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TOPOS
Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie
herausgegeben von
Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo
in Verbindung mit dem Istituto Italiano
per
gli Studi Filosofici und dem Centro di Studi Filosofici S. Abbondio
Edizioni La Città del Sole/Napoli ( I - 80135 Napoli,
Piazza Quattro
Giornate, 64)
www.toposzeitschrift.de
STOA UND GNOSIS
Anpassung und Verweigerung. Typologische Aspekte zweier antiker
Ideologien im Zeitalter der griechisch-römischen Globalisierung
HANS HEINZ HOLZ
Zu Dieter Krafts Beitrag: Stoa und Gnosis
DIETER KRAFT
Eine Replik
EIN SYMPOSION
»Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert?«
DIETER KRAFT
Zu Hans Heinz Holz: »Weltentwurf
und Reflexion«
HANS HEINZ HOLZ
Eine Replik
MYTHOS UND IDEOLOGIE
Zum politischen
und theoretischen Umgang mit einer griechischen Vokabel
[TOPOS 31, Napoli 2009, S. 13-48]
DER ENTKETTETE KNECHT
Philosophische Perspektiven auf Brecht und Hacks und Hegel
[TOPOS 34, Napoli 2010, S. 151-166]
REINHARD KRÜGER
Klassik-Ideologie als Herrschaftswissen. Ein Beitrag zu
ihrer Kritik
[TOPOS 35, Napoli 2011, S. 111-135]
MESSER UND GABEL
Zu Reinhard Krügers Kritik des Klassikbewußtseins
[TOPOS 35, Napoli 2011, S. 137-146]
Anpassung und Verweigerung. Typologische Aspekte zweier antiker Ideologien
im Zeitalter der griechisch-römischen Globalisierung
[in: TOPOS 15, Internationale Beiträge
zur dialektischen Theorie, herausgegeben von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo, Neapel 2000, S. 11-32]
Globalisation is not
only an imperialistic term of the present time. We know the process of
globalisation in history. Two periods are well-known: Hellenism and the Roman
Empire. Both epochs are accompanied by philosophies and religions which try to
give a special answer to the global challenges of existence and society. Two
types are significant for different ideological arguments: Stoicism and
Gnosticism. Stoicism affirms the new development and gives a universal
philosophic platform for adaptation. Gnosticism refuses recognising new
conditions and condemns the world with its divine rulers. Stoicism is looking
for harmony, Gnosticism is searching a radical conflict. Two types of ideology
interesting in history and the present.
Von der Polis zur Oikoumene
Als sich Zenon aus Kition um 300 ante
Christum natum in einer mit Gemälden geschmückten Halle am Markt von Athen
niederläßt und seine neue Philosophie vorträgt, findet er in dieser stoa
poikile schnell großen Zulauf. Die Athener warten auf neue Lebenslehren.
Seit die griechische polis aufgehört hat ein Stadtstaat zu sein, eine
in sich geschlossene und weitgehend autokephale Stände- und
Klassengesellschaft, deren Beziehungen zu anderen griechischen Stadtstaaten
vornehmlich von Kriegern und Kaufleuten gestaltet wurden, hat das ursprünglich
im Gerichtshof gesprochene Wort von der krisis einen ganz neuen und
übergreifenden Klang bekommen. Mehr oder weniger sind nun alle Athener dazu
verurteilt, sich nach ihrem neuen Bürgertum in einer Welt befragen lassen zu
müssen, die nicht mehr an ihren Stadtstaatstoren endet, sondern in Asien und
Afrika.
In seiner politischen Bedeutung muß sich Athen
ohnehin und schon lange bescheiden, und mit der Niederlage von 338 gegen den
makedonischen Phillip II. in der Schlacht von Chaironeia verblaßt der alte
Ruhm endgültig. Bei Chaironeia unterliegen die Athener Militärs mit dem die
siegentscheidende Reiterei anführenden Alexander einem Mann, der in der
Folgezeit nicht nur die griechischen Städte in eine ebenso umwälzende wie
verheerende Entwicklung treibt. Als Alexander III. setzt der Sohn Philipps
nach seiner 336 erfolgten Inthronisation die makedonische Hegemonial- und
Expansionspolitik in rasantem Tempo und in einem Ausmaß fort, das alle
vorangegangenen hellenischen Kriegszüge nachgerade maßlos überbietet.
Als erste bekommen das die Nachbarn im Norden
zu spüren, die Skythen und Illyrier, und 335 auch das einflußreiche Theben,
das fast vollständig zerstört wird. Schon 334 zieht Alexander gegen Persien
und schlägt ein Jahr später den Großkönig Dareios III.. 332 kapituliert die
Phönizierstadt Tyros. 331 wird Sparta besiegt, Syrien erobert, Ägypten
besetzt. Im selben Jahr fallen Babylon und Susa. 330 geht Persepolis in
Flammen auf. 329 werden Baktrien und Sogdianien mit Samarkant unterworfen. Und
schließlich zieht Alexander auch noch gegen Indien. Als er 323 stirbt,
hinterläßt er ein Weltreich, das im Wortsinn der griechischen oikoumene
enspricht.
Während Zenon in Athen seine neue
Lebensphilosophie vorträgt, toben noch immer die Diadochenkämpfe um dieses
Weltreich. Zwar wird es nun in neuen Kriegen herrschaftspolitisch aufgeteilt,
doch es sind griechische Herrschaften, die diese oikoumene regieren und
prägen. Und so wird Griechisch in der dialektreichen Gestalt der Koine zu
einer Weltsprache, verbreitet sich hellenische Kultur und Religion, um
wiederum mit Asiatischem, Arabischem, Nordafrikanischem zu jenem Konglomerat
zu verschmelzen, das seit Johann Gustav Droysen Hellenismus genannt
wird. Eine historische Abbreviatur, die der griechischen Überfremdung der
eroberten Gebiete ebenso Rechnung trägt wie der multikulturellen Synthese, die
für das hellenisierte Großreich nicht minder charakteristisch ist und von
Alexander sogar planvoll befördert wird, wie die spektakuläre Massenhochzeit
zu Susa 324 zeigt, bei der sich Tausende seiner Krieger mit Perserinnen
vermählen müssen und Alexander selber eine Tochter des Dareios zur Frau nimmt.
Der ethnische, religiöse, kulturelle Synkretismus gehört als sozio-kulturelle
Signatur zum Hellenismus ebenso wie seine griechische Prägung.
Auch der aus dem zyprischen Kition stammende
Zenon ist kein gebürtiger Grieche, sondern phönikischer Herkunft. In Athen
findet man ihn bezeichnenderweise zunächst im Kreise der Kyniker, deren
demonstrative Bedürfnislosigkeit auch eine Form der Solidarität mit den
Stadtarmen ist und nicht nur Ausdruck einer Stadtbürgerlichkeit, die sich vor
dem Niedergang der Polis und den bereits Einzug haltenden oikoumenischen
Turbulenzen in einen originellen Individualismus zu retten versucht. Diogenes
Laertius berichtet in seinem antiken Philosophenkompendium von dem berühmten
Kyniker Diogenes aus Sinope: »Auf die Frage, welchen Gewinn ihm die
Philosophie gebracht hätte, sagte er, wenn sonst auch nichts, so doch
jedenfalls dies, auf jede Schicksalswendung gefaßt zu sein.«
Wer nichts hat, dem kann auch nichts genommen werden; wer sich selbst genug
ist, den müssen keine politischen Verwerfungen beunruhigen; wer ein
Weltbürger ist, der kümmert sich nicht um die Meinung der agora.
Schon für die Kyniker ist der Kosmopolitismus eine ideologisch und natürlich
auch eine sozialpsychologisch tragende Kategorie. Gefragt nach seinem
Heimatort, antwortete Diogenes: »Ich bin ein Weltbürger.«
Die Stoiker verstehen sich auch als
Weltbürger. Doch ihr Kosmopolitismus hat, wie auch ihr Schicksalsverständnis,
eine ganz andere Färbung. Überhaupt kommt ihrer Philosophie insgesamt eine
ganz andere Funktion zu. Die Kyniker verweigern sich. Sie stellen sich
jenseits aller Konvention und bloßen Tradition. Und so bergen die
Provokationen ihres exzentrischen Individualismus letztlich immer auch
Gesellschaftskritik, die zwar kaum damit rechnen darf, Veränderungen auslösen
zu können, die dessen ungeachtet aber durchaus als eine Form des Protestes
verstanden - und nur selten angenommen wird. Diogenes Laertius ruft dem
Antisthenes noch 6 Jahrhunderte später nach: »Eine Hundenatur, Antisthenes,
warst du im Leben. Mit deinem bissigen Wort trafst Du die Menschen ins Herz.«
Ins Herz treffen wollen die Stoiker ihre
Zeitgenossen nicht. Im Gegenteil. Sie sind keine Provokateure. Sie sind nicht
einmal Kritiker, obwohl sie um das Leiden wissen - das Leiden an einer Welt,
in der die Schrecken des Krieges zur Normalität gehören und unterschiedslos
jeder von diesem Greuel heimgesucht werden kann, wie etwa in Theben, bei
dessen Zerstörung Alexander Tausende Einwohner töten und den Rest als Sklaven
verkaufen läßt. Sie wissen um das Leiden an einer Welt, die so groß und
unübersichtlich geworden ist, daß der einzelne in ständiger Gefahr steht, in
diesem Meer der Völkerverschmelzung unterzugehen. Sie wissen um die Inflation
eines alten Wertesystems, das der neuen Welt des Alexander und seiner
Diadochen nicht kompatibel ist. Und sie wissen, daß viele ihrer Zeitgenossen
darauf warten, eine Orientierung zu finden, die es ihnen erlaubt, diese
prekäre Lage bewältigen zu können.
Epikur wird eine solche Orientierung - aber
nur für einzelne. Seine Empfehlung, doch einfach im Verborgenen zu leben,
um zu überleben, ein paar gute Freunde zu suchen und möglichst jeder Unlust
und also auch allem Politischen aus dem Wege zu gehen, ist kein Programm, das
in einer Weltenkrise Massen mobilisiert. Die Stoiker aber bieten ein solches
Programm, mit einem Erfolg, der über Jahrhunderte anhält und sich nicht
zufällig auch im römischen Imperium fortsetzt.
Zu den Leitern der Athener Schule gehören
nach Zenon aus Kition (~262): Kleanthes aus Assos (bis ~232), Chrysipp aus
Soloi (bis ~206), Zenon aus Tarsos (bis ?), Diogenes aus Seleukeia (bis ~150),
Antipatros aus Tarsos (bis ~129). Dessen Nachfolger, Panaitios aus Rhodos (~†110),
der Begründer der sog. ›mittleren Stoa‹, trägt die stoische Philosophie auch
in römische Kreise. In der Schulleitung folgen ihm die Athener Dardanos und
Mnesarchos nach, und dann läßt sich die Sukzession in Athen nicht weiter
verfolgen. Der Syrer Poseidonios aus Apameia (~†51)
zählt schon nicht mehr zu den eigentlichen Schuloberhäuptern, obwohl er der
letzte große Vertreter der griechischen Stoa ist, die in der römischen aufgeht
und sich hier mit den Namen Seneca (†65
n.Chr.), Epiktet (~†130)
und Mark Aurel (†180)
und z.T. auch schon mit Cicero (†43
v.Chr.) verbindet.
Die ursprünglich sehr zahlreichen, doch
nur fragmentarisch überlieferten Schriften
verdichten sich zu einem Bild, das in seiner relativen Homogenität zugleich
die Geschlossenheit einer ideologisch affirmativen Weltanschauung zeigt. Die
Kyniker wollen sich ostentativ verweigern, die Epikureer wollen sich
stillschweigend aus allem heraushalten, die Stoiker aber sind entschlossen,
sich den ungeheuren weltpolitischen Umwälzungen um jeden Preis anzupassen.
Diese weltanschauliche Assimilation verläuft auf verschiedenen Ebenen, die im
einzelnen ein unterschiedliches Gewicht erhalten, aber, weil letztlich
derselben Problemlage verpflichtet, miteinander auch dort verbunden sind, wo
sie zueinander im Widerspruch stehen.
Von der oikoumenischen zur
kosmologischen Totalität
Die Akkommodation der Stoiker an die durch
den Hellenismus bestimmte welt- und gesellschaftspolitische Entwicklung
beginnt, biographisch gesehen, mit einer Wende, jedenfalls damit, daß sich
Zenon von Kition von seinem alten Athener Lehrer Krates abwendet und den Kreis
der Kyniker verläßt. Es ist nicht überliefert, ob er diesen Bruch seinen
Zeitgenossen als notwendigen Schritt einer programmatischen ›Reform‹ zu
erklären versucht, wohl aber wird alsbald deutlich, daß die dem Zenon folgende
Bewegung der Stoa nicht reformieren, sondern weltanschaulich affirmieren
und ideologisch legitimieren will. Und sie unternimmt dieses
philosophisch in einer abstrakten Universalität, die für die griechische
Antike beispiellos ist, doch in den makedonischen Eroberungen ihre konkrete
politische Entsprechung findet.
Die Affirmationsphilosophie der Stoa setzt mit
einer dubiosen These ein. Während sich ganz Griechenland in einem politischen
und kulturellen Umbruch befindet und die unterworfenen Länder und Völker um
ihre nationale Identität ringen, während der explodierende Hellenismus für
tiefgreifende gesellschaftliche Turbulenzen sorgt und allenthalben Krieg
befohlen wird, behaupten die Stoiker kategorisch: In dieser Welt geht alles
mit rechten Dingen zu, in ihr ist alles logisch und vernünftig. Denn nicht nur
diese Welt, sondern der gesamte Kosmos ist durchdrungen und wird getragen und
geordnet und auf schönste Weise erhalten und gelenkt von einem göttlichen
logos und also von einer alles regierenden und dirigierenden göttlichen
Vernunft. Dieser Logos gibt aller Wirklichkeit Maß und Gesetzmäßigkeit,
Sinn und Ziel. Die Natur, die Geschichte und selbst die Gestirne folgen seiner
göttlichen »Logik«. Er ist die »Seele« und der »Geist« des Ganzen - und das
Ganze ist eines, denn auch die Gottheit ist eine, und nichts ist
außerhalb der Gottheit.
Hegels Diktum von der Identität des Wirklichen
mit dem Vernünftigen hätte eigentlich durch die Stoa berühmt werden müssen.
Jedenfalls vermitteln auch die Stoiker mit dieser Identität eine
weltanschaulich-philosophische Grundstimmung, die erhaben macht und nicht
verweilen läßt beim Widrigen des Widerspruchs und der Verwerfung in
Gesellschaft und Geschichte. Natürlich denken sie das Leid nicht einfach weg.
Im Gegenteil. In ihrer »Physik« erhält es sogar den Rang einer arche,
eines ontologischen Grundprinzips:
»Das All, das Ganze (τὸ ὅλον) besteht
aus zwei Prinzipien (δύο ἀρχὰς), dem wirkenden und dem leidenden (τὸ
ποιοῦν καὶ τὸ πάσχον). Das leidende ist die qualitätslose Wesenheit,
die Materie (ἡ
ὕλη), das in ihr wirkende ist der Logos (ὁ λόγος), die Gottheit (ὁ
θεός). Diese geht in ihrer Ewigkeit ganz durch sie hindurch und
gestaltet (δημιουργεῖν)
so die Einzeldinge.«
Wie das Feuer sich mit den Dingen
vermischt und sie durchdringt, so vermischt sich der Logos mit der ganzen
Materie und durchdringt sie gestaltend. In einem solchen Vorgang hat das
Leidende gar keine Wahl. Aber selbst noch im Leiden darf es sich rühmen
(lassen), vom Göttlichen gestaltet zu werden.
Hinter Aristoteles und die subtile
entelechisch vermittelte Dialektik von Stoff und Form fällt diese
stoizistische Zuordnung von hyle und logos - rein philosophisch
geurteilt - erstaunlich weit zurück. Ideologisch gesehen aber ist diese
Vereinfachung plausibel. Denn in ihr läßt sich nicht nur der griechische
Gestaltungsanspruch gegenüber den eroberten und besetzten Ländern und Völkern
entdecken. Sie enthält auch für den im Hellenismus noch nicht angekommenen und
unter den neuen Verhältnissen und Entwicklungen leidenden Griechen die
Botschaft, sich mit Überzeugung fügen zu können.
Es ist keine metabasis eis allo genos,
die Philosophie der Stoa nach ihrem Ideologiegehalt zu befragen und ihren
philosophischen Monismus und Pantheismus mit dem politischen Panhellenismus in
Verbindung zu bringen - und erst recht auch ihren philosophisch begründeten
Kosmopolitismus mit dem politischen Oikoumenismus.
Die Stoiker selber geben mit der durch Generationen repetierten Maxime vom
ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν
einen Kosmologie, Naturphilosophie, Ethik und Politik verbindenden
Interpretationszusammenhang vor. homologoumenos te physei zen, in
Übereinstimmung mit der Natur leben, convenienter naturae
vivere,
wie dann die römischen Stoiker schon nicht mehr ganz so beziehungsreich sagen,
denn bereits in homologoumenos geht es etymologisch um den logos
im legein, um den einen (homo) und alles, Natur und
Geschichte, durchdringenden und bestimmenden göttlichen Logos. Nicht
mit der Natur schlechthin ist nach Übereinstimmung zu trachten, sondern
mit dem ihr innewohnenden Logos. Als logosgemäßes ist das
naturgemäße Leben ein vernünftiges und als solches ein
tugendhaftes und damit ein glückseliges Leben.
Auch für die Stoa ist die eudaimonia
natürlich ein zentrales Thema. Und für die Stoiker charakteristisch ist Zenons
ebenso schlichte wie prägnante Definition dieser mit »Glückseligkeit«
eigentlich gar nicht adäquat wiedergegebenen eudaimonia:
εὐδαιμονία δ' ἐστὶν εὔροια βίου,
Glückseligkeit ist ein gut verlaufendes Leben - besser noch: ein
gutes Leben fließt ungehindert dahin. Das klingt bescheiden und
unspektakulär, aber gemessen an den äußeren Bedingungen, unter denen die
Stoiker dieses gute Leben propagieren, ist der Anspruch sehr hoch. Wo
schon kann Leben ungehindert dahinfließen - und nun gar in Zeiten sozialer und
geschichtlicher Umbrüche und Umwälzungen, die vor niemandem halt machen und
jeden erfassen und aus der Lebensbahn werfen können. Und um genau diese Frage
gruppiert sich das lebensphilosophische System der Stoa: Wie muß sich der
Einzelne verhalten, um in dieser kritischen Situation nicht aus der Bahn
geworfen zu werden?
Die Antwort der Stoa ist einfach und umfassend
zugleich und in dem Postulat eines naturgemäßen Lebens in jeder
Hinsicht enthalten, denn kata physin zielt nicht nur auf die Welt der
Natur, sondern auf die Natur der Welt, mithin also auf die Natur der Dinge
ebenso wie auf die Natur des Menschen, der Polis, der Oikoumene. Denn alle
unsere Naturen sind Teil des Ganzen,
μέρη γάρ εἰσιν αἱ ἡμέτεραι
φύσεις τῆς τοῦ ὃλου.
Hermeneutisch freilich kommt der Welt der Natur eine besondere Bedeutung zu,
denn was ihr gegenüber gemäß heißt, das läßt sich plausibel vermitteln.
Die ›physikalische‹ Welt der Natur gestattet dem Menschen - aufs Ganze gesehen
- keinen willkürlichen Handlungsspielraum. Niemand verstößt ungestraft gegen
die Ordnung der Natur, niemand kann ihren nomos, ihre Gesetzmäßigkeit
aufheben. Wer die Naturordnung nicht akzeptiert, wer sich ihr nicht anpaßt und
unterwirft, der bezahlt gegebenenfalls sogar mit dem Leben. Auf jeden Fall
aber bringt er in sein Leben Unordnung und mit ihr Schmerz und Leid. Es ist
also vernünftig, die Ordnung der Natur zu respektieren und sich ihr zu
akkommodieren – und dieses um so mehr, so nun die besondere Betonung der
Stoiker, als sich in dieser Ordnung nichts anderes als der göttliche Logos
manifestiert. Der aber waltet nicht nur im Naturgeschehen, sondern
gleichermaßen auch in der Geschichte. Und so gilt auch für die Geschichte, was
für die Natur gilt: Wer sich ihr nicht anpaßt und unterwirft, der bringt sich
um seine eudaimonia.
Die über Jahrhunderte anhaltende Popularität
der Stoa verdankt sich nicht zuletzt auch der Tatsache, daß die Stoiker diese
Anpassung nicht vordergründig dekretieren, sondern hintergründig für
sie werben. Niemand muß, aber alle dürfen sich »logosgemäß«
verhalten - und das aus guten Gründen. Diese guten Gründe heißen pronoia
und heimarmene. Eigentlich könnte man beide mit Vorsehung
übersetzen, denn pronoia und heimarmene überschneiden und
vermischen sich, bis hin zur Austauschbarkeit,
die darin gegeben ist, daß beide letztlich wiederum mit dem logos
identisch sind.
So kommt in der sprachlichen Differenzierung eher eine Unterscheidung der
Beziehungsebenen zum Ausdruck. Während sich die Vorsehung als pronoia
auf das Verhältnis des Menschen zum Naturgeschehen bezieht, bezieht sie sich
als heimarmene, als Schicksal, auf seine Geschichte. Und in
beidem darf der Mensch nun davon ausgehen, daß in allem nicht nur Ordnung
schlechthin herrscht, sondern eine menschenfreundliche, weil alles in allem
zweckmäßige und nützliche und auch schöne Ordnung.
μηδὲν ὑπὸ τῆς φύσεως γίνεσθαι μάτην,
sagt der Athener Chrysipp: Nichts geschieht in der Natur umsonst.
Omnia aliorum causa esse generata,
zitiert ihn später der Römer Cicero: Alles ist um eines anderen willen
geschaffen - und er schwärmt von den Pflanzen, die für die Tiere, und von
den Tieren, die für die Menschen, von den Pferden, die zum Reiten, von den
Ochsen, die zum Pflügen, von den Hunden, die zum Jagen, von den Schweinen, die
zum Schlachten da sind. Alles ist miteinander sinnvoll verbunden und
aufeinander bezogen. Das eine ist die Voraussetzung des anderen, und alles hat
eine Bestimmung und ein Telos.
Bevor Leibniz von der »prästabilierten
Harmonie« sprechen wird, haben die Stoiker diesen Topos längst besetzt und
dabei das harte Wort vom Widerspruch rhetorisch weitgehend ausgeräumt:
Natürlich ist die Harmonie im einzelnen nicht immer ganz vollkommen, aber aufs
Ganze gesehen
steht ho kosmos für Ordnung und Schmuck.
In dieser »besten aller möglichen Welten«
sorgt die Vorsehung aber nicht nur für ein planvolles Mit- und Füreinander der
Natur, die heimarmene nimmt sich auch des Menschenschicksals an und
läßt ein logosgemäßes Leben gut verlaufen, denn letztlich hat die pronoia
vorzugsweise (προηγούμενος)
um der vernünftigen Wesen willen alles hervorgebracht und sorgt
(pronoei) vorzugsweise für diese.
Der Zeus-Hymnus des Kleanthes weiß denn auch zu rühmen:
»Nichts gibt es auf Erden, was deiner
Gottheit entzogen, nichts in dem Reiche des Äthers noch drunten in Fluten des
Meeres. Nur was Böses die Menschen vollbringen, das tut ihre Torheit. Aber du
weißt auch das Krumme zum Graden zu richten. Was häßlich, schön wird’s in
deiner Hand, was feindlich, ergibt sich in Liebe; Gutes und Böses, sie werden
vereint zu einem Verbande; eine Vernunft herrscht ewig, faßt alles harmonisch
zusammen.«
Auch Kleanthes beherrscht die Kunst, das
offensichtlich doch nicht ganz zu übergehende Üble und Böse (kakos)
rhetorisch zu relativieren. Völlig ausräumen aber können es die Stoiker
natürlich alle nicht. Jedenfalls nicht objektiv. Und so konzentriert
sich denn ihre Ethik fast ausschließlich auf die Frage, wie das Übel
subjektiv zum Verschwinden gebracht werden kann. Und ihre Antwort lautet:
indem wir unsere Einstellung zum Übel korrigieren und, wenn auch das nicht
hilft, das Üble einfach ignorieren. Der Weise beherrscht das eine wie
das andere. Und Weisheit ist eine Tugend, die erlernbar ist.
Das von der Stoa entwickelte Exerzitium ist
nicht umfangreich, dafür aber sehr kompakt. Zu der Hauptübung gehört es, sich
der sog. Affekte, der pathe, zu entledigen und Trauer,
Furcht, Begierde und Lust
zu überwinden, um apathisch, leidenschaftslos, werden und den
erstrebenswerten Zustand der Ataraxie und Autarkie erreichen zu
können, die Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit von allen
inneren Erregungen und äußeren Bewegungen. Für den Leidenschaftslosen kommen
viele Übel erst gar nicht in Betracht. Nicht einmal das Leid des Nächsten geht
ihn etwas an, denn Mitleid ist nur eine Form der Trauer und als solche eine
unvernünftige und naturwidrige Bewegung der Seele.
Die römischen Stoiker bekräftigen solche Grundsätze später mit Nachdruck:
misericordia est aegritudo animi,
Mitleid ist eine Krankheit der Seele. Die »vernünftige« und »gesunde«
Seele des »Weisen« läßt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er weiß, daß
alles nur eine Frage der richtigen Einstellung ist, die die nichtige Meinung (doxa)
hinter sich läßt.
»Alles ist Meinung, und diese hängt ganz
von dir ab. Räume also, wenn du willst, die Meinung aus dem Wege, und gleich
dem Seefahrer, der eine Klippe umschifft hat, wirst du unter Windstille auf
ruhiger See in den sicheren Hafen einfahren.«
Es kommt nicht darauf an, die Verhältnisse
zu verändern, sondern sie zu interpretieren - und zwar so, daß möglichst alles
Üble von ihnen abfällt. »Darum muß man nicht die Armut vertreiben, sondern die
falsche Ansicht von ihr; so werden wir glücklich sein.«
Was für die Armut gilt, das gilt letztlich für
alle prekären sozialen Verhältnisse und natürlich auch für die Sklaverei. Bis
heute wird die Stoa oft dafür gerühmt, auch dem Sklaven konzediert zu haben,
ein Mensch zu sein.
Und tatsächlich touchieren die Stoiker damit eine Herrschaftsideologie, der
auch ein Aristoteles geradezu selbstverständlich verpflichtet ist. Doch die
soziale Konsequenz und also die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei folgt
daraus mitnichten, obgleich eine solche Forderung nun erst recht erhoben
werden müßte. Den Stoikern aber liegt nichts an gesellschaftlichen
Veränderungen. Sie verändern lediglich die Perspektive und können so die
Sklaverei verschwinden lassen. Denn nur der ist ein Sklave, der sich zum
Knecht seiner Affekte macht; die wahre Freiheit besteht in der inneren
Unabhängigkeit.
Als der makedonische König Antigonos den
achtzigjährigen Zenon als Erzieher an seinen Hof beruft, beweist er ein
sicheres Gespür für staatstragende Ideologien. Zenon schlägt den Ruf aus
Altersgründen zwar aus, doch schickt er zwei seiner Schüler
und kommt so jener kosmopolitischen Staatsbürgerpflicht nach, die für die Stoa
insgesamt zum unbedingt Gebotenen gehört.
to kathekon nennen seit Zenon
die griechischen Stoiker jenes unbedingt Gebotene, das dann in der römischen
Stoa als officium
einen geradezu amtlichen Charakter erhält Im Zentrum dieser sog.
Pflichtenlehre steht die Entfaltung einer Gesinnungsethik, die auf die
unbedingte Übereinstimmung mit dem vom Logos bestimmten Grundgesetz des
Naturgemäßen abzielt.
Das kathekon wird so zu dem kategorischen Imperativ, sich unter allen
Umständen und also rücksichtslos
der von der pronoia getragenen Wirklichkeit zu akkommodieren. Und
natürlich heißt das für die Stoiker auch: sich der Staatspolitik zur Verfügung
zu stellen
und unnachsichtig für die Einhaltung und Durchsetzung der Staatsgesetze
einzutreten.
Es ist kein Zufall, daß die
»Lebensphilosophie« der griechischen Stoa in dem die Diadochenreiche nach und
nach und 30 ante Christum natum schließlich endgültig erobernden Imperium
Romanum weiterlebt. Dafür sind die gesellschaftlichen Konsequenzen der
griechischen und der römischen Globalisierung viel zu ähnlich.
Wer in dem nun noch größeren Römischen Weltreich möglichst unbeschadet
überleben will, der muß sich auch diesem neuen Imperialismus anpassen und nach
jener conciliatio trachten, die die griechischen Stoiker
bezeichnenderweise oikeiosis
nennen.
οἰκειόω: sich jemanden zum Freund und zum Vertrauten machen, sich etwas
zueignen - und im eigentlichen Wortsinne (oikos, das Haus): sich
häuslich einrichten, heimisch werden. In kaum einem anderen Begriff
widerspiegelt sich das Grundanliegen der Stoa so sinnfällig und so präzis wie
in dem der oikeiosis. Und in keiner anderen antiken Philosophie als der
der Stoa wird eine weltanschaulich und ideologisch so umfassende und präzise
Antwort auf die existentiell und politisch gleichermaßen hochbrisante Frage
gegeben, wie man sich in einer feindlich werdenden Welt und Geschichte
intellektuell einzurichten hat, um ein Teil dieser Welt und dieser Geschichte
werden und also einen Paradigmenwechsel vollziehen zu können, der aus dem Ort
der Bedrohung ein Zuhause macht. Und dabei wird von den Stoikern selbst noch
das Scheitern dieser oikeiosis vorsorglich bedacht und mit der
Empfehlung verbunden, ganz gelassen den Freitod zu wählen, wenn das Leid denn
doch zu mächtig wird.
Daß die griechische Stoa im römischen
Weltreich ihre Fortsetzung finden kann, verdankt sie aber nicht nur analogen
historischen Prozessen. Sie verdankt diese Prolongation vor allem auch der
Tatsache, daß sie in ihrer Funktion als populare Überlebensphilosophie
zugleich und in herausragender Weise die Kriterien einer hegemonialen
Herrschaftsideologie erfüllt, denn der Stoiker ist für jeden Herrscher ein
idealer Staatsbürger. Von ihm sind keine Revolten zu befürchten. Veränderung
ist nicht sein Thema. Sollte sich dennoch alles verändern, wird er sich als
erster anzupassen wissen. Er ist konstruktiv und konstruiert selbst für den
eklatanten Widerspruch Sinn und Harmonie. Er fügt sich ein und ordnet sich
unter, bedürfnislos und anspruchsfrei, bereit, fürs Vaterland zu sterben. Und
in allem ist er zudem noch glücklich und zufrieden und sorgt stets ganz allein
dafür, daß das so bleibt.
Bezeichnenderweise sind die ersten Römer, die
sich für die Stoa interessieren, Aristokraten und Vertreter der politischen
Herrschaftselite.
Jedenfalls unterhält der Begründer der sog. »mittleren Stoa«, Panaitios aus
Rhodos, beste Beziehungen zu diesen römischen Kreisen; und er schreibt sogar
für sie. Und ein Cicero wird dann später vieles wörtlich von ihm abschreiben.
Am sinnfälligsten jedoch verbindet sich der ideologische Doppelcharakter der
Stoa in ihrer späten Phase mit den Namen Epiktet und Mark Aurel. Der Sklave
und der göttliche Kaiser - zwei Wortführer einer Lebensphilosophie. Das
ist kein Irrtum, das ist die Stoa.
Das Ende der Harmonie
Eine solche Eintracht ist in der Gnosis
nicht denkbar. Unter Gnostikern ist von dem, was die Stoa ausmacht, überhaupt
nichts denkbar, es sei denn als Gegenstand einer radikalen und grundsätzlichen
Kritik. Diese wird zu einem Zeitpunkt laut, der sich ähnlich genau bestimmen
läßt wie die Geburtsstunde der Stoa. Mit der jüngeren Forschung
wird man davon auszugehen haben, daß »die Bewegung der Gnosis in der
neutestamentlichen Zeit wuchs und sich entwickelte, Seite an Seite mit dem
Christentum und in gewissem Maße im Austausch mit ihm.«
Damit aber bekommt für die Bewegung der Gnosis ein historisches Datum
Bedeutung, das für das Römische Reich insgesamt von großer und nachhaltiger
Wirkung ist und auch in Schriften des Neuen Testaments seinen Niederschlag
findet: der Untergang der römischen Republik und die Errichtung einer
kaiserlichen Militärdiktatur unter Oktavian. 31 ante Christum natum
reichsrömischer Alleinherrscher, läßt er sich bereits vier Jahre später als
der »göttliche Kaiser Augustus« verehren und verfügt schließlich über eine
Macht, die selbst die des »göttlichen Alexander« weit überbietet. Folgenreich
ist diese Entwicklung für das Imperium Romanum nicht nur darin, daß die
soziale Hierarchie des Weltreiches durch das Kaiserhaus nun eine absolute
Klimax erhält, die »die Positionen und Funktionen einzelner sozialer Schichten
teilweise neu definiert«.
Folgenreich ist vor allem auch, daß »das als ›römisch‹ zu bezeichnende soziale
Modell praktisch im ganzen Weltreich« durchgesetzt und »auch auf die
Bevölkerung der Provinzen übertragen« wird.
Damit aber verschärfen sich die Widersprüche zwischen dem nunmehr allmächtigen
Rom und seinen weitgehend gleichgeschalteten Kolonien und führen in letzteren
zu einer Radikalisierung widerständiger Bewegungen.
Dieser Widerstand bricht nicht nur in
bewaffneten Aufständen aus - wie dem Jüdischen Krieg, der 70 n.Chr. mit der
Zerstörung des Jerusalemer Tempels endet. Er findet seinen Ausdruck auch in
einer spezifischen Widerstandsliteratur - wie der Apokalyptik, die in der
Gestalt der neutestamentlichen Johannes-Apokalypse eine dezidiert
antirömische Auseinandersetzung führt.
Und er bringt sich in einer Weltanschauung zur Sprache, in der die Verwerfung
der römischen Welt definitiv vollzogen wird in einer grundsätzlichen
Verwerfung der Welt überhaupt - wie eben bei den Gnostikern, deren
Weltverständnis so radikal negativ ist, daß die Welt und mit ihr also auch das
römische Weltreich nur noch als »Reich der Finsternis« gesehen wird.
Die sich im 1. Jahrhundert n.Chr. etablierende
und alsbald im gesamten Imperium Romanum ausbreitende gnostische Bewegung
umfaßt eine Vielzahl von kleineren und größeren Gemeinschaften, deren
Begründer bzw. Wortführer aus Texten ihrer frühchristlichen Gegner z.T. auch
namentlich bekannt sind - wie etwa Simon (Magus), Satornil, Basilides,
Karpokrates, Kerinth und Kerdon.
Dabei sind die Grenzen zwischen Christen und Gnostikern, zwischen der sog.
»christlichen« und der sog. »paganen« Gnosis fließend, und noch heute gibt
ihre genaue Verhältnisbestimmung zahlreiche Probleme auf,
zumal gnostisches Denken ebenso wie die Auseinandersetzung mit der Gnosis
bereits im Neuen Testament nachweisbar ist. Jedenfalls ist der Kampf der
»antignostischen Väter« Irenäus, Tertullian und Hippolyt gegen die
»gnostischen Häretiker« eine rein »innerkirchliche« Auseinandersetzung, die
schon früher zu Exkommunikationen, wie die des einflußreichen Gnostikers
Valentinus,
führt und sogar zur Gründung einer eigenen christlichen »Gegenkirche« durch
den Gnostiker Marcion, die im Osten immerhin bis ins 6. Jh. hinein Bestand hat.
Ein synkretistisches Christentum findet sich schließlich auch in den
koptisch-gnostischen Nag-Hamadi-Schriften, unter denen wiederum und
vielleicht auch bezeichnenderweise relativ viele Apokalypsen sind.
Demgegenüber findet sich in den gnostischen Teilen des Corpus
Hermeticum aus dem 2. bzw. 3. Jh. so gut wie kein Einfluß christlicher
Traditionen, was auch insofern von Bedeutung ist, als es belegt, »daß Gnosis
minus Christentum nichtsdestoweniger Gnosis ist und bleibt«.
Die gnostische Mythologie der Mandäer ist sogar dezidiert
antichristlich und läßt den »falschen Propheten« Jesus zum Sohn einer Dämonin
werden,
während Jesus im Manichäismus wiederum göttliche Hoheitstitel erhält.
Entscheidend ist für das Verständnis der
Gnosis aber nicht die Frage nach ihrer komplizierten Beziehung zu dem sich
entwickelnden Christentum, entscheidend ist hier vielmehr die Frage nach der
sich in den gnostischen Systemen artikulierenden Ideologie. Und diese Systeme
sind erstaunlicherweise so homogen, daß sie auf die sie bestimmende Ideologie
durchaus auch Rückschlüsse zulassen. Keine »Religion wirkt verwirrender in
ihren Erscheinungsformen, keine Religion aber auch ist einfacher und monotoner
in ihren Hauptmomenten als gerade die Gnosis«.
Das gnostische Drama
Der Stoa ist alles Dramatische fremd; denn
der Stoiker hält sich von jeglicher Aufregung fern. Und wo er ihr nicht
ausweichen kann, da sieht er von ihr ab oder umhüllt sie mit dem Mantel der
Harmonie. Die sich mit der hellenistischen Globalisierung dramatisch
zuspitzenden sozialen und politischen und kulturellen und auch ethnischen
Widersprüche und Konflikte werden in der Stoa kategorisch ignoriert oder
harmonisch interpretiert. In der Gnosis hingegen ist alles dramatisch, denn
Harmonie kennen die Gnostiker nur in einer eschatologischen Perspektive. Und
die geht auf ein Jenseits dieser Welt. Sie muß auch auf ein Jenseits
gehen, weil diese Welt ein dämonischer Ort des Elends ist. Und dafür
gibt es Gründe, die erkannt werden müssen, wie eben auch in jener
eschatologischen Perspektive erkannt werden muß, wo für den Menschen
die allein mögliche Rettung zu finden ist.
Erkenntnis, gnosis - das ist für
die Gnostiker der alles entscheidende Existenzvorgang, in dem die Erlösung von
und aus dieser Welt beschlossen liegt. Sie selbst nennen sich denn auch bewußt
γνωστικοί, Erkennende, auch um ihrer Gewißheit Ausdruck zu
geben, zu den Erlösten gehören zu dürfen. Diese Erlösung vollzieht sich im
Rahmen eines gigantischen Weltendramas, das zu erkennen zur Erlösung selbst
gehört.
Dieses Drama findet bei den einzelnen
Gnostikern sehr unterschiedliche Entfaltungen. Anzahl und Namen und Rollen der
in ihm (mit)wirkenden göttlichen und widergöttlichen Mächte und Gestalten
ändern sich vielfach,
doch das Sujet bleibt bei allen dasselbe und provoziert mit der blasphemischen
These, daß diese Welt unmöglich die Schöpfung eines guten Gottes sei; daß der
Mensch, d.h. seine unkörperliche und also unweltliche Seele, in dieser Welt
nicht nur keine Heimat habe, sondern eigentlich auch gar nicht in dieses Reich
der Finsternis, sondern in ein Reich des Lichtes gehöre; und daß ein wirklich
guter Gott den Menschen aus diesem seinem Gefängnis durch einen Erlöser nur
befreien könne.
Natürlich sind die Gnostiker dabei nun auch
mit der hintergründigen Frage befaßt, wie es denn überhaupt zu einer solchen
für den Menschen unwürdigen Situation kommen konnte. Simon (Magus), der schon
in der Apostelgeschichte (8,9ff.) Erwähnung findet, trägt nach dem Bericht des
Irenäus,
der ihm nachsagt, der »Initiator« der Bewegung zu sein, folgende Gnosis
vor:
Der (gute) Vater des Alls, die »höchste
Kraft«, erzeugte »die Erste Ennoia (Gedanke) seines Geistes, die Mutter von
allen, durch die er am Anfang in seinem Geiste den Plan gefaßt hatte, Engel
und Erzengel zu erschaffen. Denn diese Ennoia trat aus ihm hervor, und da sie
erkannte, was ihr Vater wollte, stieg sie zu den untersten Gegenden (ad
inferiora) hinab und erzeugte Engel und Mächte, von denen ... auch diese Welt
gemacht wurde. Nachdem sie aber diese erzeugt hatte, wurde sie von ihnen
festgehalten aus Neid, weil sie ja nicht für die Nachkommen irgend jemandes
gelten wollten.« Sie »fügten ihr jegliche Schmach zu, damit sie nicht hinauf
zu ihrem Vater zurückeile, und dies ging so weit, daß sie sogar in einen
menschlichen Körper eingeschlossen wurde und durch Jahrhunderte, gleichsam von
Gefäß zu Gefäß, in immer andere weibliche Körper wanderte.« Sie »ging von
einem Körper in den anderen über und erlitt dadurch immer Schmach. Zuletzt
gelangte sie sogar in ein Bordell (in fornice prostitisse)«. »Deshalb kam auch
er (scil. der Vatergott) selbst, um sie ... von den Fesseln zu befreien, aber
auch um den Menschen das Heil zu bringen (salutem praestaret), dadurch, daß
sie ihn (scil. in dem Simon) erkennen. Die Engel regierten die Welt schlecht,
weil jeder von ihnen die Vorherrschaft begehrte.« »Darum sollen jene, die auf
ihn ... ihre Hoffnung gründen, fürderhin sich nicht um jene (Engel) kümmern,
sondern als freie Menschen« leben. »Deshalb, so versprach er, werde auch die
Welt aufgelöst, und jene, die ihm zugehören, würden von der Gewalt der
Weltschöpfer befreit.«
So ähnlich spielt sich das Weltendrama
auch in den anderen gnostischen »Systemen« ab, z.T. mit noch stärkerer
Betonung des Dualistischen und Antagonistischen - wie bei Marcion, dessen
böser Weltschöpfer als Demiurg nicht einmal eine Emanation des
guten unbekannten Gottes ist, sondern ein »Gegengott«, womit auch der
vom Demiurgen geschaffene Mensch von Hause aus nun nicht einmal mit
seiner Seele dem Reich des ihn dennoch vom Demiurgen befreienden
fremden guten Gottes angehört.
Auch wenn andere »Systeme« eine noch weit
verwickeltere Mythologie und Emanationstheorie entfalten, keinem der Gnostiker
geht es lediglich um mythische Spekulation. Dafür sind die sich metaphorisch
spiegelnden Konkretionen und Adversionen viel zu deutlich, und Simon (Magus)
macht die Ennoia ja auch ganz bewußt zu einem Prototyp für jene Frau,
der die Welt zur Hölle geworden ist. Der Gnosis geht es im Mythischen um den
Menschen - und zwar um den unglücklichen, den erniedrigten und beleidigten.
»Wer hat mich in das Leid der Welt geworfen, wer mich in die böse Finsternis
versetzt?«
Das ist die eigentliche Frage der Gnosis, und ihr eigentliches Gewicht erhält
diese Frage dadurch, daß sie gestellt und dann auch beantwortet wird in einem
Zusammenhang, der nicht mythisch abstrakt und abstrakt existential bleibt,
sondern einen konkret geschichtlichen, mithin also auch einen politischen und
sozialen Horizont hat.
In diesen Zusammenhang gehört ganz unmittelbar
die hartnäckige und nur vordergründig verstiegen wirkende Suche der Gnostiker
nach einer Antwort auf die entscheidende Vor-Frage, warum denn nun diese Welt
überhaupt mehr einer Hölle als einem Himmel gleicht. Unde malum
- den Stoikern ist das kein Problem. Für sie ist das Böse nur eine Frage der
Einstellung. Im Grunde ist für sie alles gut. Den Gnostikern hingegen ist im
Grunde alles ein Übel. Und in dieser Generalisierung des Negativen steckt die
eigentliche Antithese, mit der die Gnosis bewußt und ausdrücklich gerade auch
die Stoa bekämpft.
Schon Hans Jonas weist auf diese Frontstellung
hin,
doch erst von Takashi Onuki wird sie an einem Text detailliert dargestellt.
Der Befund seiner Untersuchung zum
koptisch-gnostischen Apokryphon des Johannes (AJ) ist eindrücklich,
denn er belegt vor allem auch, wie umfassend sich die Gnosis mit der Stoa
auseinandersetzt. Onuki zeigt das an einer mehrfachen Polemik: 1. gegen den
stoischen Erkenntnisakt, der für den (die) Gnostiker des AJ nicht durch den
»göttlichen Teil seiner Seele, sondern durch dämonische Kräfte beherrscht
wird«;
2. gegen die auf Aristoteles zurückgehende Lehre von den verschiedenen
Qualitäten und Mischungsverhältnissen der Materie (Feuer, Luft, Wasser, Erde;
warm, kalt, feucht, trocken etc.), die für die Stoa mit dem gestaltenden
Wirken des göttlichen Logos, für den Gnostiker aber mit der unheilvollen Macht
von Dämonen verbunden sind;
3. in der Auseinandersetzung mit dem stoischen Verständnis der Affekte, die
für den Gnostiker nicht nur Defizite sind, sondern dämonische Laster;
4. gegen die stoische Kosmologie, in der die Gestirne mit dem theos
letztlich identische Gottheiten sind, was der Gnostiker zurückweist, weil die
Gestirne zwar das Feuer, nicht aber den Funken des göttlichen Lichtes haben;
5. gegen die stoische Psychologie, der der Gnostiker bestreitet, daß die
Planeten(götter) dem Menschen mehr als nur niedrige Fähigkeiten vermitteln
können;
6. gegen die stoische Anthropologie, in der die Seele als das den Körper des
Menschen Bewegende letztlich weltimmanent gedacht wird, wogegen der Gnostiker
einwendet, daß das Bewegende transzendenter Natur sei;
7. schließlich und vornehmlich auch gegen die stoische Vorsehungslehre, und
zwar dergestalt, daß der Gnostiker die Einheit von Pronoia und
Heimarmene zerbricht und in einen prinzipiellen Dualismus führt, der die
Heimarmene dämonisch degradiert und zur Folge hat, daß sie nunmehr »die
Unbeständigkeit der materiellen Welt schlechthin vertritt«.
Es ist insbesondere die stoischen
Vorsehungslehre, die für die Gnosis völlig inakzeptabel ist. Und mit der
dualistischen Trennung von Pronoia und Heimarmene
kehrt sie die Anschauung der Stoa auch insofern in ihr Gegenteil, als sie den
absolut positiven nunmehr mit einem absolut negativen Determinismus
konfrontiert. Mit demselben Recht, mit dem da behauptet wird, alles sei gut,
läßt sich auch sagen: alles ist schlecht. Aber es geht der Gnosis nicht
nur um eine kontradiktorische These, es geht ihr, wie ja auch der Stoa, um die
Implikationen und Tragweiten ihrer These, die also als solche, wie in der Stoa
auch, nicht Ziel, sondern weltanschauliche Voraussetzung für ein Denken ist,
das sich in einer Krise ideologisch zu bewähren versucht.
Bezeichnenderweise geschieht dies in der Stoa
ebenso wie in der Gnosis im Rahmen einer universalen Perspektive, die jeweils
Ausdruck einer globalen Herausforderung ist. Doch während die Stoa auf die
griechische Globalisierung mit einem umfassenden und radikalen
Akkommodationsprogramm reagiert, das seine Funktionsfähigkeit auch noch im
Imperium Romanum zeigt, antwortet die Gnosis auf die imperialistische
Globalisierung des Römischen Reiches mit einer ebenso umfassenden und
radikalen Verweigerungtheorie, die schon als solche den Charakter des
Widerständigen trägt.
Gnostiker sind keine guten Staatsbürger. Viele
weigern sich, Kinder in diese Welt zu setzen. Weil sie das Elend nicht noch
vermehren wollen, leben sie asketisch oder treiben ab.
Manche propagieren und leben sogar den Kommunismus, den sie mit dem Prinzip
der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη)
in Gemeinschaft und Gleichheit (κοινωνία μεθ' ήσότητος) begründen.
Andere rühmen sich, an keine von Menschen gemachten Gesetz gebunden zu sein,
und halten auch religiöse Vorschriften für problematisch.
Allen gemeinsam aber ist, daß ihre Verneinung dieser Welt nicht in einem
bloßen Pessimismus steckenbleibt, sondern zum Angriff auf eine Welt wird, die
sie für hoffnungslos verdorben halten. »Wer die Welt erkannt hat, hat einen
Leichnam gefunden«.
Jonas spricht denn auch zu Recht von der
»revolutionären« Gnosis,
auch wenn er dabei nun seinerseits den Begriff des Revolutionären betont
akosmisch zu fassen versucht. Doch die »Revolution« der Gnostiker ist so
akosmisch gar nicht, denn mit ihrer Entzauberung der Welt, mit dem Sturz der
»bekannten Götter« stürzen sie zugleich einen der bekanntesten und nun
wirklich auch mächtigsten Gottheiten ihrer Zeit: den römischen Kaiser.
Seitdem der sich in die Nachfolge seines
griechisch-makedonischen Vorgängers Alexander begeben und sich gleich ihm zum
»Gottessohn« hat erklären lassen, ist ein Widerspruch gegen Rom ein Sakrileg.
Doch die Gnostiker begehen ständig Sakrilege und scheuen keine Blasphemie. Und
indem sie die gesamte herrschende Götterwelt abschaffen und zu Archonten und
Demiurgen degradieren, delegitimieren sie die Herrschaft des Imperium Romanum
in einer nicht mehr zu überbietenden Radikalität.
Verständlich wird diese Radikalität vor dem
Hintergrund des reichsrömischen Kaiserkultes, der die politische
Herrschaftsfunktion hat, das Weltreich religiös-ideologisch zu einen, und
deshalb auch ständig ausgebaut und mit Tempeln und Priestern in den letzten
Winkel der »Provinzen« getragen wird. Seit »Augustus«, amtlich bestätigt, in
den Himmel aufgefahren ist, ist die Cäsarenapotheose eine Institution -
dominus et deus noster. Ein solches dominium aber stellt man nicht
mit Kritik in Frage. Es läßt sich nur in seinen Fundamenten erschüttern, und
die Gnostiker erschüttern diese religiösen Fundamente nicht nur, sie zerstören
sie in ihrer religiösen Substanz.
Es ist schon erstaunlich, daß Hans Jonas diese
Dimension der gnostischen »Auflehnung« und »Rebellion«
nicht einmal in Erwägung zieht, sondern fest entschlossen ist, den
religionsgeschichtlichen Rahmen nicht zu verlassen. Damit aber geht auch eine
zweite Dimension der gnostischen Umwertung verloren. Es trifft ja zu: In der
Gnosis vollzieht sich »die weltgeschichtliche Ablösung der alten und mächtigen
Vaterreligionen durch die Sohnesreligionen«, »der ›Mensch‹ oder der ›Sohn des
Menschen‹ wird über die alten Götter erhoben und selber zum höchsten Gott oder
zum Zentrum der Heilsreligion«.
Doch genau dieses bedeutet nun auch und gleichermaßen nicht nur eine radikale
Emanzipierung, sondern auch eine ›religiöse Demokratisierung‹, deren
polemische Spitze politisch durchaus erkennbar ist. Wenn es zum Privileg
römischer Cäsarenherrschaft gehört, in den Götterhimmel aufsteigen zu dürfen,
dann wird dieses Privileg und mit ihm die Herrschaft der Cäsaren wiederum
radikal in Frage gestellt, wenn die Gnosis nun diese besondere
Herrscher-Apotheose mit ihrer allgemeinen Menschen-Vergöttlichung
konfrontiert. Auch wenn nicht ausnahmslos jeder ein Gnostiker sein oder
werden kann, für die Gnosis ist Vergöttlichung jedenfalls kein Privileg
römischer Kaiser. Im Gegenteil. Der Kaiser schafft es ohnehin nur bis zu Zeus,
und der ist gar kein richtiger Gott und schon gar nicht ein guter. Und das
heißt zugleich: Wenn alles Elend dieser Welt der Unfähigkeit und Bosheit
schlechter Götter geschuldet ist, dann trägt im Prinzip Verantwortung dafür
auch der »göttlichen Kaiser«.
Es gibt wohl kaum eine größere ideologischen
Kluft als die zwischen dem Herrschaftsanspruch des Imperium Romanum und dem
Widerspruch der Gnosis gegen eine Welt, die die Gnostiker gerade unter dieser
Herrschaft für verloren halten. Gemessen an dem Gewicht dieser globalen
Konfrontation und fundamentalen Opposition kann die Frage nach der sozialen
Einordnung der Gnostiker durchaus in den Hintergrund treten, zumal es die
Quellenlage ohnehin schwer macht, hier gesicherte Aussagen zu treffen.
Um so spannender ist dafür nun aber eine ganz andere Frage, nämlich die nach
den ideologischen Hintergründen für die Bekämpfung der Gnosis durch die sich
dezidiert antignostisch verstehenden Theologen und (Amts-)Träger der frühen
christlichen Kirche, die sich in ihrer Entwicklung immer mehr der Stoa
annähert und schließlich dort zu finden ist, wo sie neben Stoa und Gnosis,
gleichwohl mit beiden auf unterschiedliche Weise bleibend verbunden, einen Weg
beschreitet, der in seinen reformistischen Konturen den Charakter eines
›Dritten Weges‹ trägt. Doch das ist ein Thema für einen anderen Aufsatz.
Diogenes
Laertius VI 63, in der Übersetzung von O. Apelt, Leben und Meinungen
berühmter Philosophen, 1921.
Seit A.
Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa, 1892, hat sich
allgemein durchgesetzt, von der ›frühen‹, ›mittleren‹ und ›späten Stoa‹ zu
sprechen, wobei dann zur ›späten‹ im wesentlichen nur noch die ›römische
Stoa‹ gerechnet wird.
Noch immer
eine der wichtigsten Sammlungen: Stoicorum Veterum Fragmenta I-III,
hg. von J. Arnim, 1903-1905, IV (Indices), hg. von M. Adler, 1924,
21964 (= SVF). Vgl. auch:
K. Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung
der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren, 4 Bde., 1987f. Für
die ›römische Stoa‹ ist die Quellenlage zwar kompakter, doch dafür sind
die Texte nicht mehr ganz so interessant, denn das Interesse der Römer
zielt fast nur noch auf die Ethik.
SVF II
1170: Die Natur hat so vieles und soviel Herrliches und Großes
hervorgebracht, da ist unvermeidbar (κατὰ παρακολούθησιν) manches halt nicht so ganz gelungen.
Zu Dieter Krafts Beitrag: Stoa und
Gnosis
[in: Topos 16,
Neapel 2000, S. 151-154]
Lieber
Herr Kraft,
Ihr
Aufsatz über Stoa und Gnosis wirft manche Fragen auf. Lassen Sie mich
zuerst die Übereinstimmung feststellen. Was Sie über die ideologische
Funktion der Stoa sagen, scheint mir zutreffend und gut belegbar zu
sein; unter den Bedingungen der hellenistischen »Globalisierung«
befriedigte sie die von Ihnen herausgearbeiteten weltanschaulichen
Bedürfnisse, wenn auch Varianten oder vielleicht »Fraktionen« unter den
Stoikern noch unterschieden werden müssen. Der Bedeutung der ethischen
Strenge scheinen Sie zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken - aber das
beeinträchtigt die Richtigkeit Ihrer Einschätzung nicht. Ich kann Ihnen
auch zustimmen, daß die Gnosis eine Verweigerungsideologie ist; ob darin
durchgängig auch der Protest gegen die römische civitas terrena
enthalten ist, lasse ich dahingestellt. Die große Vielfalt gnostischer
Strömungen macht Verallgemeinerungen schwer, und ich lese nicht alle
gnostischen Texte so politisch rebellisch wie Sie. Wohl
aber leuchtet mir die Konfrontation ein, die Sie vollziehen. »Während
die Stoa auf die griechische Globalisierung mit einem umfassenden und
radikalen Akkommodationsprogramm reagiert, ... antwortet die Gnosis auf
die imperialistische Globalisierung des Römischen Reichs mit einer
ebenso umfassenden und radikalen Verweigerungstheorie« (S. 29).
Nun aber
sind Stoa und Gnosis ja nicht einfach zwei spätantike
Weltanschauungsströmungen; und Sie haben Ihre Konfrontation ja auch
nicht aus antiquarisch-historischem Interesse vorgenommen, sondern um an
ihr typische Haltungen in einer politischen Krise zu charakterisieren,
die durch imperiale Expansion und daraus folgend durch die Zerstörung
der Bürger-Polis hervorgerufen wird. Diese typologische
Verallgemeinerung ist geschichtsphilosophisch legitim. Hegel hat in der
»Phänomenologie des Geistes« den Stoizismus als ein solches Grundmuster
des Selbstbewußtseins dargestellt, Eric Voegelin hat Ähnliches (mit
anderen Bewertungsperspektiven) für die Gnosis getan.
Die
Differenz des historischen Ortes dieser beiden generalisierenden
Adaptationen ist aufschlußreich. Für Hegel gewinnt die Stoa im
Zusammenhang mit der französischen Revolution die Bedeutung einer
weltanschaulichen Grundkonstellation (neben Skeptizismus und
unglücklichem Bewußtsein); Voegelin entdeckt die Gnosis in der Periode
des Imperialismus (als dem höchsten Stadium des Kapitalismus). Das mag
als ein Hinweis darauf genommen werden, daß die ideologischen Funktionen
von Stoa und Gnosis in ihrer Wiederbelebung als Neustoizismus (im 17.
und 18. Jahrhundert) und als neue Gnosis (im 19. und 20. Jahrhundert)
auseinandertreten und sich verändern. Stoizismus und Gnostizismus stehen
nun nicht mehr in korrelativer Antithese von Anpassung und Verweigerung.
Wenn sie aber in anderen Kontexten andere Funktionen bekommen, so muß
doch der Sachgehalt, aus dem die veränderte Funktion sich begründet,
schon in der ursprünglichen Theorie angelegt gewesen sein. Und da sehe
ich ein Problem, das den Geltungscharakter von Philosophien betrifft.
Beginnen
wir mit der Stoa. Seit dem 17. Jahrhundert wird der Stoizismus zum
weltanschaulichen Orientierungsrahmen der aufsteigenden bürgerlichen
Klasse. Republikanisch-römische Bürgertugenden stehen dabei im
Vordergrund; daß sie sich mit christlichen Traditionen (insbesondere bei
den lateinischen Kirchenvätern) verbinden lassen, erleichtert die
ideologische Aneignung, aber im Kern ist der frühbürgerliche Stoizismus
laizistisch und antifeudalistisch. Von Justus Lipsius, der nicht nur die
Stoiker edierte, sondern mit seinem Werk »De constantia« (1584) ihre
Lehren in die politische Welt der beginnenden Neuzeit transformierte,
bis zu Dieterich Tiedemann, dessen »System der stoischen Philosophie«
(1776) das Bild der Stoa für die klassische Periode der Philosophie um
1800 fixierte, war der Neustoizismus ein wesentliches ideologisches
Element bei der Formierung der bürgerlichen Klasse als Klasse. Daß der
Mensch kraft seiner Fähigkeit, durch Vernunft tugendhaft zu werden,
gleichsam zum Gott gemacht wurde, hat Tiedemann ausdrücklich
hervorgehoben; daß das Unvernünftige der Affekte als ein Moment der
universellen Vernunft begriffen werden müsse und beherrscht werden
könne, wird zur gesellschaftlichen Verhaltensnorm. Vernunft, Disziplin,
Tatkraft, Beständigkeit sind Leitwerte, die die Produktionsverhältnisse
des sich ausbildenden Kapitalismus bestimmen. Wer die Reden von
Robespierre und St. Just liest, findet sie durchtränkt vom
Aufklärungsstoizismus, der eine progressive (und keineswegs
affirmativ-anpasserische) Haltung fördert.
Nun aber
die Gnosis. Als »politische Gnosis«, wie Voegelin sie interpretiert hat,
wäre sie das geheime Zentrum aller revolutionären Bewegungen, die
satanische Antithese zur göttlichen Ordnung. Das käme der Auffassung der
Verweigerung als Widerstand sehr nahe (wenn auch bei Voegelin mit der
entgegengesetzten politischen Intention als bei Ihnen). Aber ist das
wirklich so? Ist nicht seit der Zeit um 1800, als in der Romantik der
Umschlag zu antirevolutionären, konterrevolutionären Einstellungen
vollzogen wurde - zum Beispiel bei Friedrich Schlegel, um nur einen
Protagonisten zu nennen - die Wiederaufnahme gnostischer Motive gerade
gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtet? Die
Verweigerungshaltung gegenüber dem Welttreiben und der weltlichen
Politik manifestiert die Ablehnung von bürgerlicher Demokratie, von
revolutionärer Arbeiterbewegung, von gesellschaftlichem Engagement und
Klassenkampf. Es geht um die Rettung der eigenen individuellen Seele, um
die »Reinheit« der Gedanken, um Erleuchtung durch eine jenseitige
Wahrheit. Die Abwendung von »moderner« Politik wird faktisch zur
passiven Akzeptanz oder auch zur aktiven Unterstützung der
reaktionärsten politischen Strömungen bis hin zum Nationalsozialismus,
wie das Beispiel von C.G. Jung zeigt. Der Neugnostizismus ist eine der
prägnantesten Tendenzen im Prozeß der »Zerstörung der Vernunft«.
Verinnerlichung ist hier keine Verweigerung, sondern eine Strategie, die
eigene politische Entmündigung durch die herrschende Klasse unter dem
Signum der Spiritualisierung affirmativ hinzunehmen und im System der
Herrschaftsverhältnisse eine stabilisierende Rolle zu spielen.
Welches
Verkehrungspotential liegt - lag von Anfang an - in diesen beiden
Weltanschauungen, so daß der Rollenwechsel möglich wurde ? Ich meine das
nicht rezeptionsgeschichtlich, sondern systematisch. Die
Anpassungsideologie enthielt offenbar eine wesentliche Intention auf
menschliche Autonomie, also Freiheit, die in anderen gesellschaftlichen
Zusammenhängen dominant werden konnte; und die Verweigerungsideologie
barg in sich eine Akkomodationskomponente. Ohne Ihre, wie mir scheint
korrekte, Darstellung des ideologietheoretischen Befundes für die
Spätantike zu bestreiten, kehrt sich im Hinblick auf den systematischen
Gehalt der beiden Philosophien ihr Verhältnis um. Wenn diese Beobachtung
richtig ist, so müßte in der Philosophiehistorie eine spezifische (und
nicht beliebige) Differenz zwischen dem Geltungscharakter eines
Philosophems (d.h. seiner historisch relativen Wahrheit) und seiner
handlungssteuernden Funktion (d.h. seiner Wirkungsweise an einer
bestimmten Zeitstelle) unterschieden werden. Die genaue Bestimmung der
allgemeinen Konstitutionsbedingungen dieser Differenz wäre dann eine
vordringliche Aufgabe der Ideologietheorie.
Herzlich Ihr Hans Heinz Holz
Eine Replik
[in: Topos 16, Neapel 2000, S. 155-159]
Lieber
Herr Holz,
Typologien sind natürlich immer angreifbar, denn sie nivellieren mit
Vorsatz die Differenz der »Varianten« und »Fraktionen«. Und
selbstverständlich gibt es solche in der Stoa ebenso wie in der Gnosis.
Wie jede (geistes)geschichtliche Bewegung sind auch sie ein Konglomerat
von Varianten und Fraktionen, weil letztlich jede Erscheinung und also
auch jede (geistes)geschichtliche nur in Variablen existiert. Das ist ja
denn auch die unerschöpfliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für jene
Historiker, die sich mit dem Sammeln, Etikettieren und Vergleichen von
Varianten begnügen. Lehrreich kann das allemal werden, gerade auch als
Voraussetzung für eine typologische Perspektive. Jedenfalls gilt es im
Wissenschaftsbetrieb als eine ehrenwerte Arbeit, die auf Anerkennung,
Beifall und Lehrstühle hoffen darf.
Typologien hingegen werden von übergreifenden Fragestellungen bestimmt;
und so bleiben sie generell erst einmal suspekt - allerdings nur
solange, bis sich herausstellt, daß das sie leitende Interesse sehr wohl
und gleichermaßen Anerkennung, Beifall und Lehrstühle verdient.
Da aber
sind dann auch schon geschichtliche und also politische Optionen im
Spiel, die antagonistisch werden können - wie etwa Blochs Typologie von
»Freiheit und Ordnung« und Poppers Typologie der »offenen und
geschlossenen Gesellschaft«.
Letztere
könnte zwar dazu verführen, von Typologien lieber grundsätzlich Abstand
zu nehmen, aber soviel Wirkungsgeschichte darf einem Popper natürlich
nicht eingeräumt werden. Schließlich ist die Typologie eine fundamentale
Kategorie jeder Erkenntnis. Ich meine, sie ist nicht nur, wie Sie sagen,
»geschichtsphilosophisch legitim«, sie ist vielmehr eine
Grundvoraussetzung des Denkens überhaupt, das eigentlich doch erst mit
der typologischen Verallgemeinerung von Zusammenhängen (in der Natur
ebenso wie in der Geschichte) anhebt - ohne sich in ihr zu erschöpfen.
Denn Typologien sind statisch. Sie bedienen die Anschauung mit
›Bildern‹, die als Segmente eines übergreifenden Ganzen gesehen werden
müssen. Weil sich das ›Ganze‹ der Anschauung entzieht, werden die
Segmente zum beziehungsvollen Fundus einer Vorstellung, in der sich die
bloße Beziehung zur Bewegung und die bloße Bewegung als Beziehung
entwickelt - die Voraussetzung dafür, schließlich sogar begreifen zu
können, daß auch Typologien, aufs ›Ganze‹ gesehen, gar nicht nur
statisch sind.
Doch
darüber würden wir uns wahrscheinlich ebenso schnell verständigen können
wie über die Frage nach den allen Typologien eignenden Voraussetzungen.
Ich habe sehr bewußt und mit Vorsatz von »typologischen
Aspekten« gesprochen, weil ich durchaus nicht in Abrede stelle, daß
in Stoa und Gnosis neben den von mir fokussierten durchaus auch andere
Aspekte zur Geltung gebracht werden könnten. Aber: auch über deren
Ansatz entscheiden die sehr vielfältigen und unterschiedlichen
geschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen, sozialen und
natürlichen Zusammenhängen, innerhalb derer dieser Ansatz gewonnen wird.
Und so bleibt natürlich jede Typologie voraussetzungsvoll, weshalb denn
ja auch die radikale Kritik an einer Typologie immer auch eine radikale
Kritik ihrer Voraussetzungen ist - und eine dezidierte Widerlegung
eigentlich auf deren Überwindung zielt.
Ganz
offensichtlich geht es Ihnen, lieber Herr Holz, um letzteres nun ganz
und gar nicht. Um so unbefangener kann ich meinerseits kontrovers werden
und sagen, daß ich einige Ihrer Einschätzungen nicht zu teilen vermag.
Sie
sprechen von der »ethischen Strenge«, die ich bei der Stoa nicht
hinlänglich berücksichtigt hätte. Und ich frage mich, ob dieser Begriff
überhaupt angemessen ist, zumal ich auch nicht ganz sicher bin, was Sie
mit dieser ideologieindifferenten Kategorie zum Ausdruck gebracht wissen
wollen. Es ist ja richtig, die Ethik spielt für die Stoa eine
entscheidende Rolle. Sie ist geradezu die anthropologische Korrelation
zu der theo-logologischen Ontologie. Aber genau das ist nun auch das
Problem, denn die »Strenge« dieser Ethik gründet nicht in einem
moralischen Imperativ, sondern in einem ontologischen Indikativ. Das hat
zur Folge, daß der Sphäre der Sozialität keine autonome Dignität zukommt
- selbst dort nicht, wo die Stoiker - und durchaus auch eindrucksvoll -
von der humanitas sprechen. Denn letztlich bleibt die Würde
des Menschen abgeleitet. Sie kommt ihm zu als dem Teil eines Ganzen, das
als solches gewürdigt zu werden verdient, weil es vom
göttlichen Logos durchdrungen ist. Richtig ist, daß der Mensch in
diesem Ganzen einen besonderen Platz einnehmen darf. Den aber verdankt
er wiederum nur dem Logos, insofern der menschliche
Nous an diesem auf besondere Weise partizipiert - und auf
ganz besondere Weise eben der »Weise«. Damit im Zusammenhang steht das
für die Stoa typische Gefälle der Ethik, deren inneres Interesse nicht
auf Menschenfreundlichkeit zielt, sondern auf Selbsterhaltung, zu der
nun allerdings die Menschenfreundlichkeit in eine funktionale Beziehung
tritt: Wer jederzeit damit rechnen muß, versklavt werden zu können, der
tut gut daran, auch im Sklaven einen Menschen zu sehen.
Natürlich
gibt es keine von sozio-kulturellen Faktoren unabhängige Entwicklung
ethischen Bewußtseins. Und ich habe schon an anderer Stelle deutlich zu
machen versucht, daß der Begriff der Humanität in der Stoa »kein
ethischer Gipfelbegriff« ist, sondern aus den »Niederungen« eines
Weltreiches erwächst, in dem »die Frage nach dem Überleben des Einzelnen
Antwort nur findet unter notwendiger Berücksichtigung anderen Lebens«.
(Dieter Kraft, Ethik und Bildung. Erwägungen zur Perspektive
menschheitlichen Überlebens, in: Kommunität 1989, S. 10.)
Ich gebe
gerne zu, daß dieser funktionale Humanismus durchaus einen
Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der Ethik darstellt und eine
Stufe erreicht, hinter die die »globalisierte« kapitalistische
Gesellschaft mit ihrer ihr eignenden Menschenverachtung schon längst
wieder zurückzufallen beginnt. Aber eine im eigentlichen Sinne »ethische
Strenge« sehe ich hier ebensowenig wie eine »wesentliche Intention auf
menschliche Autonomie, also Freiheit, die in anderen gesellschaftlichen
Zusammenhängen dominant werden konnte«.
Auch
Hegel hat der Stoa die Idee der Freiheit abgesprochen, weil sie
lediglich ein konditioniertes Freiheitsverständnis entwickelt habe (G.W.F.
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse
[1830, 3. Teil, § 482], in: Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1986,
Bd. 10, S. 301).
Und sieht
man auf das Ganze des stoischen Systems, dann bleibt für »Freiheit« und
»Autonomie« tatsächlich auch gar kein Raum. Da alles vom Logos
besetzt und durchdrungen wird, da Pronoia
und Heimarmene alles ›planmäßig‹ verlaufen lassen und
Ordnung das Wesen des Kosmos ist, sind »Freiheit« und
»Autonomie« in dieser Systematik geradezu inkompatible Kategorien. Die
Eleutheria der Stoiker beschränkt sich auf das höchst
fragwürdige Bemühen, kategorisch jene Weltwirklichkeit auszublenden, die
zu der ›prästabilierten Harmonie‹ ihrer Weltanschauung in Widerspruch
steht. Und so ist denn auch die stoische Autarkie nicht mit
Autonomie, sondern eher mit Gleichgültigkeit
zu übersetzen, zumal die Stoa einen autos nomos
gar nicht kennt; denn der Nomos des Menschen ist der
Logos.
Damit bin
ich auch schon mitten in der gewichtigen Frage nach der neuzeitlichen
Wirkungsgeschichte von Stoa und Gnosis. Uneingeschränkt stimme ich der
These zu, daß »in der Philosophiehistorie eine spezifische ... Differenz
zwischen dem Geltungscharakter eines Philosophems ... und seiner
handlungssteuernden Funktion ... unterschieden werden« muß. Weit
zurückhaltender aber bin ich in der Annahme eines spezifischen
»Verkehrungspotentials«, das - in diesem Falle in Stoa und Gnosis - zu
einem »Rollenwechsel« geführt haben soll.
Für die
Stoa kann ich einen solchen grundsätzlichen Wechsel auch gar nicht
erkennen. Im Gegenteil. Stoa und Neostoizismus teilen beide
gleichermaßen die Herausforderung eines gravierenden gesellschaftlichen
und politischen Umbruchs. Beide stehen in Auseinandersetzung mit
Überkommenem; beide optieren für das Neue; beide liefern dem Neuen ein
ideologisches Legitimationssystem; beide formulieren die Grundsätze für
die Anpassung an eine geschichtlich unabweisbar gewordene Entwicklung.
Von einem Paradigmenwechsel kann da doch eigentlich gar keine Rede sein
- höchstens davon, daß natürlich ein Unterschied besteht und viele
Unterschiede bestehen zwischen dem neuzeitlichen Bürgertum und den
antiken Reichsherrschern. Aber welche sind in dem hier zu
berücksichtigenden Zusammenhang wesentlich und von entscheidender
Bedeutung? Das Frühbürgertum ist durchaus »progressiv«, aber auch die
griechisch-römische Globalisierung kann sich so manchen »Fortschritts«
rühmen - beide freilich immer nur gemessen an dem Vorangegangenen. Und
schaut man in den historischen Verlauf von Fortschritt und Progreß, kann
man sehen, daß auch die Verbrechen der einen denen der anderen nicht
nachstehen.
Die
Verhältnisbestimmung von Stoa und Neostoizismus läßt sich nicht ohne
weiteres auf die Gnosis und ihre Rezeptionsgeschichte übertragen. Im
Unterschied zum Neostoizismus, der, und ich stimme wieder völlig zu,
»ein wesentliches ideologisches Element bei der Formierung der
bürgerlichen Klasse als Klasse« gewesen ist, hat es einen der originären
Gnosis wirklich adäquaten »Neognostizismus« nie gegeben - es sei denn,
man versteht darunter z.B. die mittelalterliche »Ketzer«-Bewegung der
Katharer. Sehr wohl gab es eine reaktionäre Wiederbelebung »gnostischer
Motive«, aber an mehr als an Motiven konnte man auch gar
nicht anknüpfen. Und dafür gibt es Gründe.
Im
Unterschied zur Stoa setzt die Beschäftigung mit der Gnosis erst sehr
spät ein; und zunächst sind es Theologen, die sich in der Entwicklung
einer historisch-kritischen und dann auch einer religionsgeschichtlichen
Methodik des Themas annehmen. In Tübingen ist es Ferdinand Christian
Baur, der nach seinen Studien über das »manichäische Religionssystem«
(1831) auch ein erstes Werk über die »christliche Gnosis« (1835)
vorlegt; und die ersten exegetisch wirklich relevanten Arbeiten
erscheinen erst nach der Jahrhundertwende - Richard Reitzensteins »Poimandres«
1904, Wilhelm Boussets »Hauptprobleme der Gnosis« 1907. Damit aber ist
die Gnosis noch längst nicht historisch und gesellschaftlich und auch
nicht in ihrer ihr eignenden Systematik so umfassend und eindeutig
ausgeleuchtet, daß sich ein rezeptionssuffizientes ›Gnosis-Bild‹
erkennen ließe. Was tatsächlich rezipiert und ideologisch wirksam wird,
das ist nicht die Gnosis, das sind Fragmente
und Versatzstücke, die addiert und der sich archaisch,
individualistisch, existentialistisch und irrationalistisch formierenden
Ideologie des Imperialismus assimiliert werden.
Begünstigt wird die Möglichkeit zur Assimilation nicht zuletzt durch die
Vorstellung, als religiöse Bewegung mit einer besonderer Vorliebe für Mythologeme müsse die Gnosis betont jenseits des Politischen gestanden
haben, allein damit beschäftigt, die eigene Seele zu retten und den Weg
der Erlösung zu erkennen. Auch Hans Jonas bleibt ja dieser Vorstellung
verpflichtet, ohne die er, von Heidegger hoffnungslos fasziniert, seine
existentialphilosophische Gnosis-Interpretation gar nicht hätte
schreiben können.
Die
Spätantike aber kennt noch keine Dichotomie zwischen Religion und
Gesellschaft, zwischen Religiösem und Politischem; und auch zwischen
Philosophie und Theologie lassen sich Grenzen nur schwer bestimmen. Wer
von Gott und den Göttern spricht, der redet theologisch und
philosophisch und politisch in einem. Und wer religiös rebelliert, der
rebelliert damit natürlich auch politisch.
Bei
strikter Beachtung dieses Zusammenhanges hätte ein authentischer
»Neognostizismus« die Götter des Imperialismus zu böswilligen Demiurgen
erklären müssen.
Das
»Verkehrungspotential« sehe ich hier also an ganz anderer Stelle: nicht
in der Gnosis, sondern in ihrer fragwürdigen Interpretation. Bei der
ganz sicher notwendigen Unterscheidung zwischen dem »Geltungscharakter
eines Philosophems« und seiner »handlungssteuernden Funktion« und bei
der »Bestimmung der allgemeinen Konstitutionsbedingungen dieser
Differenz« darf eine solche interpretatorische Verkehrung auf keinen
Fall unberücksichtigt bleiben.
Herzlich Ihr Dieter Kraft
»Was erwarten wir
vom 21. Jahrhundert?«
[in: Topos 22, Neapel 2003, S.
141-151. Der
Vortrag wurde im Rahmen eines Symposions anläßlich des 75.
Geburtstages von Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer am 11. Juli 2002 in der
Berlin Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten. Das Symposion stand unter dem
Thema »Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert? Wissenschaft - Hoffnung -
Traum«.]
Meine
sehr verehrten Damen und Herren, lieber Uwe-Jens Heuer,
ein
Beitrag auf einem Jubiläums-Symposium darf mit einer eigenen
biographischen Reminiszenz beginnen. Es ist noch keine 75 Jahre her, da
nahm mich mein Staatsbürgerkundelehrer - ausnahmsweise einmal diskret -
zur Seite, um mir - wieder einmal - in mein politisches Gewissen zu
reden. Dieses hatte zu jener Zeit zwar schon eine gewisse Form, aber,
wie er - und wohl auch zu Recht - meinte, einen völlig verkorksten
katholischen Inhalt - was ich nun schon wieder einmal unter Beweis
gestellt hätte, nämlich im Fach »Literatur«. Alle anderen hätten sich in
dem Vortrag über ihren deutschen Lieblings-Dichter und -Denker auf
progressive, auf fortschrittliche Traditionen
eingelassen, nur ich hätte von diesem Rilke geschwärmt und völlig
unkritisch ein völlig verstaubtes Diktum zum Thema gemacht. »Wer spricht
von Siegen? Überstehn ist alles.«
So endet
Rilkes 1908 geschriebenes »Requiem« für den Grafen Wolf von Kalckreuth,
einen Selbstmörder (†1906). Gelesen 1965, in der deutschen Arbeiter- und
Bauern-Republik, klang dieser Satz tatsächlich höchst
ambivalent, um hier auch noch das mildere Urteil meines Sportlehrers
anzuführen, von dem ich allerdings wußte, daß er mich für seinen
Prestigeachter als Steuermann brauchte.
Wie
meistens, so hatte auch diese Ansprache meines Staatsbürgerkundelehrers
Folgen für mich. Doch in diesem Falle waren sie positiv, jedenfalls die
erste und unmittelbare, die darin bestand, daß ich mich jetzt genötigt
sah, für Rilke einen Bonus zu finden, der ihn - etwa neben einem Thomas
Mann - bestehen ließ. Das wurde mein Zugang zur Literatur, mit der ich
alsbald auch auf die Wolke der Zeugen stieß, die zu berichten wußten,
daß ihr Thomas Mann noch ein reaktionärer Monarchist war, als sich mein
Rilke bereits für die Ziele der Novemberrevolution begeisterte. Und die
wurden nicht erst 1918 formuliert.
Eine
zweite und ganz andere Folge stellte sich erst viele Jahre später ein,
als im November 1989 nun schon längst nicht mehr die Revolution, sondern
die Konterrevolution ihre Ziele erreichte.
»Wer
spricht von Siegen? Überstehn ist alles.« Die subkutane Langzeitwirkung
dieses Diktums, ins Politische konvertiert, setzte auf einmal eine
unheimliche Dialektik frei: Alles Zuverlässige konnte nun nur noch in
Negationen gedacht werden, ohne daß sich die Negation dieser neuen
Negation zuverlässig denken ließ. Solange wir vom Siegen gesprochen
hatten, um das Überstehen zu erlernen, und solange allein schon das
bloße Überstehen ein glänzender Sieg war, solange war auf die Dialektik
Verlaß. Jetzt aber wurde sie durchlässig, denn abhanden gekommen war ihr
die Vorläufigkeit des nunmehr letzten Wortes.
Während wir höchstens noch letzte Worte stammelten, wurde
das letzte Wort von den anderen
gesprochen.
Diesem
Dilemma entgeht man selbst nach mehr als einem Jahrzehnt nicht, weder
durch historische Konstrukte noch durch tapfere Hoffnungen oder mutige
Träume. Wir haben nicht nur nicht gesiegt, wir haben nicht einmal
überstanden.
Nun wäre
das ja so dramatisch gar nicht, wenn wir uns gelassen auf den Gang der
Geschichte mit dem Prinzip Hoffnung und also darauf einstellen dürften,
daß uns zu gegebener Zeit die Möglichkeit zu einem neuen Aufbruch
bereitgehalten werde. Aber diesem Prinzip Hoffnung ist kaum noch zu
trauen, es dürfte höchstens noch als linderndes Therapeutikum gegen
unheilbare politische Depressionen zu empfehlen sein. Nicht zufällig
versandet ja auch in Michael Hardts und Antonio Negris »Empire. Die neue
Weltordnung« (Campus-Verlag, Frankfurt a.M. 2002) die Analytik just an
jener Stelle, an der die Frage nach den Akteuren eines neuen Aufbruchs
aufgeworfen wird. Seitdem sind wir zwar um den Begriff der »autonomen
Multitude« bereichert, doch mit ihm wird die Skepsis eher größer als
geringer.
Dabei ist
die Frage nach der Alternative tatsächlich, um bewußt einmal mit dem
konfessorischen Pathos der Reformation zu reden, eine quaestio stantis
et cadentis, nun nicht ecclesiae, wie zu Luthers Zeiten, sondern
societatis et humanitatis. Denn es geht um nicht weniger als um die
Frage nach den Überlebenschancen von Sozialität und Humanität. Zwei
Begriffe, die den Rückzug ins Wörterbuch bereits angetreten haben und
schon der Erklärung bedürfen, weil sie sich längst nicht mehr von selbst
verstehen.
Und hier
wird es nun doch dramatisch und die Niederlage des europäischen
Sozialismus zur Ingredienz einer Entwicklung, die bereits
in ihrer gegenwärtigen Phase die unheimlichen Konturen künftiger
Verwerfungen erkennen läßt. Die aber scheinen nicht zufällig auf, denn
natürlich ist die Dialektik nicht wirklich außer Kraft. Auch hat sie
sich nicht transformiert in Adornos negative, wiewohl so
manches dafür sprechen könnte. Was wir gegenwärtig tatsächlich erleben,
das ist jene Negativität, die sich in der Dialektik historischer
Prozesse einstellt, wenn der Antithese die These abhanden kommt und der
Widerspruch nicht aufgehoben, sondern abgeschafft wird.
In eben
dieser Situation befinden wir uns heute; und in Europa fällt es uns
besonders schwer, mit ihr zurechtzukommen, denn das grandiose
Schrittmaß der europäischen Geschichte hat uns reichlich verwöhnt. Vom
Feudalismus über die frühbürgerlichen Revolutionen hinein in den alles
revolutionierenden Kapitalismus, die Aufklärung als Zivilisierung des
Denkens im Gefolge, demokratische Bewegung allerorten, Aufbrüche zu
neuen Freiheiten und ganz neuen Lebensläufen - selbst die Krise dieses
Systems, nicht einmal seine Kriege dämpften den historischen Optimismus,
denn schon hatten neue Lokomotiven der Geschichte
angezogen, eine neue Klasse an und dann sogar auch für sich,
Sozialismus, real existierend, verstaatlicht, mit Weltmachtoptionen. So
hätte es eigentlich immer weiter gehen können. Überzeugung gab es
jedenfalls genug, zunächst. Und nun das Desaster, der historische
Interruptus, das Ende einer Entwicklung, die auch als
Zivilisationsgeschichte beschrieben werden könnte - Tendenz aufsteigend,
scheinbar unaufhaltsam und unumkehrbar.
Hinter
uns aber liegt gar keine Geschichte der Zivilisation, sondern eine
Geschichte von Klassenkämpfen, in deren Folge, von Sieg zu Sieg,
Zivilisation errungen werden konnte und mußte. Der
lexikalische Eintrag in Langenscheidts Fremdwörterbuch ist noch immer
korrekt: Zivilisation ist eine »Errungenschaft«. Natürlich steht da
nichts vom Klassenkampf, aber immerhin, die Fährte ist schon richtig,
auch wenn sie heutzutage, selbst unter Linken, immer seltener
aufgenommen und verfolgt wird.
Doch die
europäische Zivilisation ist ohne die erfolgreichen Klassenkämpfe des
Bürgertums und des Proletariats undenkbar. Dabei geht es durchaus nicht
nur um die datierbaren Revolutionen, sondern auch um die historische
Kette permanenter Kollisionen zwischen Bürgertum und Adel, zwischen
Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Sozialismus und Kapitalismus -
getragen von den spezifischen Widersprüchen zwischen
Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, zwischen Kapital
und Arbeit, um es in der vertrauten Diktion meines
Staatsbürgerkundelehrers zu sagen.
Dabei ist
es gar nicht so einfach, immer auszumachen, wer hier
wem was zu verdanken hat, denn nicht selten überlagern sich
die Kollisionen, was zu neuen Widersprüchen führt - exemplarisch in der
48er Revolution, einer bürgerlichen, die ohne das Proletariat so
jedenfalls nicht stattgefunden hätte. Und 100 Jahre später hätte es
keinen Marshall-Plan gegeben, wenn er im nunmehr globalisierten
Klassenkampf nicht von allergrößter Bedeutung gewesen wäre. Und
natürlich hätten wir keine Bismarcksche Sozialgesetzgebung ohne die
organisierte deutsche Arbeiterklasse. Ich will aber gar nicht
aufrechnen, sondern nur ganz sparsam illustrieren, daß die europäische
Zivilisation das Produkt permanenter Klassenauseinandersetzungen ist und
gerade kein sich selbst entwickelndes, evolutionäres Projekt der
Geschichte.
Aber
streng genommen ist selbst diese Feststellung höchst problematisch, denn
die Rede von der europäischen Zivilisation nivelliert und
negiert - unfreiwillig oder auch mit Vorsatz - die z.T. ungeheuerlichen
Unterschiede in der Partizipation an Zivilisation. Wer unter Brücken
schlafen muß, lebt nicht in einem zivilisierten Land, auch wenn er von
Banken umstellt ist. Selbstverständlich, in einer Klassengesellschaft
unterliegt auch die Zivilisation der Klassifikation.
Ich rede
in Abbreviationen; es ist mir aber wichtig, an diese fundamentalen
Zusammenhänge wenigstens zu erinnern, weil anders gar nicht durchschaut
werden kann, was sich gegenwärtig - und nicht nur in Europa - vollzieht,
genauer: was vollzogen wird. Eric Hobsbawm hat das 20. Jh. ja durchaus
lehrreich als »Das Zeitalter der Extreme« beschrieben (E. Hobsbawm, Das
Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
München 1999, 3. Aufl.). Und zu diesen Extremen gehört nun ganz sicher
auch die für das Kapital seit Ende dieses Jahrhunderts einzigartige
Situation, nahezu weltweit ohne einen ernstzunehmenden
Klassenwiderspruch agieren zu können. Der Adel ist schon lange
domestiziert, und nunmehr konnte auch die riskante Herausforderung durch
den europäischen Sozialismus überwunden werden. Eine historisch extrem
neue Situation, die es dem Kapital gestattet, seine bisher geltenden
allgemeinen gesellschaftlichen Geschäftsbedingungen außer Kraft zu
setzen und, wie es in der kryptischen Sprache seiner Politiker heißt,
»alles auf den Prüfstand zu stellen«.
Die
Bedrohlichkeit solcher Wendungen nimmt zu mit der steten Beschleunigung
ihrer Umsetzung, die inzwischen nur noch lustlos als »Reform« deklariert
wird, als »Standortsicherung« oder »Umbau«. Schon hat in den
gleichgeschalteten Kommentaren das Wort vom »Rückbau« Einzug gehalten,
und selbst das klare Bekenntnis zum »Abbau« ist kaum noch
gewöhnungsbedürftig.
Bei
alledem geht es nicht um sog. konjunkturbedingte Korrekturen, sondern um
die vorsätzliche und planmäßige Vernichtung sozialer Standards und
bürgerlich-demokratischer Rechte und also um nicht weniger als um die
sukzessive Zerstörung zivilisatorischer Errungenschaften. Die nunmehr
uneingeschränkte Herrschaft des Marktes erlaubt die Option auf eine
uneingeschränkte Profitmaximierung, die kaum noch
gesamtgesellschaftliche Rücksichten zu nehmen braucht - auch nicht auf
den bleibenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Ihn
tradeunionistisch zu versöhnen war nur solange erforderlich, wie eine
sozialistische Alternative gefürchtet werden mußte.
Der über
Jahrzehnte erzeugte Mangel an politischer Bildung hat dazu geführt, daß
sich nur eine aufgeklärte Minorität dem Aberglauben verweigert, die »Segnungen«
der »freien Marktwirtschaft« seien »Segnungen« der »freien
Marktwirtschaft«. Wiewohl der zivilisatorische Fortschritt
in Europa mit dem Sieg des Bürgertums verbunden ist, er ist keine Gabe
der Bourgeoisie, auf die ein Erbrecht besteht.
Das gilt
für Soziales und Politisches gleichermaßen, wie am europäischen
Alt-Faschismus gezeigt werden könnte. Die bürgerliche Demokratie mit all
ihren wirklichen und scheinbaren Attraktivitäten ist die reguläre
nationalstaatliche Existenzform des Kapitalismus in seiner
bürgerlichen und spätbürgerlichen Ära. Und eben diese
Ära geht gegenwärtig zu Ende. Der spätbürgerliche
Kapitalismus geht über, wie ich sagen würde, in einen
nachbürgerlichen, mit allen nur denkbaren gesellschaftlichen
Konsequenzen.
Vorbereitet durch die klassische Transnationalisierung des Kapitals,
angetrieben von einer permanent revolutionierenden Entwicklung der
Produktivkräfte, befreit von allen regulativen Prinzipien einer
Systemauseinandersetzung und so auch befähigt zu einer globalen und
alles dominierenden Kapitalverwertung, drängt ein alter
Widerspruch erneut zur Aufhebung: der Widerspruch zwischen
Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen. Doch auch dieser
Widerspruch ist heute nur ein Segment innerhalb eines zunehmend
übergreifenden Widerspruchs, nämlich dem zwischen der uneingeschränkt
globalen Bewegungsform des Kapitals und den nationalen
Existenzbedingungen der bürgerlichen Demokratie.
Es ist
sicher kein Zufall, daß die Anti-Globalisierungs-Bewegung deshalb gerade
auch von gutbürgerlich Engagierten geprägt wird und daß sich
Protagonisten wie eine Vivian Forester dabei deskriptiv erstaunlich
radikalisieren. Aber die hinreichenden Gründe sind auch radikal genug,
wenn man nur an das sog. »Multilateralen Investitionsabkommen« denkt, in
dem sich ja auch nur ein Vorschein des Künftigen spiegelt - wie ja auch
in der Rede vom »Ende des Nationalstaates«. Diese könnte mit
Gelassenheit vorgetragen werden, wenn es lediglich um Nationales ginge,
und sogar mit Emphase, wenn sie auf Nationalistisches zielen würde. Doch
im Fokus dieser Perspektive steht nicht die nationale Staatsmacht,
sondern die spätbürgerlich-demokratische Ordnung des Kapitalismus. Sie
zu überwinden und den politischen und gesellschaftlichen Erfordernissen
der globalen Kapitalverwertung zu adaptieren, das ist gegenwärtig das
Tagesgeschäft der europäischen Staatsmächte. Und wer sich heute, mit
welchen Absichten auch immer, staats- und regierungspolitisch engagiert,
der nimmt billigend in Kauf, daß er dazu einen Beitrag zu leisten hat.
Und der wird ja denn auch geleistet.
Die
Situation ist einigermaßen grotesk und unerhört widersprüchlich. Da
feierten manche den Untergang des Sozialismus und machten sich auf, in
jenem Kapitalismus anzukommen, den sie als Alternative meinten
privilegieren zu müssen. Und nun gibt es den einen gar nicht mehr und
den anderen jedenfalls nicht mehr so, wie man ihn eigentlich haben
wollte. Das ist tragisch. Doch alles Tragische ist auch durchwoben vom
Naiven. Wie sollte man denn den einen ohne den anderen bekommen?! In
compensationem ist dafür inzwischen aber die Fähigkeit gewachsen, sich
überall irgendwie einrichten und Grundsätze
beliebig für obsolet erklären zu können. Eine Fähigkeit, die
Politiker heute vermutlich schon in ihren Bewerbungsunterlagen ausweisen
müssen.
Grotesk
und unerhört widersprüchlich wird es nun aber wirklich für all jene, die
einst vom Untergang der spätbürgerlichen Gesellschaft geträumt hatten
und heute vor die Frage gestellt sind, ob und wie sie deren
zivilisatorische Elemente vor dem globalen Laisses faire des
nachbürgerlichen Kapitalismus retten sollen und wollen. Für manche
dürfte allein schon eine solche Frage kaum zumutbar sein, zumal sie
einigermaßen angewidert erleben müssen, wie andere darum kämpfen, sich
in diesem Spätkapitalismus in letzter Minute noch häuslich einzurichten
und dabei fast jede nur denkbare Peinlichkeit in Kauf nehmen.
Die Frage
aber steht, so oder so. Und wahr bleibt auch, daß man nicht erst ein
Hund zu werden braucht, um für den Erhalt des Tierschutzes eintreten zu
können. Das Bild ist schief, aber der Grat, auf dem in dieser Frage
gewandelt werden muß, ist auch unheimlich scharf. Der Absturz, der
ideologische, moralische, politische, läßt sich nur vermeiden, wenn
Zivilisation nicht als Entwicklung einer Idee a priori, sondern als das
a posteriori einer klassengesellschaftlichen Auseinandersetzung
begriffen wird. So wenig wie es eine »Zivilgesellschaft« an
sich gibt, so wenig wird es eine gelungene Apologie zivilisierter
Gesellschaftlichkeit geben ohne ein programmatisches Insistieren auf dem
Klassencharakter aller Aktionen und Reaktionen. Denn wem heute nicht
bewußt wird, daß er nicht einer fiktiven »Moderne« mit ihren modernen
»Sachzwängen«, »Strukturanpassungen« und
»Globalisierungskompatibilitäten« ausgesetzt ist, sondern, auf Gedeih
und Verderb, den wohlorganisierten und staatspolitisch flankierten
Interessen einer weltweit und gnadenlos operierenden Shareholder-society,
dem wird es nicht gelingen, diesen Diktatoren des Profits
organisiert gegenüberzutreten. Wer nicht die Systemfrage stellt, hat
sich der notwendigen Systematik eines bündnisbreiten Widerstandes
bereits entledigt.
Und zu
dieser Systematik gehört es nun auch, nicht nur gegen das Laisses faire
des sog. »Neoliberalismus« zu protestieren, sondern dabei zugleich auch
zu deklarieren, daß es der Moder der Spätbürgerlichen Gesellschaft ist,
der hier zum Humus des nachbürgerlichen Kapitalismus wird.
Die
Einsicht in diesen konstitutiven Zusammenhang hat sich unter den
bürgerlichen Globalisierungsgegnern noch längst nicht durchgesetzt. Aber
es bleibt abzuwarten, wann auch ihr Blick mit wachsender Kritikfähigkeit
nicht nur an den manifest werdenden globalen Deformationen, sondern auch
an deren eigentlicher Genese haften wird. Auf jeden Fall aber
konstituiert dieser Zusammenhang die politische Plattform, auf der der
Widerstand der alten und uralten Linken mit dem Protest der neuen und
jungen Antagonisten sachlich koinzidiert. Wer weiß, was sich daraus noch
entwickelt. Ganz sicher gar nichts, wenn die einen nach den ersten
europäischen Großdemonstrationen von der »Weltrevolution« munkeln
würden. Und sicher auch solange nichts, solange die anderen nicht
wenigstens stutzig werden, wenn vermeintliche Koalitionäre vor laufenden
Kameras erklären, man solle doch den Kapitalismus nicht so
schlecht reden.
Ganz
ernsthaft muß nun aber auch damit gerechnet werden, daß sich weder so
noch so irgend etwas entwickelt. »Wo Gefahr wächst, da wächst das
Rettende auch«, konnte noch Hölderlin in sanfter Dialektik fabulieren.
Doch solch schöne Gewißheiten tragen heute nicht mehr. Schon längst
haben sich Entwicklungen verdichtet, die im Gefüge der kapitalistischen
Gesellschaft mit den quantitativen Sprüngen auch qualitative Umkehrungen
anzeigen.
Mit
Sprüngen haben wir ja schon zu leben gelernt, auch wenn wir wissen, daß
Hegels »Herr-Knecht-Verhältnis« eben kein prästabilierter Indikativ
eines imperativen Naturverhältnisses ist, wiewohl sich reich
und arm und oben und unten und Macht und
Ohnmacht und Glanz und Elend und Paläste und
Hütten natürlich immer reziprok verhalten, weil das eine sich vom
andern nährt, wenn man die Welt als Ganze nimmt. Doch den Exzeß der
neuen superlativen Sprünge werden viele nicht einmal überleben,
jedenfalls nicht in kommoder Situierung.
In ihrem
1996 erschienenen Band »Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf
Demokratie und Wohlstand«(Rowohlt, Reinbek, 1997, 15. Aufl.) hatten die
beiden »Spiegel«-Redakteure Hans-Peter Martin und Harald Schumann nicht
nur die soziale Dramatik der Absenkung einer Zwei-Drittel- auf eine
Ein-Fünftel-Gesellschaft thematisiert, sondern mit ihrer Recherche auch
dokumentiert, daß diesen Verwerfungen eine konzertierte Regie zugrunde
liegt. Ihr Bericht über die elitäre Fairmont-Konferenz in San Francisco
vom September 95 hatte denn auch nicht unwesentlich dazu beigetragen,
daß die Bewegung der Globalisierungsgegner sich auch in der BRD zu
formieren begann. Ein »Wimpernzucken in der Geschichte der Ökonomie«
(ebd., S. 14) nannte John Naisbitt in San Francisco die Zeit der sog.
»Wohlstandgesellschaft«. Und mit ihm überlegten 500 führende Manager,
Politiker und hochdotierte Wirtschaftler aus aller Welt, wie man künftig
mit jenen Vier-Fünfteln verfahren müsse, um dieses Heer von Tagelöhnern
und Arbeitslosen nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. An bewährte
altrömische Praxis knüpfte im Fairmont-Hotel Zbigniew Brzezinski an, und
seine Formel für panem et circenses, für Brot und Spiele lautete: »tittytainment«
(ebd., S. 13). Das Volk muß gestillt und bespaßt werden. Ein durchaus
komplementärer Ansatz zu dem von Wolfgang Schäuble, der ja schon 1993
und erst kürzlich wieder laut darüber nachdachte, wie man die Armee,
wenn es denn sein muß, auch nach innen einsetzen kann.
Zwei-Drittel werden zu Vier-Fünftel, gemacht; die Differenz zwischen
Zähler und Nenner ist progressiv, und das Wort von der »Bruchrechnung«
verliert auf einmal seine mathematische Unschuld.
Aber
ginge es nur um Zahlen, ein George Soros hätte uns niemals ein Buch über
»Die Krise des globalen Kapitalismus« (G. Soros, Die Krise des globalen
Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt a.M. 2000)
geschrieben und an seinen Ängsten teilhaben lassen, an seinen Milliarden
in einer kapitalistischen Welt, die sich qualitativ
verändert, am Ende gar keine rechte Freude mehr haben zu können. Und
Soros ist nun wirklich kein Populist und auch kein ungarischer
Dramatiker. Seine Analyse gründet nicht auf externen Beobachtungen,
sondern auf ureigensten Erfahrungen, mit denen er sich an Börse und
Kapitalmarkt ein Vermögen erspekulierte. Und dieser Soros, der 1992 das
britische Pfund zum Wanken brachte und allein dabei 1 Milliarde Dollar
kassierte, sagt heute: »das kapitalistische Weltsystem« ist »krank und
brüchig« (ebd., S. 9), und der zunehmend alles beherrschende
»Marktfundamentalismus« zerstört die sozialen, moralischen, politischen,
kulturellen und also die gesellschaftlichen Werte der bürgerlichen
Zivilisation und selbst die persönlichsten Beziehungen (ebd., S.
257ff.).
Natürlich, Soros ist ein Bourgeois, der durch eben jene Mechanismen
reich wurde, die ihn nun daran hindern, diesen Reichtum unbesorgt
vermehren zu können. Aber er ist eben noch ein Bourgeois und nicht ein
nachbürgerlicher Profiteur. Mutatis mutandis würde Thomas Mann ihn gar
für literaturwürdig halten, wie einst den alten Buddenbrook, den er,
viel weitsichtiger als ein Rilke, schon ahnen ließ, daß es mit seinem
Bürgertum so fein und vornehm nicht bleiben würde.
Und jetzt
verfault es wirklich und mit ihm eine Gesellschaft, die im
Markttotalitarismus die Umwertung aller bürgerlichen Werte zu erleben
beginnt. Nietzsche könnte zufrieden sein, wiewohl auch er nicht damit
gerechnet haben dürfte, daß die Umwertung auf dem Marktplatz
getrieben wird und nicht bloß als Wille zur Macht.
Aber auf
dem Marktplatz funktioniert sie total und nahezu perfekt,
denn hier steht alles bereit, nun auch in sein Gegenteil verkehrt zu
werden.
Allem
voran die mächtige Maschinerie der Medien, die mit Gutenberg einst so
verheißungsvoll anlief und Kultur begründete, Hochzivilisation,
Massenbildung. Heute steht sie im Dienst der Verblödung und ist dabei so
effektiv wie nie zuvor - und unanfechtbar. Insider, die - wie ein
Frédéric Beigbeder - ihre Betriebsgeheimnisse verraten, dürfen daraus
sogar Bestseller machen, denn Appelle ändern heute nichts. Wenn es paßt,
werden auch sie vermarktet (F. Beigbeder:
Neununddreißigneunzig, Rowohlt, Reinbek 2001).
Und dem
Markt paßt eigentlich alles. Warum nicht zugebe, daß heute jede Form von
Rücksichtslosigkeit und Schamlosigkeit und Skrupellosigkeit zu den
allgemeinen Geschäftsbedingungen gehört - und eine gelungene Korruption
zum Befähigungsnachweis avanciert. Warum nicht zugeben, daß alles
wirklich so ist, wie es wirklich ist. Und wenn
es noch irgendwelche Probleme geben sollte, dann ändert man halt die
Gesetze und versetzt die unbequemen Staatsanwälte. Oder man schert sich
auch darum nicht, auch nicht um Völkerrecht oder die UNO. Das Recht des
Stärkeren diktiert die Welt, national und international, in der
Wirtschaft und in der Politik. Tertium non datur.
Als
spätberufener Protestant dürfte ich eigentlich nicht mehr unter Verdacht
geraten, ein heimlicher Ministrant des Vatikans zu sein, wenn ich mir
ein Papstwort zueigen mache, das Johannes Paul II. in seiner im März
1995 gegebenen Enzyklika »Evangelium vitae« geprägt und unter dem Titel
»Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens« auch
entfaltet hat.
12 mal
ist in dieser Enzyklika die Rede von einer heute umsichgreifenden
»Kultur des Todes«. Bezeichnenderweise wurde die Bedeutung dieses Wortes
in den Medien eklatant verkürzt und reduziert auf die Bewahrung
ungeborenen Lebens. In Wirklichkeit aber geht es viel weiter und
zielt auf eine Gesellschaft, die der natürlich konservative Papst mit
seiner natürlich konservativen Kurie in einer verhängnisvollen Auflösung
begriffen sieht.
Ich
zitiere nur wenige Sätze. In Kapitel 12 heißt es: »Mögen auch viele und
ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter
moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den
einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es
tatsächlich nicht weniger zu, daß wir einer viel weiter reichenden
Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene
Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der
Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen
als wahre ›Kultur des Todes‹ herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von
starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen, die
eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.«
Und aus
Kapitel 19 noch den Satz: Man kann »nicht bestreiten, daß eine solche
Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische
Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der
›Stärkeren‹ gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.«
Das
klingt fast radikal, jedenfalls ist es ex radice
gesprochen, und mit der »Kultur des Todes« ist prägnant beschrieben, was
andere als »Moderne« feiern, ohne wahrnehmen zu können oder zu wollen,
daß uns diese »Moderne« selbst hinter die Aufklärung zurückwerfen wird
und weithin auch schon geworfen hat. Wie weit, das läßt sich kaum
absehen. Aber es spricht wenig dafür, daß der globalisierten »Kultur des
Todes« Grenzen gesetzt werden können, abgesehen von jenen, die sie in
sich trägt und die sie nicht überwinden kann. Denn auch der
nachbürgerliche Kapitalismus unterliegt dem Gesetz der Anarchie und dem
Gesetz der Konkurrenz.
Gianfranco Pala, auch ein Italiener, aber ein richtiger, hat in seinen
Studien zur Globalisierung gerade dieses bleibende Ingredienz des
nachbürgerlichen Kapitalismus besonders hervorgehoben. Ich verweise nur
auf seinen Beitrag in Heft 16 der Zeitschrift TOPOS: G. Pala, Hundert
Jahre Imperialismus. Produktionsnetze und Kontrollketten in der
transnationalen Phase, TOPOS 16 (Imperialismus), Napoli 2000, S. 11-39.
Weil Anarchie und Konkurrenz auch angesichts transnationaler
Produktionsnetze und Kontrollketten nicht außer Kraft gesetzt sind,
potenziert sich nun sogar das dem Kapitalismus geburtseigene bellum
omnium contra omnes.
Es ist
keine erbauliche Vorstellung, daß aus diesem nunmehr global vernetzten
und verketteten Konflikt Rettendes erwachsen könnte. Aber wo Anarchie
herrscht, da herrscht das Unberechenbare auch. Daraus leite ich für mich
als Handlungsanweisung ab, bereit zu bleiben, mit allem rechnen zu
können. Mag sein, daß die Enkelinen wieder begründete Träume und
Hoffnungen haben dürfen. Für unsere Generationen aber gilt: »Wer spricht
von Siegen? Überstehn ist alles.«
DIETER KRAFT
Zu Hans Heinz Holz: »Weltentwurf
und Reflexion«
[in: TOPOS 24, Neapel 2005, S. 149-152]
Lieber Herr Holz,
ich vermute, soweit ich das als Theologe
überhaupt angemessen einzuschätzen vermag, daß die Resonanzen auf Ihr
jüngstes großes Werk »Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung
der Dialektik« (Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN
3-476-02071-1) durchaus kontrovers ausfallen werden. Wenn ein marxistischer
Philosoph mit der These aufwartet, die Metaphysik dürfe nicht
preisgegeben, sie müsse vielmehr essentiell beerbt werden, und wenn dann im
Vollzug einer solchen Beerbung auch noch die Kategorie der Spekulation
ihre Rehabilitierung erfährt, dann dürften im philosophischen Diskurs alle
nur denkbaren Turbulenzen zu erwarten sein - bis hin zu jener ideologisch
motivierten Rochade, die Materialismus und Idealismus in neuer Aufstellung
wird konfigurieren wollen. Da ich kein Philosoph bin, werde ich an diesem
Diskurs leider gar nicht teilnehmen können. Dennoch möchte ich wenigstens
gestehen dürfen, daß ich von Ihrem »Versuch einer Grundlegung der Dialektik«
fasziniert bin. Eine solche Grundlegung ist ja in der Philosophie
eigentlich überfällig gewesen; und nun haben Sie mit ihr zudem ein
systematisch so spannendes Opus vorgelegt, daß man der Verführung zum
Nach-Denken kaum entgehen kann - und auch nicht der Ermutigung, wieder
einmal die philosophischen idola fori resolut in Frage zu
stellen.
Sie haben doch völlig Recht:
Selbstverständlich muß die Metaphysik in einer materialistischen
Dialektik beerbt und nicht einfach eliminiert werden. Und natürlich muß eine
materialistische Dialektik auch die Kategorie der Spekulation
dialektisch verifizieren - und selbstredend auch die der Apriorität.
Ich hätte mir allerdings gewünscht, Sie wären mit allen
philosophischen Kategorien so (wohltuend hermeneutisch) umgegangen. Dann
jedenfalls hätte ich die Hoffnung haben können, meine alte Skepsis gegenüber
einer philosophischen Denkfigur endlich ausgeräumt zu sehen, die im
Idealismus wie im Materialismus eine offenbar axiomatische Bedeutung hat.
Ich meine die immer und überall wiederkehrende und m.E. nirgends hinreichend
dialektisch problematisierte Zuordnung von Subjekt und Objekt.
Unbestritten ist die Subjekt-Objekt-Beziehung,
wie Sie selber betonen, »die Voraussetzung der ›modernen‹ Philosophie, die
von Descartes ausgeht« (S. 51, Anm. 16). Und unbestritten hat sich in dieser
»Voraussetzung« ein erheblicher philosophisch-methodologischer
Erkenntniszuwachs verdichtet. Aber ebenso unbestreitbar handelt es sich,
und Sie sagen es ja selber, um eine Voraussetzung, mithin also um
einen philosophischen An- und Einsatz, der doch einer strikten Verifizierung
bedarf.
Hegel hat sich um eine solche nicht sonderlich
bemüht; statt dessen hat er uns die Aufhebung der Dichotomie von Subjekt und
Objekt und also ihre absolute Vermittlung in der absoluten Idee vorgeführt.
Seitdem könnte man - mit einigem Sinn für Ironie - das S-O-Problem
eigentlich für obsolet erklären, wenn die Kategorie Objekt mit dem
Begriff Sein wirklich auch hinreichend definiert wäre. Das aber ist
sie nur in einem übergreifenden Sinne, der wiederum das Subjekt zur
Voraussetzung behält. Denn der Begriff des Seins entzieht sich in
seiner abstrakten Totalität ebenso wie in seiner totalen Abstraktheit allem
Empirischen und sagt deshalb über die intelligible Kapazität des Subjekts
mehr aus als über die materielle Realität des Objekts. Wer über das Sein
spricht, der hat die Dinge bereits hinter sich gelassen und muß sich
nicht mehr am Gegenständlichen abarbeiten.
Daß Sie in Ihrer »Grundlegung« dem
Gegenständlichen wieder eine so erstrangige Plazierung eingeräumt haben,
korrespondiert Ihrer entscheidenden Kritik an Hegel, der die Dialektik
»nicht aus den materiellen Bedingungen selbst, nicht aus der Verfassung der
Gegenstände abgeleitet« (S. 17) habe. Sie stellen Hegel die These
entgegen: »Ist das Subjekt S - das cogito - durch nichts anderes
bestimmt als durch die in seinem Bewußtsein sich darstellenden Inhalte, die
die Gegenstände der Welt, die Objekte (O), repräsentieren, so läßt sich die
zweigliedrige Beziehung S-O als ein geschlossenes System beschreiben ...«
(S. 51).
Genau hieran habe ich meine Zweifel, und ich
weiß jetzt noch immer nicht, wie ich das Objekt evaluieren soll. Sind
es wirklich die »Gegenstände der Welt«, die die S-O-Beziehung konstituieren?
Sie unterstreichen: »Indem das Denken Weltgehalte als seine Inhalte aufnimmt
(oder reproduziert), erfährt es seine eigene logische Formbestimmtheit
primär als die des Gegenstands - denn es erfährt sich selber primär nicht
als Denkform, sondern als den Gegenstand denkend; denn nur indem ich einen
Gegenstand denke, denke ich; mein Denken ist das Denken des Gegenstandes.«
(S. 515f.)
Vielleicht liegt meinerseits auch nur ein
Mißverständnis vor, aber in der hier vorliegenden Diktion kann ich diese
These nicht nachvollziehen. Einen Gegenstand denkt man nicht. Als Gegenstand
bleibt er immer nur Objekt einer sinnlichen Wahrnehmung. Die ist zwar
Voraussetzung des Denkens, wie ja auch Sie mit Leibniz und Kant
selbstverständlich konzedieren (S. 256f.), aber der Übergang zum Denken
gründet nicht in der Gegenständlichkeit als solcher, sondern in der
analytischen und synthetischen Reflexion der realen Beziehungen alles
Gegenständlichen auf- und zueinander.
Sie sagen: »Gegenständlichkeit bedeutet
Varietät, Mannigfaltigkeit und damit zugleich Identität des einen mit sich
und Verschiedenheit des einen vom anderen.« (S. 257) Oder: Die
»Gegenständlichkeit der Erfahrung« ist »nur evident, wenn Gegenstände sich
als verschiedene (also in einer Mehrzahl) voneinander abheben lassen«
(ebd.). Schon in der »Einleitung« zitieren Sie affirmativ Engels: Man dürfe
nicht »über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr
Werden und Vergehen, über ihre Ruhe ihre Bewegung« vergessen. (S. 13) Und in
dem Kapitel »Reflexion« bringen Sie es eigentlich auf den Punkt: »Nichts
wäre so, wie es ist, würde es nicht vermittelt durch anderes, außer ihm
Seiendes, zu sich selbst gebracht werden. Die Welt ist ein universelles
Wechselwirkungsverhältnis, kein bloßes Sein, sondern eine Relation«. (S.
390)
Das unterschreibe ich Ihnen sofort, auch wenn
ich Sein und Relation nicht unbedingt in Differenz bringen,
sondern eher darauf abheben würde, daß das Sein selbst ein universelles
Wechselwirkungsverhältnis ist, was Sie an vielen anderer Stelle (vgl. nur S.
392) eigentlich auch betonen. Aber dann »richtet« sich das Denken nicht auf
einen »einzelne(n) dingliche(n) Gegenstand« (S. 514), sondern auf seine
multiple Relationalität. Wir denken nicht Sachen, sondern Sachverhalte,
und wir denken nicht Gegenstände, sondern gegenstandsbezogen. Das
Denken hat immer Beziehungen zum Inhalt, nämlich die Beziehungen
zwischen den Gegenständen; und sein Wahrheitsgehalt bleibt in der
Erkenntnis dieser Beziehungen gebunden an die objektive Realität der
konkreten Relationen.
Das Denken hat die Gegenständlichkeit zur
Voraussetzung; aber zu seinem Inhalt hat es nicht die Gegenständlichkeit
selbst, sondern deren Relationalität. Im Denken wird die sinnlich erfahrene
bloße Gegenständlichkeit gerade »aufgehoben«. Und gerade in dieser Aufhebung
widerspiegelt sich im Denken jene universale Relationalität, die alles
Seiende bestimmt.
Daß diese »ideelle« Widerspiegelung kein
intellektuelles Konstrukt ist, sondern sich »materialiter« eben dieser
Relationalität selbst verdankt, hat Marx, und Sie führen es ja auch aus,
unter Hinweis auf die in der menschlichen Arbeit sich entwickelnde
Relationalität von Mensch und Natur begründet. Erst in der die Beziehung
Mensch-Natur gestaltenden menschlichen Arbeit entwickelt sich das Bewußtsein
für Relationalität, für Interdependenz und Abhängigkeit. Das heißt zugleich:
das »Denken« steht der »Natur« nicht a priori »gegenüber« (im Sinne eines
apriorischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses), es ist vielmehr selbst das
Produkt (a posteriori) einer Relationalität, und nur als ein solches
widerspiegelt es - selbst noch im Denken des Denkens und also in
abstraktester Reflexion - einen realen und ebenso konkreten wie auch
übergreifenden Sachverhalt.
Und das heißt eben auch: das cogito ist
nicht dadurch bestimmt, daß es die Gegenstände der Welt, die
Objekte (O), repräsentiert, es ist vielmehr bestimmt dadurch, daß es
die Relationalität alles Gegenständlichen und Objektiven
repräsentiert. Erst darin erreicht ja auch der Begriff der Widerspiegelung
seine eigentliche Bedeutung, denn die Subjekt-Objekt-Beziehung ist lediglich
ein besonderer Fall der allgemeinen Objekt-Objekt-Beziehung alles
Gegenständlichen. Aber gerade deshalb ist Widerspiegelung überhaupt möglich.
In diesem Zusammenhang würde ich ja sogar
fragen wollen, ob es wirklich gerechtfertigt ist, die Kritik an Kants
vermeintlichem Agnostizismus daran festzumachen, daß er ein Ding an sich
unserer Erkenntnis entzogen sieht. Wenn alle »Dinge dieser Welt« relational
existieren, dann ist doch bereits der Begriff des Dinges an sich in
dialektischer Perspektive höchst problematisch. Und wenn es im cogito
um die Widerspiegelung nicht der Gegenstände (Dinge) an sich, sondern
um die Wirklichkeit des Beziehungssystems aller Gegenstände und Dinge
geht, dann bleibt ein aus diesem Beziehungssystem herausgenommenes Ding
an sich in der Tat der Erkenntnis unzugänglich. Oder anders gesagt - und
nur zu gern knüpfe ich hier an Ihre Einführung des Metaphorischen in die
Dialektik an: Wenn jedes Ding-Wort nicht nur einen Gegenstand
bezeichnet, sondern zugleich und immer auch dessen Funktion(en) (S.
273), dann wäre ein Ding an sich im Sinne eines Gegenstands ohne
Funktionsbestimmung und also ohne Relationalität namenlos.
Herzlich Ihr Dieter Kraft
HANS HEINZ HOLZ
Eine Replik
[in: TOPOS 24,
Neapel 2005, S. 153-155]
Lieber Herr Kraft,
vielen Dank für Ihre
Anmerkungen zu »Weltentwurf und Reflexion«. Ihre Erwartung, das Buch werde
Turbulenzen auslösen, gilt mir als positives Echo (und war ja auch so
gemeint). Windstille über glatter See hat mir nie behagt, und der
quietistischen Parole »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« habe ich zeit
meines Lebens zuwidergehandelt.
Doch zur Sache! Ihre
Einwände gegen die Gegenstandskategorie kann ich nachvollziehen. Vielfach
habe ich ja auch darauf hingewiesen, daß die Dialektizität des
dialektischen Materialismus, durch die er sich von jedem vulgären
Materialismus als verschieden (und nicht bloß unterschieden)
erweist, darin liegt, daß nicht Gegenstände, sondern »gegenständliche
Verhältnisse« die zu erkennende Wirklichkeit ausmachen (siehe S. 429ff.).
Das hat Marx deutlich gesagt, und Hegel, der vom »substantiellen
Verhältnis« spricht, hat diese Wendung von der Substanzontologie zur
Relationsontologie vorbereitet. Daß in jeder Relation natürlich die
substantiellen Glieder der Relation enthalten sind und mitgedacht werden
müssen (allerdings eben als Glieder einer Relation, in der sie sich
zugleich aktiv und passiv verhalten), versteht sich »von selbst«, ist aber
durchaus ein Problem; denn es muß ja expliziert werden, was dann unter
Substantialität zu verstehen ist, und ich meine, daß Leibniz in dem
dialektischen Modell der vis als vis activa et simul passiva
ein Muster dafür gegeben hat, wie man mit diesem Problem umgehen kann.
Die ontologische
Priorität der Relationskategorie vor der Substanzkategorie macht aber die
Gegenstandskategorie nicht obsolet. Ontologisch ist mit »Gegenstand« immer
die res, die »Sache selbst« gemeint, die sich dem begreifenden
Denken stets in »Sachverhalten« darstellt und »an sich« Moment des
unendlichen Zusammenhangs aller Seienden und nur in dieser Verknüpfung
real ist. Wenn wir überhaupt von Sein sprechen, können wir nur von
»In-der-Welt-sein« sprechen, also von »In-Zusammenhängen-stehend«. Das
besagt der erste Grundzug der Dialektik. Aber erkennend stellen wir
begrenzte, in der Begrenzung isolierte Sachverhalte als Einheit vor uns
hin; das nennen wir dann »die Sache«, und mit dieser die Relation zum
identischen Substrat verkürzenden Redeweise (die in unserer Grammatik
angelegt ist, aber auch unserer Sinneswahrnehmung entspricht - denn
schließlich sehen wir ja den Baum, den Stuhl, den anderen Menschen als
dinglichen Gegenstand und nicht als Relationenkomplex!) habe ich keine
Schwierigkeit. Sie ist sozusagen die logische Widerspiegelung der
ontischen Wirklichkeit.
Auf jeden Sachverhalt
kann ich meine Bewußtseinstätigkeit (von der Empfindung bis zur
Erkenntnis) richten. Damit trete ich als Subjekt in einer durch meine
point-de-vue bestimmten Limitation in solche gegenständlichen
Beziehungen. Das Sein der Welt, also ihre Materialität in gegenständlichen
materiellen Verhältnissen, ist mir in der Subjekt-Objekt-Relation
gegeben, diese gegenständliche Beziehung ist die ontologische
Urbeziehung. In ihr bin ich aber, als das Subjekt, ein materielles Glied,
nämlich dieser leibliche Mensch, der Empfindungen, Vorstellungen, Begriffe
usw. hat. Als dieses Glied bin ich ontisch eine »Sache« wie das
Objekt auch, und wenn ich davon absehe, verfalle ich in die Illusion, die
ontologische Stellung des Subjekts mit seiner ontischen zu verwechseln;
das ist der Paralogismus des subjektiven Idealismus, aus dem der Schein
entspringt, die richtige dialektische Auffassung der
Subjekt-Objekt-Relation (in der das Subjekt unverzichtbarer Bezugspunkt
ist) legitimiere einen metaphysischen Idealismus.
Eine Grundlegung
materialistischer Dialektik wird den Vorrang der (ontischen) Dialektik
der Natur entwickeln müssen. Medium dafür ist in meinem Modellansatz der
universelle Gebrauch der Spiegel-Metapher, die die Struktur des
Reflexionsverhältnisses zwischen Seienden einsichtig macht. Die
(ontologische und Ontologie begründende) Subjekt-Objekt-Dialektik ist nur
ein ausnehmend besonderer Fall der Naturdialektik, in der Subjektivität
entspringt. Von diesem qualitativen Sprung an würde ich auch von Subjekten
sprechen, um nicht der anthropomorphisierenden Äquivokation zu verfallen,
in der natürlichen Objekt-Objekt-Dialektik schon eine Art Natursubjekt zu
setzen. In der Arbeit enthüllt sich die vollentfaltete Struktur dieser
Dialektik, aber Marx hat sie bereits im universalen Verhältnis von
Naturseienden als gegenständliche Tätigkeit angelegt gesehen. Wo die neue
Qualität Subjektivität entsteht, beginnt dann auch der Bereich der
Erkenntnistheorie, weil Subjekte sich nicht nur in Wechselwirkung mit den
Objekten befinden, sondern diese und ihr eigenes Verhältnis zu ihnen in
allgemeinen Zeichensystemen (Begriffe, Sprache) abbilden.
Da kommen dann Ihre
richtigen Bemerkungen zur Verfassung des Denkens - als Denken von
Relationen - zum Zuge. Allerdings würde ich die Kantsche Entrückung des
Dings an sich nicht für schlüssig halten, weil widerspiegelungstheoretisch
die in der Erkenntnis von Gegenstandsrelationen (Sachverhalten) aufgefaßte
Erscheinung der Gegenstände in einer spiegelstrukturell definierten Weise
von den Sachen selbst (den »Dingen an sich«) abhängig ist. Den Terminus
Gegenstand nutze ich daher im weiteren Sinne der Spiegelbeziehung. Die
urbildliche Gestalt ist Gegenstand des Spiegels, sie steht dem Spiegel
gegenüber. Die reflektierte Gestalt ist Inhalt des Spiegels, sie erscheint
in ihm. Das Spiegelbild ist, gemäß genau angebbaren Abbildungsbedingungen,
vom Urbild unterschieden (Bespiegeltes und Gespiegeltes).
Dieser Unterschied macht den Charakter der Ontologie als Theorie des
Reflexionsverhältnisses aus.
Wenn ich die im
Schlußkapitel von »Weltentwurf und Reflexion« als Desiderat bezeichnete
Kategorienlehre noch in Angriff nehmen kann, werde ich ausführlichere
Erwägungen zu den von Ihnen aufgeworfenen Problemen anstellen. Im
Augenblick bitte ich Sie, es bei den hier gegebenen Andeutungen belassen
zu dürfen.
Herzlich Ihr Hans Heinz Holz
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