ordnung ersetzen zu
wollen. Der Widerstand gegen solche Bestrebungen ist eine der zentralen
Aufgaben für Demokraten in Deutschland - und rechte Demokraten sollten hier
die Unterstützung von linken Demokraten suchen.« (ebd., S. 165)
Ich will jetzt am Ende meines
Beitrages nicht auch noch einen kurzen, scharfen Seitenblick nach Dresden
werfen, auch will ich nicht auf Zitelmanns Verwirrspiel eingehen, als gebe es
in der BRD so etwas wie eine »antifaschistisch- demokratische Ordnung«. Ich
möchte vielmehr abschließen mit der durchaus nicht rhetorisch gestellten
Frage, welche Konsequenzen es wohl für eine regierungsbeteiligte PDS hätte,
wenn sich das hehre Wort von der »Demokratie« über kurz oder lang nicht nur
als eine für Zitelmanns »Demokratie«-Verständnis paßfähige Sprachhülse
erweist, sondern gar als eines jener Schlagworte politischer Camouflage, die
auf dem - auch von linken Sozialdemokraten mit großer Sorge verfolgten -
Marsch in eine »andere deutsche Republik« nicht mehr mitgenommen zu werden
brauchen. Womöglich noch mit dem Argument, »Demokratie« heiße auf
Griechisch »Volksherrschaft«, und die habe es in der Bundesrepublik ja
ohnehin nie gegeben. Herrn Schäubles Vorstoß, »weniger Demokratie wagen«
zu wollen (FAZ vom 13.9.96), gibt uns jedenfalls schon einen gehörigen
Vorgeschmack auf eine solche »andere deutsche Republik«. Und wenn es dem
sog. Neoliberalismus innerhalb sehr kurzer Zeit gelungen ist, das glatte
Gegenteil von Liberalismus zum Programm zu erheben, sollten wir damit rechnen,
daß es auch einem sog. Neodemokratismus gelingen könnte, einen
programmatischen Antidemokratismus zur neuen Staatsdoktrin zu machen.
Stalin oder doch nicht Stalin
[Leserbrief zu:
Kurt Gossweiler, Der Antistalinismus - das Haupthindernis für die Einheit
aller antiimperialistischen
Kräfte (Weißenseer Blätter 4/1994, S. 37- 43), in: Weißenseer Blätter 5/1994, S. 62-63]
Lieber Hanfried Müller!
Selten habe ich etwas mit so gemischten Gefühlen
gelesen wie den Beitrag von Kurt Gossweiler über den »Antistalinismus« in
den WBl 4/94. Dabei bin ich mir über den Grad der Mischung noch gar nicht
so recht im klaren. Daß der von mir persönlich sehr geschätzte Historiker
Gossweiler in den von mir theologisch wie politisch privilegierten WBl die
Tabuisierung der Stalin-Thematik durchbricht, findet meinen ungeteilten
Beifall. Denn nur so kann man sich gegen die beliebig instrumentalisierbare
»Stalinismus«-Keule wehren, die bekanntlich von vielen Seiten und immer
dann eingesetzt wird, wenn der Schlag auf den Vorderkopf die fehlenden
Argumente im eigenen Hinterkopf überdröhnen muß. Und nachdem das nun
lange genug funktioniert hat, ist der Respekt vor dieser Keule inzwischen ja
auch so groß geworden, daß man lieber dreimal dementiert oder gar zweimal
revoziert, als einmal von ihr getroffen zu werden. Aber weil man weiß, daß
sie wie ein Damoklesschwert eigentlich über jeder unliebsamen Äußerung
schwebt und die Hinterköpfe immer leerer werden, schickt man sich ins
scheinbar Unvermeidliche und sagt lieber gar nichts mehr. Man verstummt oder
man verdummt.
Wenn ich Gossweiler richtig verstanden habe, dann
will er sich diesem Diktat nicht länger beugen. Und so holt er nun
seinerseits zu einem »Befreiungsschlag« aus, indem er sich im Gegenüber
zu der Vielzahl von Stalins Verklägern ganz einfach zu dessen Anwalt macht.
Und wie Anwälte das eben so machen: sie geben nichts zu und verteidigen
alles, selbst wenn alles gegen ihren Klienten spricht.
Vor einem ordinären Gericht mag das ja durchaus auch
in Ordnung sein, aber als Historiker ist man kein Anwalt und auch kein
Anwalt der Geschichte, sondern deren Rekonstrukteur und Interpret. Ihr
Anwalt könnte man nur nach Maßgabe einer Geschichtsphilosophie werden, in der, wie bei Hegel,
das Wirkliche immer auch das Vernünftige, mithin also das wirklich
Notwendige ist. Aber gerade an Hegel sehen wir ja, daß das ohne Teleologie
gar nicht geht. Die aber sollte für einen marxistischen Historiker höchstens
ein Forschungsthema sein, nicht aber ein Grundsatz seiner historiographischen
Methode. Das Marxsche Verständnis von Entwicklung hat jedenfalls mit
Teleologie nichts zu tun, auch wenn Marx sehr wohl um Ziele weiß. Aber
gerade hier hat er Hegel doch Beine gemacht. Denn zu Marx’ Zielen gelangt
man nicht durch den Selbstlauf der Geschichte, sondern ausschließlich auf
dem Wege einer revolutionären Praxis.
Um eben diese Praxis aber muß es bei der Beurteilung
Stalins gehen, und die erste Frage dabei ist, welche revolutionäre Praxis für
ihn denn nun eigentlich namhaft gemacht werden könnte.
Industrialisierung allein macht noch keine sozialistische
Revolutionierung, und die Liquidierung politischer Gegner und persönlicher
Rivalen ist nicht schon Ausdruck einer revolutionären
Praxis. Was aber bleibt? Bei Stalin womöglich sehr wenig, denn als
Theoretiker hat er keinen besonderen Namen und als Militär nur einen, den
ihm ausschließlich die Rote Armee gemacht hat, die Hitlerdeutschland
besiegte, obwohl ihr Generalissimus gar nicht mit einem Krieg rechnete und
sich nach dessen Beginn erst einmal für 14 Tage auf seine kaukasische
Datsche zurückzog. Selbst als Politiker hatte er also bedeutendere
Kollegen. Und als Internationalist?
Womit also will Gossweiler Stalin eigentlich
verteidigen? Verteidigen ließe er sich doch nur, wenn mit ihm persönlich
eine revolutionäre Praxis verteidigt werden könnte, die diesen Namen auch
verdient. Die aber kann ich beim besten Willen nicht erkennen, wiewohl ich
nach wie vor voller Anerkennung für die Heldentaten der Völker der UdSSR
bin, die ohne die Oktoberrevolution nicht denkbar gewesen wären. Doch der
Aufbau der UdSSR ist doch nun aber nicht Stalins Werk, sondern das Produkt
einer kollektiven Leistung, die man nachträglich höchstens schmälert,
wenn man sie »stalinisiert«.
Das hingegen von Stalin allein zu verantwortende Erbe
sieht da weit weniger heroisch aus. Mag ja sein, daß er einem Gorbatschow
rechtzeitig das Handwerk gelegt hätte. Aber es geht nun ausschließlich
doch auf sein Konto, daß sich in der SU ein Führungsprinzip etablieren
konnte, das es einem Gorbatschow schließlich sogar ermöglichte, völlig
ungehindert seine eigene Partei zu vernichten und eine sozialistische
Weltmacht auszuliefern. Stalin ist nicht die Alternative zu Gorbatschow, er
ist dessen institutionalisierte Voraussetzung. Und daß Leute wie
Gorbatschow oder Jelzin überhaupt je in ein Politbüro der KPdSU einziehen
konnten, ist die Folge eines von Stalin zu verantwortenden Regimes, in dem
ganz offensichtlich der Opportunismus größere Chancen hatte als das
Prinzip der kollektiven Führung.
Und nun will Gossweiler auch noch behaupten, der »Antistalinismus« sei »heute
tatsächlich das größte Hindernis für den Zusammenschluß der Kommunisten«.
Wäre ich Mitglied einer KP, würde ich an dieser Stelle wohl ziemlich laut
protestieren. So aber ziehe ich mich auf die moderate Frage zurück, ob
diese These wirklich gut durchdacht ist - oder ob sie nicht vielmehr ein
Kaliber hat, dessen Rückstoß politisch so verheerend werden könnte, daß
am Ende mehr Kommunisten zusammenstoßen und zusammengestoßen werden, als
bei einem Zusammenschluß auf der Basis eines solchen »Anti-Anti-Stalinismus«
überhaupt zusammenkommen würden. Die »Stalinismus«-Keule entschärft man
so jedenfalls nicht. Und womöglich haben die WBl ihre Wirkung nun sogar
noch erhöht.
*
[P.S. - August 2014: Nachdem der Autor endlich hinreichend
Zeit und Gelegenheit hatte, eine Fülle an Literatur und Dokumenten zu
studieren, erklärt er sein Bedauern darüber, in seiner obigen Einschätzung
Stalins ungeprüft jenen antistalinistischen Standards gefolgt zu sein, die
im wesentlichen aus der verlogenen „Geheimrede“ Chruschtschows abgeschrieben
wurden.]
Nach-Denken über den Sozialismus
[in: Klaus Höpcke/Hans-Joachim
Krusch/Hans Modrow/Harald Neubert/Wolfgang Richter/Robert Steigerwald (Hg.),
Nachdenken über den Sozialismus, GNN Verlag, Schkeuditz 2000; Beitrag zur
wissenschaftlich-politischen Konferez »Nachdenken über den Sozialismus«,
Berlin 23./24. Oktober 1999]
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin noch nicht
ganz in dem Alter, in dem man sich am liebsten nur noch selber zitiert. Aber ich
wiederhole mich durchaus, wenn ich auch heute wieder feststellen muß, daß ich
mich als Theologe unter Gesellschaftswissenschaftlern immer wie ein Homöopath
unter Schulmedizinern fühle.
Dabei hält sich meine Neigung zur Homöopathie durchaus
in Grenzen - wohl auch deshalb, weil ich zureichend beobachten mußte, wie oft
und wie innig die Schulmedizin auf die wundersame Kraft des Placebos setzt. Vor
so vielen Gesellschaftswissenschaftlern werde ich mich aber hüten, diese
Metapher jetzt ausführlich zu interpretieren.
Als Präliminarium erlaube ich mir lediglich noch die
Bemerkung, daß bei dem Thema dieser Veranstaltung ein Theologe gar nicht so
deplaziert ist, wenn man davon ausgeht, daß sich ein Nach-Denken über den
Sozialismus, will es denn seriös und angemessen sein, der den Theologen von
Hause aus recht vertrauten Gattung des Nekrologs kaum entziehen kann.
Damit bin ich auch schon bei meiner ersten von 2 Thesen,
die ich hier zur Diskussion stellen möchte.
1. Wer heute über den Sozialismus nachdenkt, der kommt
nicht an der quälenden Frage vorbei, ob nicht mit dem Untergang des
sozialistischen Lagers womöglich auch der Sozialismus in der Weltgeschichte
definitiv untergegangen ist.
Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht nur in Bayern allein
schon für diese Fragestellung heftigen Beifall einstecken müßte und das fragwürdige
Kompliment auszuhalten hätte, mit diesem Ansatz auf dem allerbesten Wege zu
sein, im Kapitalismus endlich ankommen zu können.
Natürlich weiß ich auch um den linken Protest, den eine
solche Fragestellung provozieren muß. Und dieser Protest ist mir nicht nur
verständlich, er ist mir ja eigentlich auch sehr sympathisch. Doch Vorsicht ist
geboten, denn meine Sympathie gilt nicht jenen, die vor 10 Jahren mit dem ebenso
dreisten wie dummen Argument jonglierten: der »Staatssozialismus« müsse
beseitigt werden, damit sich endlich der wahre und also »demokratische
Sozialismus« entwickeln könne. Ich würde ja gern meinem Kirchenlehrer Karl
Barth folgen wollen, der in einem theologischen Exkurs über die Dämonen dazu
geraten hat, ihnen höchstens einen kurzen, scharfen Seitenblick zukommen zu
lassen. Aber der Untergang des Sozialismus und also auch das Ende der DDR wurde
von so vielen Dämonien getragen und begleitet, daß man selbst heute noch nicht
ganz genau weiß, wohin und wohin man besser nicht blicken sollte.
Der wirklich linke Protest gegen die in der Tat fürchterliche
Arbeitshypothese vom definitiven Ende des Sozialismus artikuliert sich seit 10
Jahren rhetorisch auf unterschiedliche, der Sache nach aber sehr einstimmige
Weise. Ob da - in vorausgesetzter historischer Analogie zur »frühbürgerlichen
Revolution« - vom »Frühsozialismus« die Rede ist oder - wiederum analog -
vom »frühsozialistischen Absolutismus«, die Intention dieses Vokabulars
koinzidiert durchaus mit jenen Wendungen, in denen ebenfalls auf Vorläufigkeit
abgehoben und dementsprechend etwa vom »Sozialismusversuch« oder vom »Experiment«
gesprochen wird.
Als frohe Botschaft klingt das ja auch gar nicht
schlecht: Nicht der Sozialismus ist liquidiert worden, sondern lediglich der
erste »Versuch«, ihn zu errichten. Das »Experiment« ist zwar nicht geglückt,
aber welcher Laborant experimentiert nur einmal. Die Bourgeoisie hat schließlich
auch mehrere Anläufe nehmen müssen, bis sie den Adel endlich domestizieren
konnte. Und das hat Jahrhunderte gedauert. Seid also nicht ungeduldig, und
resigniert nicht. Schließlich gibt es ja auch noch China. Und selbst wenn das
ein Irrtum werden sollte und auch mit Kuba, Vietnam oder Nordkorea kein
Indizienbeweis mehr geführt werden kann, dann bleibt aber immerhin noch die
uralte sozialistische Idee - und die kann uns niemand kaputt machen.
Unter Theologen würde man den Tenor einer solchen
Botschaft Paraklese nennen: Beistand, Ermunterung, Tröstung. Und ich
wage schon gar nicht mehr zu sagen: Vertröstung. Statt dessen meine aufrichtige
Bitte an Sie, mich nicht mißzuverstehen. Ich wäre gern der erste, der das
alles auch so sagen würde und, ich gestehe, als erziehungsverpflichteter Vater
von vier Kindern in meiner Not manchmal sogar sage. Mit einem irgendwie
schlechten Gewissen, denn mit Marx hat das alles gar nichts zu tun.
Nun bin ich zwar kein bekennender Marxist, aber auch als
Theologe folge ich natürlich programmatischen gesellschaftswissenschaftlichen
Erkenntnissen mindestens so konsequent wie ein Homöopath den programmierten
Gesetzen seines Personalcomputers.
Durch Marx haben wir einen Einblick in das real
existierende Betriebssystem der Gesellschaft erhalten. Was wir aber in diesem
Betriebssystem nicht finden werden, das ist jene durchaus faszinierende
Vorstellung von Entwicklung, die uns Hegel als der große Systematiker des
Virtuellen hinterlassen hat: die universale Synopse einer sich im dialektischen
Dreivierteltakt bewegenden Menschheitsgeschichte auf dem unaufhaltsamen Wege zu
ihrem endgültigen Ziel. Mit rhythmischer Notwendigkeit schält sich da die eine
Epoche aus der anderen heraus, ohne ihrer Aufhebung in die nächste entgehen zu
können, bis endlich das große Finale gespielt werden kann - und nun wird
selbst Hegel trivial und Schopenhauers Verdikt, daß über ihn denn doch wohl
die Götter gelacht hätten, läßt sich jedenfalls für dieses dicke Ende kaum
bestreiten, denn es spielt, wie wir wissen, ausgerechnet in Preußen.
Ich kann in der gebotenen Abbreviatur weniger begründen
als behaupten, aber ich behaupte dafür sehr dezidiert, daß dieser Hegel nicht
nur im Popularmarxismus eine erhebliche und damit auch eine verheerende Rolle
gespielt hat. Natürlich haben wir Preußen ausgetauscht und das Finale in den
Kommunismus verlegt, von dem im Sozialismus schon ein gewaltiges Präludium
erklingen sollte.
Wirklich gravierend aber war, daß wir diesen Mythos der
Apotheose nun auch noch mit Hegels dialektisch aufsteigender Selbstbewegung der
Geschichte verbanden, zwar niemals von »Selbstbewegung« sprachen, ihr aber
immer dort das Wort redeten, wo wir über die »objektive Gesetzmäßigkeit«
des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dozierten, über die »Unaufhaltsamkeit«
des »revolutionären Weltprozesses«, vor dem, wir haben das ja noch im Ohr,
selbst »Ochs und Esel« kapitulieren müßten.
Ich bestreite gar nicht, daß man sich mit »objektiven
Gesetzmäßigkeiten« auch Mut machen, und daß es unter Umständen sogar
geboten sein kann, auf diese Weise Pathos zu vermitteln. Und ich bestreite vor
allem auch nicht die Existenz objektiver Gesetzmäßigkeiten. Die entscheidende
Frage aber war und ist die nach dem historischen und gesellschaftlichen Ort
ihrer Gültigkeit.
Wenn es richtig ist, daß die Entwicklung der Produktivkräfte
zum ökonomischen Fundament gesellschaftlicher Revolutionen gehört, dann muß
auch die Umkehrung gelten, die den Begriff der Revolution wesentlich mit dieser
Entwicklung der Produktivkräfte verbindet. Der Prozeß der bürgerlichen
Revolution ist dafür ein hervorragendes Paradigma. An ihm läßt sich
exemplarisch zeigen, wie die Entwicklung der Produktivkräfte die bestehenden
Produktionsverhältnisse sprengt und so zur objektiven Triebkraft der
Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse wird. Ihren Sieg also
verdankt die Bourgeoisie »in letzter Instanz« den revolutionierenden Produktivkräften.
Und sie konnte es sich dann sogar leisten, dem alten Adel in ihrer neuen
Gesellschaft komfortable Nischen einzuräumen.
Das konnte, mutatis mutandis, die sozialistische
Gesellschaft natürlich nicht, auch wenn es in ihr genügend Nischen gab, in die
sich Bürger- und Kleinbürgerliches zurückziehen konnte.
Der entscheidende Unterschied zur bürgerlichen
Revolution besteht jedoch nicht darin, sondern in dem Fehlen einer der neuen
Klasse des Proletariats genuinen Produktivkraftentwicklung. Die Bourgeoisie ist,
sehr verkürzt gesagt, ein Kind der wissenschaftlichen und technischen
Revolutionierung des mittelalterlichen Handwerks, und diese Revolutionierung ist
ein Kind der Bourgeoisie. Wiewohl nun auch das Proletariat als Klasse an sich in
dieser die Industrialisierung hervorbringenden Entwicklung seine Genese hat, im
Gefüge kapitalistischer Verhältnisse bleibt es ein dominiertes und
ausgebeutetes Objekt, das zum dominierenden Subjekt einer Klasse an und für
sich nur durch den Umsturz dieser Verhältnisse wird. Hier schlägt die Stunde
des »Kommunistischen Manifests«, und seit 1917 bekommt das erbauliche Bild vom
Totengräber der Bourgeoisie reale Konturen.
Aber auch nach der ersten erfolgreichen Grablegung bleibt
es dabei, daß die nunmehr den Sozialismus errichtende neue Klasse des
Proletariats keine neuen Produktivkräfte hervorbringt, zunächst zwar zunehmend
effektiver mit den übernommenen umzugehen weiß und dabei teilweise auch die
Vorzüge sozialistischer Produktionsverhältnisse nutzen kann, am Ende aber doch
irritiert zusehen muß, wie ausgerechnet von der alten Bourgeoisie eine neue
Runde der wissenschaftlich-technischen Revolution eingeläutet wird, die zudem
nun auch noch zur Folge hat, daß der Begriff der »Arbeiterklasse« und erst
recht der des »revolutionären Proletariats« seine alte Konsistenz zu
verlieren beginnt.
Ich beschließe die fragmentarische Erläuterung meiner
ersten These mit der Feststellung, daß es mir vor dem Hintergrund dieses
Prozesses sehr schwer fällt, ernsthaft von »Frühsozialismus« und also in
einer Diktion zu reden, die die Illusion erzeugt, es würde gute Gründe für
die Annahme geben, daß die Geschichte nach dem Ende des real existiert habenden
Sozialismus einen neuen Anfang bereithalten müsse.
2. Das Maß der Verantwortung für den Untergang des
Sozialismus wächst proportional zur Wahrscheinlichkeit seines irreversiblen
Endes.
Ich rede mit Vorsatz so distanziert formelhaft, weil ich
Vokabeln vermeiden möchte, von denen her auf meine Emotionen geschlossen werden
könnte, die sich in den letzten Jahren immer stärker werdenden Turbulenzen
ausgesetzt sehen. Vor 10 Jahren war ich immerhin noch so naiv, Gorbatschow zum
Trotz glauben zu wollen, daß der Sozialismus den sog. Kalten Krieg letztlich verloren
habe. Heute ist es nun schon kein Geheimnis mehr, daß Gorbatschow nur ein Name
unter sehr vielen war und daß da nicht nur verloren
wurde, sondern vor allem auch aufgegeben
und nicht zuletzt auch verraten.
Wie schwer diese Preisgabe und dieser Verrat wiegen, das
läßt sich mit sehr unterschiedlichen Maßen verrechnen, und wer seine
kommerzielle oder politische Karriere erst nach dem 9. November 1989 beginnen
oder erfolgreich adaptieren konnte, der wird womöglich ein anderes
Verrechnungssystem zugrunde legen als jene, die nun den entfesselten
Kapitalismus auszuhalten haben.
Doch während für die einen wie für die anderen die
Wechselkurse schwanken, könnte für die Menschheitsgeschichte feststehen, daß
der historische Kairos für eine fundamentale gesellschaftliche Alternative
unwiederbringlich vorüber ist. Es ist ein Gebot der intellektuellen
Redlichkeit, diese Dimension der sog. »Wende« wenigstens zu reflektieren,
bevor man eilfertig die nachgerade liturgisch gewordene Wendung repetiert: »Auch
wir wollen die DDR nicht wiederhaben, jedenfalls nicht so, wie sie am Ende war.«
Abgesehen davon, daß es doch einen erheblichen
Unterschied geben dürfte zwischen einer Gesellschaft, der die Ideale verkommen,
und einer Gesellschaft, die verkommene Ideale hat - selbst an ihrem in vielem in
der Tat schwer erträglichen Ende war die DDR jedenfalls kein kapitalistisches
Land. Und in menschheitsgeschichtlicher Perspektive dürfte dieses mehr zählen
als alle DDR-Gravamina zwischen 1949 und 1989 zusammengenommen.
Ich habe zwar immer noch keinen Stellenbeleg für die
Marxsche Alternative »Sozialismus oder Barbarei«, doch selbst wenn sie gar
nicht von Marx, sondern höchstens marxistisch ist, bereits 10 Jahre nach dem
Untergang des europäischen Sozialismus beginnen sich die ersten Konturen
abzuzeichnen, innerhalb derer diese Alternative ihre Verifikation finden könnte.
Dabei sind Zwischenphasen überhaupt nicht
ausgeschlossen, wie ja auch überhaupt nicht auszuschließen ist, daß die
klassische Bourgeoisie nicht das letzte Wort in der Geschichte haben wird,
sondern ihren Totengräber in einer neuen Klasse findet, auch wenn über deren
ökonomische und gesellschaftliche Konstituierung gegenwärtig höchstens
spekuliert werden kann. Voraussagen aber ließe sich immerhin, daß eine neue
Klasse, sollte sie denn in die Geschichte eintreten, keineswegs den
antagonistischen Klassencharakter der Gesellschaft aufheben muß.
Die wahrscheinlich einmalige historische Chance dafür
hatte lediglich die Arbeiterklasse. Und ich komme noch einmal - nun allerdings
aus ganz anderer Perspektive und gewissermaßen in dialektischer Umkehrung - auf
die Rolle der Produktivkräfte zurück, wenn ich behaupte: die Chance bestand
wesentlich auch deshalb, weil das Proletariat außer seinen Fesseln nichts zu
verlieren hatte - also auch keine eigentümliche Bindung an eine
klassenspezifische Produktivkraftentwicklung.
Eine an revolutionierende Produktivkräfte gebundene
revolutionäre Klasse kann ihr Klassenziel nicht in der Aufhebung der
Klassenunterschiede sehen, weil ihr erstes Interesse immer in der Aufhebung überkommener
Produktionsverhältnisse bestehen wird.
Und so kommt denn dem großen Wort von der »historischen
Mission der Arbeiterklasse« auch heute noch und heute erst recht eine
einzigartige, aber eben auch eine einmalige Bedeutung zu.
Diese Mission wurde nicht erfüllt. Dennoch kann ich sagen: Ich habe auf das
richtige Pferd gesetzt, auch wenn das falsche gewonnen hat.
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