Utopie&Realität

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VI. UTOPIE UND REALITÄT

ÜBER DEN BEGRIFF DER UTOPIE

Vom Sinn und Unsinn einer real existierenden Kategorie

DIE VERHEISSUNGEN GOTTES UND DIE WIRKLICHKEIT DER WELT

Eine biblisch-theologische Besinnung

ÜBER DEN BEGRIFF DER UTOPIE

Vom Sinn und Unsinn einer real existierenden Kategorie

[in: Weißenseer Blätter 1/1992, S. 11-27]

Der Umgang mit dem Utopie-Begriff ist mühsam geworden - zumal in einer Zeit, in der von Utopien zwar vielerorts die Rede ist, doch niemand wirklich welche hat. Auch dafür gibt es Gründe, verständliche. Wer gibt schon gerne Niederlagen zu. Und wenn es denn sein muß: Jawohl, der Sozialismus ist perdu, aber, bitteschön, nicht die sozialistische Utopie! Das klingt manchmal sogar trotzig. Und wer nicht mehr gerne trotzt, der kann mit dieser These und etwas Larmoyanz auch seinen Rückzug nachholen: vom abgewickelten Marx zum (noch) tolerierten Bloch. Danach wird man weitersehen. Den dritten Weg gibt es natürlich auch mit seiner komfortablen Formel: das Ende des Sozialismus = die Befreiung der Utopie aus der Unrechtsherrschaft des Real-Existierenden. Endlich können wir wieder ungestört Utopien haben! Die Bonner Politoffiziere wissen wahrscheinlich, daß es töricht wäre, den Utopie-Begriff auf den Index zu setzen. Utopien braucht man nicht abzuwickeln. Im Gegenteil. Im deutschen Supermarkt der Ideologien haben sie geradezu Präsenzpflicht. Schließlich soll es da für jeden etwas geben - solange man nicht gerade nach Altlasten fragt. Und für wen selbst der Utopie-Begriff eine Altlast geworden ist, der kann sich natürlich auch zum Umtausch einreihen: zwei veraltete Utopien gegen eine neu-deutsche Gesinnung.

Der Umgang mit dem Utopie-Begriff ist in der Tat mühsam geworden. Schwierig war er aber schon immer. Auch dafür gibt es Gründe. Dem Worte »Utopie« fehlt ja das Wesentliche einer Sprache: die Kraft, konkret zu definieren und also zu bezeichnen, zu benennen. »Utopie« ist nicht nur ein Kunstwort, es scheint geradezu ein Un-Wort zu sein, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht. Wohl wissen wir darum, daß Wirklichkeit so komplex werden kann, daß die Sprache versagt. Dann »fehlen uns die Worte«, läßt sich Tatsächliches »nicht mehr in Worte fassen«. Die Sprache kann uns erschlagen werden. Und wir reflektieren dies, auch sprachlich, vielgestaltig - bis hin zu Wendungen, in denen bewußt Verzicht geleistet wird: »Das spottet jeder Beschreibung«. Anders und ganz im Gegensatz dazu der Utopie-Begriff. Hier haben wir ein Wort, dem sich die Wirklichkeit versagt. Das Wort von der Utopie hat kein reales Gegenüber. Es scheint tatsächlich ortlos zu sein - ou-topos: kein Ort, nirgends. Das Derivat »utopisch« ist denn auch primär mit dieser Ortslosigkeit verbunden. Die Bedeutungsgeschichte hat sich festgelegt: »Utopisch« heißt unwirklich und: niemals Realität werdend. Das macht Sinn. Das Beiwort »utopisch« ist zu einer präzisen Beschreibung geworden und zugleich zu einem Verdikt, mit dem man Gedanken und Ideen erschlagen kann - jedenfalls abtun und ignorieren. Auch umgangssprachlich hat sich dieser Pejorativ einen festen Platz erobert. »Völlig utopisch« meint: unerreichbar, nicht zu schaffen. Und schon ist jeder der Notwendigkeit enthoben, dem als »unerreichbar« Disqualifizierten nachgehen zu müssen.

Wiewohl das Adjektiv »utopisch« von der Insel »Utopia« herübergekommen ist, inzwischen meint es geradezu das Gegenteil von Utopie. Der Wortsinn hat sich pervertiert. »Utopisch« ist, was niemals kommt. Dann allerdings müßte es tatsächlich heißen: weg von der Utopie, hin zur Wissenschaft. Wer heute von Utopie spricht, dem ist es kaum möglich, den Pejorativ »utopisch« herauszuhalten. Selbst wenn er kategorisch unterscheidet, der Utopie-Begriff bleibt vom »Utopischen« besetzt. Besetzt aber bleibt er auch vom »Utopismus«, der sich begeistert am Entwurf der neuen Welt und ihr auch Chancen einräumt, aber letztlich doch nur literarisch und also stecken bleibt im Leserkreis von Jüngern - auch wenn man hin und wieder kleine Inseln gründet. Würde dieser »Utopismus« zum Kern des Utopie-Begriffs gehören, dann müßte man auch hier mit Marx und Engels sagen: weg von der Utopie, hin zur Wissenschaft, die auf Geschichte zielt und Wege zeigt, die Neues möglich machen. Die Frage aber ist: Läßt sich der Begriff der Utopie tatsächlich nur in jener Perspektive orten, in der er dann mit (Hegelscher?) Notwendigkeit »utopistisch« werden muß und, weil von der Geschichte eingeholt und überholt, »allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung« verliert[1]?

Die Versuche, den zum Pejorativ »utopisch« degradierten und unter dem Utopismus-Verdikt stehenden Begriff der Utopie zu rehabilitieren, sind im 20. Jahrhundert nicht gerade zahlreich - und, um die Provokation gleich vorwegzunehmen, auch nicht übermäßig hilfreich. Das Verdienst, den Utopie-Begriff überhaupt wieder ernst genommen zu haben, wird relativiert durch eine Interpretation, die der ursprünglichen Herausforderung der Insel »Utopia« nicht entspricht. Das Läßt sich an drei ganz unterschiedlichen Interpretationsansätzen verdeutlichen - an Ernst Bloch, an Paul Tillich und an Karl Mannheim.

DAS PRINZIP HOFFNUNG

Blochs Ansatz ist der Mensch - ein »Mangelwesen«, wie er sagt. Ein »Mangelwesen par excellence«. Weit schlimmer dran als jedes Tier, das seinen Hunger mit nur wenig Aufwand stillen kann. Der Mensch muß Pläne schmieden, um dem Hunger beizukommen, um sich zu schützen, um sich auszurüsten für das reine Überleben. Er muß erst etwas werden, um sein und bleiben zu können. Er lebt im permanenten Vorgriff auf die Gegenwart, die er nur besteht, wenn er ihr vorauseilt. In allem muß er Vorsorge treffen, planen, bedenken, Gedanken entwerfen und also Ideen entwickeln, die Übergänge tragen von einem Tag zum anderen. Die Ideen fallen nicht vom Himmel. Sie werden aus der Not geboren. Der Mangel ist die Mutter allen Denkens - und: aller Utopie. Denn Utopie, so Bloch, ist das »reflektiert-antizipierte« Verhältnis des Menschen zu seiner Gegenwart, für die er Zukunft beansprucht. Das will sagen: wer das Heute über-leben will, der muß sich gedanklich bereits in Zukünftigem einrichten, er muß antizipieren, Bilder entwerfen, Vorstellungen entwickeln, die heute zwar noch keinen konkreten Ort haben, utopisch sind, aber gerade darin dem gegenwärtigen Ort ganz nahe, als sie dem Gegenwärtigen Zukunft eröffnen. Ganz lapidar heißt das: »nichts in der Nähe kann geschehen ohne ein Fernziel« - also ohne das »Prinzip Hoffnung«, ohne Utopie. »Das Utopische selbst ist das Charakteristikum des Menschen.«[2] Nur er bewohnt diesen Topos. Utopie als antizipierte Realität. Verläßt der Mensch diesen Topos des Utopischen, bringt er sich um seine Existenz. Die Geschichte der Menschheit ist nicht nur ein materiell-ökonomischer Prozeß, sondern als ein solcher ist sie zugleich auch ein Prozeß sich not-wendig entwickelnder Ideen, die je und je den Vorlauf für Zukünftiges schaffen. Das Noch-Nicht muß vorgedacht werden - ohne Hemmungen, ganz radikal und also ganz utopisch Neues formulierend, das noch nicht verplant ist.

Bereits in seinem ersten großen Werk von 1918, »Geist der Utopie«, hat Bloch diese anthropologische Perspektive von Utopie in die Geistesgeschichte eingezeichnet. In den 1954, 1955 und 1959 erschienenen drei Bänden seines Hauptwerkes »Das Prinzip Hoffnung« weitet sich diese Perspektive nachgerade zu einer weltgeschichtlichen Teleologie, in der Fortschritt als fortschreitend antizipierendes Bewußtsein vorgestellt wird, dem die Latenz zum »Reich der Freiheit« innewohnt. Hier gründet das Prinzip jener Hoffnung, die auf die prinzipielle Einlösbarkeit des Utopischen setzt - vorausgesetzt, der Mensch bleibt utopiebefähigt. Blochs leidenschaftliche Affirmation des Utopie-Begriffs hat ebenso Anstoß erregt wie sein eindringlicher Versuch, hier Transparenz zu schaffen. Anstoß in doppelter Weise und in fast alle Richtungen. Anstößig vor allem auch der große Zusammenhang, in dem Bloch die Religionsgeschichte ortet. Auch Theologen reagierten herausgefordert, denn Blochs Interpretation von Religion will auch aufklärerisch entmythologisieren. Jürgen Moltmanns 1964 erschienene »Theologie der Hoffnung« verstand sich denn auch bewußt als Auseinandersetzung mit dem »Prinzip Hoffnung«, das zurückgeholt werden sollte unter den Anspruch christlicher Tradition. Blochs Religionstheorie ist nicht als Religionskritik entworfen. Eher ganz das Gegenteil von Kritik: Religion als Träger des Utopischen, Religion als Hoffnung. Jedenfalls war sie einst der Inbegriff von Utopie, in der sich die Antizipation einer neuen, einer besseren Welt ereignet. Eschaton und Jenseits als charakteristische Signaturen von U-topia. Religion als das vorweggenommene Noch-Nicht. »Die großen Menschheitsreligionen waren dem Willen zur besseren Welt oft seine mißbrauchende Vertröstung, lange aber auch sein geschmücktester Raum, ja sein ganzes Gebäude.«[3] Sie »waren«, sagt Bloch und will damit sagen: Ohne Utopie keine Religion. Moltmanns Antithese: Ohne Religion keine Utopie. Aber Bloch bleibt dabei: Nicht die Religion hat die Utopie geboren. Der auf Utopie angewiesene Mensch hat sich in der Religion einen Raum geschaffen, in dem das Utopische um sich greifen konnte - auch quantitativ, die Massen ergreifend. Säkularisierung bedeutet nicht das Ende der Utopie, sondern nur ihren Auszug aus der Religion - und diesem Auszug eigne Logik, wenn die »bessere Welt« nicht ewig Jenseits bleiben will. Der Auszug selber ist schon wieder ganz konkrete Utopie, denn nun soll diese neue Welt auch wirklich werden, wenigstens latent nicht ewig Jenseits bleiben. Hegels Apotheose wird in diesem Utopie-Prinzip der Hoffnung nicht erreicht. Wiewohl das »Reich der Freiheit« immer näher rückt - die Utopie hat stets ein letztes Wort. Und sollte dieses einmal nicht mehr ausgesprochen werden, droht der Untergang: »ohne Dimension Zukunft, uns als adäquat denkbar, aktivierbar bleibend, hält es ohnehin kein Dasein lange aus.«[4]

DER MYTHOS VOM PARADIES

»Menschsein heißt: Utopie haben.« Dieser Satz könnte bei dem Philosophen Ernst Bloch stehen. Er stammt aber von dem Religionstheologen Paul Tillich - aus einem Vortragszyklus von 1951 zu dem Thema »Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker«. Utopie ist für Tillich weit weniger ein so zentrales Thema wie für Bloch, dessen Menschenbild in Horizont und Mitte utopiebesetzt ist. Aber auch für Tillich ist das Problem der Utopie ein Phänomen der Anthropologie. »Die Utopie ist verwurzelt im Menschen selbst.«[5] Aber dieses »Menschsein selbst« sieht doch ganz anders aus als bei Ernst Bloch. Blochs Mensch ist ein Mensch im Werden, und er wird durch Antizipation. Er muß werden, um bleiben zu können, denn er ist von Hause aus ein »Mangelwesen«. Er fängt mit nichts an. Alles muß er erst erwerben. Und so lebt und webt er permanent im Fernziel, im Utopischen.

Ganz anders Tillich, dessen Anthropologie eingebunden ist in den theologisch formulierten Kontrast von »Essenz« und »Existenz«. Tillichs Mensch ist nicht im Werden - er ist »gefallen« und nicht mehr das, was er ursprünglich einmal war. Er hat seine Eigentlichkeit verloren, sein wahres Wesen, die Essenz. Nun kann er nur noch existieren - herausgehalten aus seiner Ursprünglichkeit. Ein endliches Wesen in Not und Unvollkommenheit. In gewisser Weise also durchaus auch ein Mangelwesen. Aber für Tillich gründet dieser Mangel im Verlust des Wesens, im Fall, im Ausschluß aus dem Paradies. Der Mensch lebt nicht mehr im Garten Gottes.

Und das hat Konsequenzen, die dramatisch sind. Mit dem Verlust der Unmittelbarkeit Gottes verliert er sein eigenes Ganz- und Heilsein. Er verliert den Sinn für die Einheit der Wirklichkeit. Aber: er bleibt am Leben, er existiert, gebrochen zwar und oft genug zerbrochen - doch gleichsam mit Erinnerung. Entfremdet, doch nicht bewußtlos. Der Urstand vor dem Fall ist nicht vergessen. Er bleibt nicht spurlos. Und eine seiner Spuren ist die Utopie. Es ist auffällig, sagt Tillich, daß sich Utopien meistens »ein Fundament in der Vergangenheit« schaffen. Sie blicken nach vorn und nehmen zugleich Anhalt im Rückgriff. Das Ideale der Zukunft ist das, was man »einst« in der Vergangenheit träumte - oder das, von dem man herkommt und zu dem man zurück will. »Es ist eins der erstaunlichsten Phänomene des menschlichen Denkens, in der Symbolbesetzung im Religiösen, im Mythischen, Politischen, Ästhetischen, überall, daß Vergangenheit und Zukunft Korrelate sind, daß die Vergangenheit des Ursprungs und die Zukunft des Zieles sich entsprechen.«[6] Und Tillich verweist auf den stoischen Begriff des »goldenen Zeitalters«, das in der Vergangenheit liegt und nach dem Weltbrand wiederkommen wird. Und natürlich auf das Symbol des Paradieses, das verloren ist und am Ende der Tage wiederhergestellt wird. Er erinnert an Rousseaus »Zurück zur Natur«, zum ursprünglich reinen Naturzustand, der durch die Kultur verdorben ist. Und nicht zuletzt an die Utopie des »Urkommunismus« als der Urmotivation einer klassenlosen Gesellschaft der Zukunft. Selbst das Märchen mit dem phantastisch glücklichen Ausgang beginnt: Es war einmal.

Die Utopie, so Tillich, projiziert den anthropologisch-ontologischen Unterschied von Essenz und Existenz, von Wesen und Wirklichkeit in die zeitliche Dimension einer Urzeit-Endzeit-Struktur. Dazwischen lebt der Mensch - in Erwartung des kommenden Endes. Und die großen Utopien werden mit dem Glauben geboren, im letzten Zeitalter vor der apokalyptischen Restitution zu stehen - wenigstens aber vor dem Beginn des tausendjährigen Reiches, dem »Himmelreich auf Erden«, in dem (gemäß der Offenbarung des Johannes 20,1-10) die Macht des Satans gebannt ist. Der Chiliasmus als die große Utopie altchristlicher Tradition - von Augustin bekämpft, schon von Origenes, doch immer wieder aufgebrochen - als Protest gegen Welt und Kirche. Doch es ist symptomatisch: Was in den ersten beiden Jahrhunderten der Kirchengeschichte fast Allgemeingut ist, verliert sich nach und nach in Konventikeln ausgegrenzter Sekten, wird von der offiziellen Kirche denunziert. Joachimiten gehören ins Gefängnis. Wiedertäufer muß man rädern und enthaupten. Auch wenn man heutzutage an Thomas Müntzer nicht mehr vorbeikommt - das Täuferreich zu Münster bleibt ein Monster, ganz gräßlich anzuschauen.

»Menschsein heißt Utopie haben.« Für Tillich bedeutet dieser Satz denn doch etwas anderes als für Bloch. Bei Bloch müßte es letztlich lauten: »Utopie haben heißt: Menschsein.« Die Differenz ist mehr als nur eine Nuance. Es geht um Kontradiktionen. Für Tillich heißt Menschsein: einen Ursprung haben, aus dem die Utopie sich speist. Utopie erinnert an das Wesen, das gewesen ist und nach dem Fall als Existenz den Widerspruch erfährt, der aufgehoben werden soll und doch bestehen bleibt. Wo immer Utopien in politische Realität überführt werden, da läuft der Widerspruch zwangsläufig mit, denn letztlich bleibt der Mensch an seine Existenz gebunden. Und das hat Folgen für die Weltgeschichte insgesamt. Jede Revolution fraß bisher ihre Kinder. Das »Reich der Freiheit« bleibt das Paradies.

IDEOLOGIE UND UTOPIE

»Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet.« Das ist die zunächst recht harmlos klingende Grundthese Karl Mannheims in seinem 1929 erschienenen Werk »Ideologie und Utopie«[7].

Mannheim ist Soziologe, ein Protagonist der sogenannten »Wissenssoziologie« - ein von Marx inspirierter Marx-Kritiker, der verbunden bleibt mit seiner Quelle, aus der er schöpft, um, so Georg Lukács, gegen den Strom rudern zu können. Das Abstraktum »Mensch« kommt bei ihm jedenfalls nicht vor. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, und was er weiß und denkt, hat im Sozialen seinen Hintergrund. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein. Und das gesellschaftliche Sein ist immer konkret. Auch wenn sich nicht alle Bezüge gleichermaßen klar ausleuchten lassen - die »soziale Seinsgebundenheit« des Bewußtseins läßt sich nicht bestreiten. Und nicht bestreiten läßt sich auch, daß diese »Seinsgebundenheit« ganz unterschiedlich ausfällt und natürlich auch in Klassen zerfällt, in Herrschende und Beherrschte, in upperclass and underground, in Kapital und Arbeit. Zum status quo des Herrschens gehört es, nicht nur keine Utopien zu haben, sondern das Utopische auch mit allen Mitteln zu bekämpfen, denn die jeweilige Herrschaft befindet sich sehr wohl »in Deckung« mit dem gegebenen gesellschaftlichen Sein und will, daß das so bleibt. Wer dieses aus guten Gründen nicht will, der wird Protest anmelden, auf die Defizite verweisen, auf das Ungenügen, auf die Unvollkommenheit. Er wird sich in seinem Denken und Handeln nicht am Gegebenen orientieren, sondern vielmehr an dem, was nicht ist. Das allein aber macht, so Mannheim, noch keine Utopie. Die reine Phantasie, die sich aus den Zwängen des Faktischen zurückzuziehen versucht, indem sie sich illusionär in wirklichkeitsfremde Idealwelten versetzt, ist noch lange nicht der Inbegriff von Utopie, denn: »Man kann sich an wirklichkeitsfremden, seinstranszendenten Faktoren orientieren und dennoch in der Richtung der Verwirklichung beziehungsweise der steten Reproduktion der bestehenden Lebensordnung wirken.«[8] Gegen Illusionen hat die Herrschaft also nichts, auch wenn sie sich in der Gestalt utopischer Gemälde präsentieren. Im Gegenteil. Illusionen sind dem status quo willkommen. Sie bestätigen ja gerade den Realitätswert des Gegebenen, wenn auch nur indirekt, vermittelt. Illusionen sind aber auch eben keine Utopien, denn utopisch im eigentlichen Sinne ist nur jene »›wirklichkeitstranszendente‹ Orientierung«, »die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt«[9].

Das klingt schon weniger harmlos, denn jetzt wird die Machtfrage gestellt. Revolution steht ins Haus. Und prompt reagiert auch die Herrschaft: die Utopie wird mit Ideologie bekämpft. Was zunächst aussieht wie eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Ideologien, das ist in Wahrheit die Konfrontation von Utopie und Ideologie. Das Charakteristische der Ideologie besteht nämlich darin, daß hier »seinstranszendente Vorstellungen« das Wort haben, die »de facto niemals zur Verwirklichung des in ihnen vorgestellten Gehaltes gelangen«[10]. Auch dort, wo sich die Ideologie über den status quo hinaushebt, geht es ihr letztlich nur um dessen Verteidigung, selbst dann, wenn von Reform und Veränderung die Rede ist. Mannheim will bewußt definieren: Utopie sprengt das Gegebene; Ideologie zielt auf dessen Bewahrung und Verteidigung - und letzteres durchaus in doppelter Gestalt, als unreflektiertes Bewußtsein des Einverständnisses und als bewußt eingesetztes Instrument im Kampf um die Köpfe der Leute: Ideologie als Demagogie.

Und was geschieht, wenn die Utopiker den Kampf gewinnen? Ganz einfach: Das Ganze geht von vorne los. Die neuen Herren werden Ideologen, die den neuen status quo verteidigen - gegen die neuen Utopien. Und so weiter, bis es vielleicht einmal gar keine Utopien mehr gibt. Das aber wäre das Ende der Menschwerdung des Menschen. Mannheim schließt ein solches Ende nicht aus.

DER TRAUM ALLER TRÄUME

Die Skizzen über Bloch, Tillich und Mannheim sind nur Abbreviaturen. Sie zeigen aber die Verlegenheit, in der sich der Utopie-Begriff befindet: allen drei Interpretationsansätzen liegt ein unterschiedliches Utopie-Verständnis zugrunde; drei Hermeneuten formulieren unter einem Namen je einen anderen Inbegriff von Utopie und kommen so zu drei verschiedenen Begriffen.

Für Bloch ist Utopie eine anthropologische Kategorie. Weil »der« Mensch seine Gegenwart nur im permanenten Vorgriff auf Zukunft bewältigen kann, wird Utopie zum Inbegriff des Menschseins. Hoffnung wird zum Prinzip des Überlebens. Und weil »der« Mensch jeder Mensch ist, haben alle irgendeine Utopie - und sei es nur die populäre Hoffnung auf die kleine Zukunft.

Für Tillich ist Utopie ein Indiz für die »Entfremdung« des Menschen von seiner (theologisch gedeuteten) Ursprünglichkeit. »Essenz« und »Existenz« fallen auseinander. Die Utopie der heilen Welt wird zur »seinsmächtigen« Erinnerung an den Ursprung. Aber nicht jeder hat solche Erinnerungen. Utopien sind elitär. Sie werden nicht getragen von jenen, »die auf der untersten ökonomischen Stufe stehen und deren Unzufriedenheit grundsätzlich ökonomisch und sonst nichts ist«[11]. Sic!

Für Mannheim gibt es nicht »den« Menschen und also keine Anthropologie im asozialen Raum. Utopie ist für ihn vielmehr der Inbegriff gesellschaftlicher Entwicklung, eine sozial eingebundene Antithese, die wieder zur These wird, wenn sie zur Macht gelangt, um dann dem neuen Anti zu begegnen. Utopie ist eine Kategorie der Entwicklung in wissenssoziologischer Perspektive. Als solche ist sie weder elitär noch prinzipiell populär.

Das Dilemma ist perfekt: »Utopie« scheint eine deutungsoffene Kategorie zu sein, flexibel einsetzbar, ein wenig auch Verwirrung stiftend - weil nie restlos definiert und definierbar, jedenfalls ohne Deuteworte nicht ganz verständlich und eigentlich kein wirklicher Begriff, der zu Verständnis führt, das ohne Interpretation bleiben kann. Die aber fallen, wie gezeigt, ganz unterschiedlich aus.

Wäre es da nicht eigentlich seriöser, dem Utopie-Begriff den Abschied zu geben, statt ihn immer wieder neu zu wenden und auch zu beschwören - wie eine magische Formel, von der man nicht lassen kann, weil die Welterklärungsformeln nicht oder noch nicht oder nicht mehr greifen?

Bloch, Tillich und Mannheim sind bei aller Differenz aber in einem einig: sie wollen den Begriff der Utopie verteidigen gegen das vulgäre Verdikt »Völlig utopisch!«; sie wollen ihm den »Utopismus«-Makel nehmen, den Begriff wenigstens intellektuell repatriieren. Und sie wollen dabei doch nicht grundsätzlich auf die patentierte Formel verzichten: Utopie ist der Traum vom Besseren, von der verbesserten Welt, vom Ideal des Lebens.

Natürlich klingt das bei ihnen nicht so platt. Es soll ja gerade nicht banal und abgegriffen klingen. Es soll ja gerade gezeigt werden, wie der zu Kitsch und Science-fiction verkommene »Traum aller Träume« weder das eine noch das andere ist, sondern etwas ganz Grundsätzliches mit einer Mensch und Gesellschaft bewegenden Dynamik, ein Lebensprinzip (Bloch), eine gesellschaftliche Entwicklungskraft (Mannheim), wenigstens aber ein Urphänomen, das Wirkung zeitigt (Tillich). Aber die Formel bleibt: Utopie ist das, »was ›sein soll‹« und noch nicht ist.

Auch ein Martin Buber geht ganz selbstverständlich von dieser Übereinkunft aus[12]. Und noch Jürgen Habermas kann 1984 - »Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien« - ganz unbedenklich eben diese Formel rezipieren, um sie anschließend zu konfrontieren mit der These: Utopien reden von der besseren Zukunft, aber heute ist allein schon der Begriff der Zukunft negativ besetzt. Im Horizont der gegenwärtigen Gefährdungen der Gattung Mensch haben Utopien kaum noch Relevanz. Die utopischen Energien sind erschöpft[13].

Wenn der Begriff der Utopie tatsächlich nur eingebunden gedacht werden kann in den Verrechnungsanspruch von Soll und Haben, dann läßt sich natürlich auch Utopie-Geschichte schreiben, denn Differenz gab es an diesem Punkt schon immer. Und - eigenartig genug - in dieser Frage gibt es keinen Unterschied zwischen Arthur von Kirchheims 1892 erschienener »Schlaraffia politica - Geschichte der Dichtungen vom besten Staat« und Ernst Blochs »Abriß der Sozialutopien« von 1946: »Freiheit und Ordnung«. Beide beginnen ganz antik und eigentlich mit Platon. Wer aber sagt, daß Platon eine »Utopie« geschrieben hat im Sinne jener Formel, die von Soll und Haben handelt?!

Man braucht nicht einmal Karl Raimund Poppers beißende Kritik an Platon zu teilen[14], um in der »Politeia« alles andere als eine Vision von einer »besseren Welt« zu sehen. Aber das Vorurteil wirkt unumstößlich: Platons »Politeia« ist »die erste wirkliche Utopie, das Urbild so vieler späteren«[15]. Platon ist der große Utopiker der Antike. »Er steht am Anfang aller literarischen Utopien«[16].

Vielleicht ist das ja wirklich so. Nur: wenn es so ist, wenn Platons großer Dialog über den Staat tatsächlich eine »Utopie« genannt werden kann, dann kann der Begriff der Utopie unmöglich identisch sein mit dem »Traum aller Träume«. Die »Politeia« ist ein reiner Alptraum.

Die Frage nach dem eigentlichen Skopus des Utopie-Begriffs läßt sich nicht abstrakt beantworten. »Utopie« versteht sich nicht von selbst. »Utopie« ist nicht selbstverständlich in jenem Sinne, der sich selbstverständlich einstellt, wenn es um das bloße Ungenügen geht, um die qualitative Differenz zwischen erlebter und erwünschter Lebensmöglichkeit, um die Hoffnung auf die Weltverbesserung. Wann hätte es eine solche Hoffnung nicht gegeben?! Wann wäre der Grund für ein solches Hoffen nicht allzu plausibel gewesen?!

Wer den Begriff der Utopie in dieser Sehnsucht deponiert, pflegt Umgang mit einem Wort, das austauschbar wird mit anderen Worten, die treffender sind. Bloch hat das (nolens volens?) vorgeführt: nicht Utopie - Hoffnung ist für ihn das entscheidende Wort. Wer aber sagt, daß sich »Utopie« auf »Hoffnung« reimt, daß »Utopie« an das »Paradies« erinnert, daß »Utopie« die Triebkraft zur »Höherentwicklung« ist?!

Was der Utopie-Begriff besagt, läßt sich ausschließlich dort festmachen, wo er Eingang gefunden hat in unsere Sprache. »Utopie« ist kein archaischer Menschheitsbegriff. »Utopia« ist ein Wort des Thomas Morus aus dem Jahre 1516 - ein Kunstwort zudem, eine Wortschöpfung, die offensichtlich notwendig wurde, um etwas zum Ausdruck bringen zu können, was ganz und gar nicht selbstverständlich war.

DIE ALTERNATIVE AM ABGRUND

An Thomas Morus »Utopia« von 1516 scheiden sich die Geister. Während die einen dieses Werk für die feinsinnige Stilübung eines gebildeten Menschenfreundes ausgeben und die römische Kurie glaubwürdig versichern würde, daß Morus nicht etwa als Vorläufer von Marx 1935 heiliggesprochen wurde, zielt die marxistische Morus-Interpretation gerade auf die »gedanklich vorweggenommene kommunistische Gütergemeinschaft«, auf die hin »das ganze Buch angelegt« sei[17].

Morus ist in der Tat nicht aus gesellschaftskritischen, sondern aus kirchenpolitischen Gründen heiliggesprochen worden. Schließlich hatte er dem abtrünnigen Heinrich VIII. widerstanden und sich nicht von Rom getrennt. Und tatsächlich nimmt in »Utopia« die Gütergemeinschaft samt den sie begleitenden Neuerungen einen zentralen Platz ein: Abschaffung des Geldes, Einführung einer menschenfreundlichen Arbeitskultur, einer allgemeinen kommunalen Kranken- und Altenpflege, eines allgemeinen und gleichberechtigten Bildungssystems. Bis hin zu den fakultativen Gemeinschaftsmahlzeiten steht »Utopia« im Zeichen einer kommunalisierten Humanität. Humanität ist in »Utopia« Staatsdoktrin. Ein wunderbares Land, von dem allein nur so konkret zu träumen im Jahre 1516 eine außergewöhnliche Leistung gewesen wäre. Thomas Morus aber träumt gar nicht von einem Paradies. »Utopia« ist für Morus nicht der Entwurf einer idealen Möglichkeit, sondern einer realen Notwendigkeit. Denn die alles entscheidende Frage, die diesen Entwurf bestimmt, zielt nicht auf ein Land, in dem »Milch und Honig fließen«, sondern auf einen Staat, der Bestand und also Zukunft hat.

Des Raphael Hythlodeus Bericht über die Insel Utopia schließt mit einer Quintessenz, die alles trägt: Die Utopier »haben sich Lebenseinrichtungen geschaffen, mit denen sie das Fundament eines Staates legten, dem nicht nur das höchste Glück, sondern, nach menschlicher Voraussicht wenigstens, auch ewige Dauer beschieden ist. Seitdem sie nämlich im Inneren Ehrgeiz und Parteisucht ebenso wie die anderen Laster mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben, droht keine Gefahr mehr, daß sie unter innerem Zwist zu leiden haben, der schon vielfach die alleinige Ursache des Untergangs von Städten gewesen ist, deren Macht und Wohlstand trefflich gesichert war. Solange jedoch die Eintracht im Inneren und die gesunde Verfassung erhalten bleiben, ist der Neid auch aller benachbarten Fürsten nicht imstande, das Reich zu zerrütten und zu erschüttern, was er vor langer Zeit zwar schon zu wiederholten Malen, aber immer ohne Erfolg versucht hat.«[18]

Karl Kautsky hat in seiner Morus-Biographie[19] sehr ausführlich die ökonomischen und sozialen Umwälzungen beschrieben, die das englische Königreich mit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts in jene dramatische Krise stürzten, die von Morus in »Utopia« geschildert wird. Die frühkapitalistische Entwicklung setzte besonders in England katastrophale Prozesse in Gang. Der Verfall des Feudaladels überschwemmte das Land mit seiner nunmehr vogelfreien Gefolgschaft. Massen von Bauern wurden Opfer der neuen Landbesitzer und ihrer allein auf die Wollmanufakturen abgestellten Schafzucht. Handwerker unterlagen der neuen Manufakturkonkurrenz, und aus einst wohlversorgten Militärs wurden marodierende Räuberbanden. England drohte im Chaos zu versinken, in Elend und Anarchie. Was Marx etwa dreieinhalb Jahrhunderte später im »Kapital« theoretisch (auch unter Aufnahme drastischer Schilderungen in »Utopia«[20]) darstellen konnte als »ursprüngliche Akkumulation« des Kapitals und also als eine Übergangsphase, das war für Thomas Morus alles andere als ein zukunftsträchtiger Progreß. Für Morus war das praktisch das Ende seines Staates, der Untergang und also eine Katastrophe.

Und in eben dieser Katastrophenstimmung wurde »Utopia« geschrieben - nicht als ein verspielter Entwurf eines idealen Staates, sondern als eine Denk-Schrift, die den Ausweg aus der Katastrophe weisen will. »Utopia« verdankt sich nicht einer grenzenlosen humanistischen Phantasie, sondern der not-wendigen Frage nach dem möglichen Ausweg eines Staates, der vor dem Abgrund steht.

Der Ausweg, den Morus denkbar machen will, ist kühn und radikal. Wer vor dem Abgrund steht, der kann nur noch umkehren. Am Abgrund zählen keine Reformprogramme; es gibt nur noch Alternativen. Ein Staat, der kopfsteht, muß auf die Füße gestellt werden, das heißt die Gesamtheit seiner traditionellen und offenkundig unheilvollen politischen und gesellschaftlichen Prinzipien muß umgekehrt werden - geradezu ins glatte Gegenteil. Und genau dies tut Morus in »Utopia«. Die »Wende« wirkt total und zielt auf alles, was gewendet werden kann und muß. Vor allem zielt sie auf das Denken. »Verkehrte Meinungen« muß man »mit der Wurzel ausrotten«[21]. Und da gibt es vieles auszurotten: die unselige Meinung, daß es wichtiger ist, neue Reiche zu erobern, statt das eigene gut zu verwalten (S. 16); daß Kriege unvermeidlich sind und nicht das Ergebnis einer planmäßigen und vorsätzlichen Kriegspolitik (S. 22); daß sich die Fürsten und ihre Berater vornehmlich mit militärischen Fragen und nicht mit der Kunst des Friedens zu befassen haben (S. 16; 36f.); daß eine volle Kriegskasse die Sicherheit des Landes befestigt und nicht seinen Untergang herbeiführt (S. 41); daß Kriegsruhm etwas Großes ist und nicht etwas erbärmlich Unrühmliches (S. 102); daß man sich als Besitzer einer Stadt und nicht als deren Bebauer zu betrachten hat (S. 51).

Die Friedensfrage nimmt in »Utopia« verständlicherweise einen breiten Raum ein. Aber nicht nur hier muß total umgedacht werden, wenn der Staat Bestand und Zukunft haben soll. Sämtliche konventionellen Maßstäbe bedürfen einer neuen Legitimation und, wenn nötig, einer »Revolutionierung«. Weil das Elend Ursachen hat, muß man die Ursachen beseitigen und nicht etwa Todesstrafe für Tagediebe verhängen (S. 24,27). Weil der Besitz immer auf Kosten anderer geht (S. 47), muß man das Privateigentum abschaffen und natürlich auch das Geld, das Armut ja erst schafft (S. 45f.). Und selbstverständlich haben die Bordelle zu verschwinden (S. 70), und - Morus treibt es in den eklatanten Widerspruch - aus Gold und Silber darf man höchstens Nachttöpfe machen, nicht aber prunkvolles Tafelgeschirr (S. 72f.). Wer die Jagd liebt, der haßt das Leben (S. 83f.); wer einen Krüppel verlacht, der ist ein Unmensch; wer sich schminkt, der ist ein Idiot (S. 97). Reichtum aber ist: »völlig frei von jeder Sorge, heiteren Sinnes und ruhigen Herzens zu leben, nicht um seinen eigenen Lebensunterhalt ängstlich besorgt ..., ohne Furcht, der Sohn könne in Not geraten, ohne Angst und Bangen um die Mitgift der Tochter, sondern unbesorgt um den eigenen Lebensunterhalt und um den der Seinen, der Gattin, der Söhne, der Enkel, Urenkel und Ururenkel ...« (S. 126f.). Was für ein Satz im Jahre 1516 - im Jahre 1992! 1516 wirkt ein solcher Eingriff in das Gewohnte geradezu töricht. Morus weiß das und läßt denn auch seinen Possenreißer auftreten. Und dieser ist es, der sich anbietet, den Vorschlag zu verteidigen, man solle doch eigentlich alle Kranken und Alten und in Not Geratenen und Arbeitsunfähigen staatlich versorgen (S. 32). In Utopia gibt es keine Obdachlosen, keine Arbeitslosen und keine Millionäre. Ein völlig irrealer Gedanke - 1516 und 1992! Völlig allein steht Morus mit dieser »kopernikanischen Wende« im Grundsätzlichen nicht. Sie ist ein Teil der humanistischen Bewegung, die die Seiten verkehrt, das Obere nach unten schichtet und neue Dekaloge schafft. »Lob der Torheit« heißt die später vielgerühmte Schrift des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahre 1509. Und irgendwie erinnert dieser »Paradigmenwechsel« - trotz aller Differenz - an Paulus: »Was die Welt für töricht hält, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen« (1.Kor. 1,27).

Was ist Utopie? Für Thomas Morus jedenfalls nicht der Traum von einer besseren Welt, die Hoffnung auf Verbesserung, die Erinnerung an einen »Urstand«, ein Entwicklungsprinzip der Geschichte. In »Utopia« sieht es in der Tat ganz anders aus als im England Heinrich VIII. Aber: es muß alles eben ganz anders aussehen, wenn England Bestand haben will. »Utopia« ist der kategorische Imperativ zu einem grundsätzlich neuen Denken angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die sich in den Kategorien apokalyptischer Endzeit beschreiben läßt. (Anmerkung 1: Ich benutze den Begriff »neues Denken«, nicht obwohl er vom Gorbatschowismus mißbraucht wurde, sondern gerade weil er ad absurdum geführt werden sollte und heute deutlicher als bisher gesagt werden muß: Gorbatschowismus und Neues Denken schließen sich gegenseitig aus.) »Utopia« ist für Morus zugleich der präzise Ausdruck dafür, daß das von ihm eingeforderte neue Denken am Abgrund der Katastrophe in dieser Welt noch keinen Ort hat. Ou-topos: kein Ort, nirgends, wo so gedacht wird. Das aber nimmt dem Begriff der Utopie jegliche Erbaulichkeit. Wer mit Morus von Utopie spricht, der redet nicht einfach von Zukünftigem, sondern davon, daß es für die Zukunft in der Gegenwart noch keinen Ort gibt. Morus ist kein Optimist, dem es gegeben ist zu glauben, es werde schon alles irgendwie werden. Seinem Realismus eignet eher Pessimismus, der im Begriff U-topia zum Ausdruck kommt und Alternativen formuliert: Entweder bekommt das neue Insel-Denken einen Ort in dieser Welt - oder die Welt wird nicht mehr bleiben als eine Insel, der jederzeit die Überflutung droht. Wie aber reagiert die Welt auf diese Alternative? Morus beschreibt es sarkastisch in seiner Vorrede, exemplifiziert an einem »frommen Theologen«, der unbedingt wissen will, wo Utopia zu finden ist, »Nicht aus eitlem und neugierigem Verlangen, Neues zu sehen, sondern um die verheißungsvollen Keime unserer Religion dort zu pflegen und noch zu vermehren. Um dabei ordnungsgemäß zu verfahren, hat er beschlossen, sich vorher einen Missionsauftrag vom Papst zu verschaffen und sich von den Utopiern sogar zum Bischof wählen zu lassen.« (S. 7)

EIN GEGENSTÜCK ZUR UTOPIE

Der Utopie-Begriff des Thomas Morus ist nicht getragen von dem Gedanken an das, was künftig machbar wäre und wünschenswert. Er wird vielmehr bestimmt von dem, was notwendig ist, um Zukunft überhaupt zu garantieren. »Utopia« ist kein Fortschritt in die Zukunft, sondern ein Rücktritt von einem Denken, das die Zukunft in Frage stellt.

Wer den Utopie-Begriff bei Morus disloziert, kann nicht mehr unkritisch »Utopie-Geschichte« schreiben und etwa Francis Bacon und Thomas Morus in Synopse bringen.

Bacons »Nova Atlantis« von 1627 ist - gemessen an dem Inbegriff von Utopie bei Morus - gerade keine Utopie, geradezu das Gegenteil davon. Denn Bacons Zukunftsoptimismus ist völlig ungebrochen. Er sieht sich am Anfang einer zukunftsträchtigen Entwicklung, nicht an deren Ende[22]. Was alles möglich ist und machbar, das will Bacon zeigen. Da wird in der Tat geträumt und phantasiert von einem Land, das einer riesigen Akademie der Wissenschaften gleicht. Erfindungen erleichtern das Leben, befördern den Überfluß (S. 43ff.). Alles hat seine feste Ordnung wie in einem wissenschaftlichen System (S. 41). Bacon schreibt die erste science fiction, und für die Wissenschaft braucht er die klinisch saubere, geordnete Gesellschaft. Alle sind glücklich und zufrieden in diesem Land, dessen Bewohner dem Fremden wie Engel erscheinen (S. 15). Natürlich ist auch »Nova Atlantis« ein Werk voller Protest - gegen stupide Dogmatik und Dummheit. »Wissen ist Macht« - das ist Bacons kapitale Maxime. Und wo Wissen ist, da ist alles auch machbar. Probleme werden einfach gelöst.

Morus ist da viel skeptischer und dialektischer - verständlicherweise. Die ungeahnten Möglichkeiten der Akkumulation des Kapitals hat er noch gar nicht im Blick. Allein schon den Kompaß hält er für sehr ambivalent: eine Erfindung, die zwar große Vorteile bringe - aber, unvorsichtig eingesetzt, noch größeren Schaden verursachen könne.

Noch heute hält es das Kapital nicht mit dem zögerlichen Morus, sondern mit Bacon und dem Begriff des »know how«. (Anmerkung 2: Das ist natürlich alles nicht polemisch gegen Bacon gesagt, denn Bacon hat alles andere als »Sprüchelchen« gemacht, wie ihm Hegel meinte nachsagen zu müssen, nur weil Bacon von der Empirie genau so viel hielt wie Hegel vom absoluten Geist.)

Wer »Utopie« an Bacon definiert, muß sich von Morus trennen, denn das sind Alternativen, die nicht in eine Geschichte gehören, bloß weil die Gattung »Staatsroman« das nahelegt. Hier fallen semantische Grundentscheidungen, die nur um den Preis umgangen werden können, den Begriff der Utopie zu einer völlig diffusen Kategorie verkommen zu lassen. Entweder Morus oder Bacon. Diffus genug ist das Utopie-Gerede in der Tat geworden. Doch aufs Ganze gesehen hat sich die Geschichte doch entschieden: für Bacon und also für »Utopie« als den (literarischen) Traum von einem Land, in dem Bedingungen geschaffen sind, unter denen alle Menschen endlich glücklich und zufrieden leben können.

Daß Marx und Engels diese Utopie (im Hegelschen Sinne) »aufheben« mußten, ist verständlich. Und verständlich ist auch, warum der Skopus von »Utopia« für sie gar nicht mehr in den Blick kommt: Wenn die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte sind, dann wird des Morus These abständig, die da - mutatis mutandis - besagt: Revolutionen sind nicht die Lokomotiven der Geschichte, sondern ihre Notbremsen.

DIE TOTALE KORREKTUR

Die sogenannte »Utopie« des Francis Bacon hat eine ganz eigene Rezeptionsgeschichte, in der aufrüttelnde und tollkühne und rührende und abenteuerliche Staatsromane entstanden sind. Aber auch Thomas Morus hat Nachfolger gefunden, wenn auch bei weitem nicht so viele. Vielleicht wird man vorbehaltlos sogar nur zwei Namen nennen können: Tommaso Campanella und Johann Valentin Andreae.

Ernst Bloch hat Campanellas »Civitas solis« von 1623 ein »Gegenstück zu Morus« genannt[23]. Genau dieses aber ist der »Sonnenstaat« nicht, auch wenn es in ihm tatsächlich weit strenger zugeht als in »Utopia«. Campanella will den Zentralismus, er will durchaus auch Hierarchie - vor allem aber will er Ordnung in das Ganze der Gesellschaft bringen. Doch dieses stellt ihn nur vordergründig in einen Gegensatz zu Morus. Ein »Gegenstück zu Morus« wird daraus nur, wenn man mit Bloch das formale Schema »Freiheit und Ordnung« anlegt und nicht den von Morus inhaltlich geprägten Utopie-Begriff verrechnet. Genau dieser aber trägt den »Sonnenstaat« - natürlich mit dem spezifischen Gepräge seines italienischen Autors, der als Dominikaner-Mönch 27 Jahre im Kerker zubringen mußte, wegen Hochverrats an der römisch-katholischen Dogmatik und als Offizieller Mitarbeiter eines gescheiterten kalabrischen Putsches gegen die Spanier.

Die Welt, die Campanella erlebt, verdichtet sich für ihn zum Inbegriff des Nichtigen. Von Gottes guter Schöpfung ist im Blick auf die Menschen kaum etwas zu merken. Hier regiert das Unrecht und das Böse. Das Elend zerfrißt den Leib und das Gemüt. Wohin man auch schaut, überall erbärmliche Verhältnisse und niedrige Gesinnung. Gemessen an der Ordnung der Natur, deren Maß sich berechnen läßt, die als Kosmos auch Schönheit ist und Harmonie - gemessen an dem regelmäßigen Verlauf von Sonne, Mond und Sternen, verläuft das Leben in der Menschenwelt chaotisch. Das Reich des Menschen ist ein reines Chaos, unberechenbar, gnadenlos willkürlich. Nirgends erkennt man einen Plan. Gesetze gibt es nur dem Namen nach. Der Zufall regiert, Dummheit beherrscht das Land, und blanke Gewalt erstickt jeden Keim der Vernunft.

Düsterer als Campanella kann man die Gesellschaft der Menschen ja kaum empfinden. Ganz sicher ist das auch eine Frage der Perspektive und des historischen Ortes. Und Campanellas Italien ist durchaus der Ort, an dem man so empfinden kann - und auch empfinden muß, wenn man das Leben von unten sieht.

Wie »Utopia« so ist auch der »Sonnenstand« nicht etwa eine ideale civitas, sondern eine notwendige Gründung. Das unterscheidet auch Campanella von Bacon und dessen Nachfahren. Seine Utopie trägt nicht den Charakter des Idealen. Ideale sind Superlative, die Gegebenes optimieren. Campanella aber will - wie Morus - das Gegebene gerade destruieren und neue Gegebenheiten setzen. Und dafür hat er - aus seiner Sicht - auch allen Grund, fast noch mehr Gründe als Morus. Für Morus steht die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Staates auf dem Spiel, die Frage nach der Zukunft. Doch was für Morus der befürchtete Zusammenbruch ist, das ist für Campanella das ganz Normale. Für ihn ist alles noch viel schlimmer. Die Welt droht nicht erst aus den Fugen zu geraten, sie ist noch nie gefügt gewesen. Von Zukunft kann da sowieso nicht die Rede sein. Verglichen mit dem ordentlichen Ganzen der Natur im Himmel und auf Erden, das all die Spuren einer weisen Schöpfung zeigt und also teilnimmt an dem vollkommenen Sein eines vollkommenen Schöpfers, ist die Welt des Menschen das reine Nichts. Und das wird es auch künftig bleiben, wenn nicht der Mensch selber hier eingreift und Ordnungen schafft, die auf der Höhe der Natur sind.

Campanella hat sehr drastisch eingegriffen. Natürlich gibt es in dem »Sonnenstaat« nicht mehr das Eigentum, das andere versklavt[24]. Kommunalität bestimmt nun das Leben in jeder Beziehung (S. 57) - aber auch Bildung und Weisheit (S. 34f.). Und natürlich auch die Astrologie (S. 76f.). Warum soll ein Menschenleben weniger berechenbar sein als die Bahnen der Sterne?! Also muß man etwas dafür tun, im großen wie im kleinen. Das Große ist der einheitliche Weltstaat, der der Einheit der Natur entspricht (S. 102). Das etwas Kleinere beginnt schon mit der Zeugung (S. 51f.): die Dicken paaren sich mit den Dünnen und die Langen mit den Zukurzgekommenen. Harmonie muß erzeugt werden, Ordnung muß hergestellt werden, sonst bleibt die Menschenwelt ein Chaos. Mit Platons Politik der »Menschenzucht«, die zudem ausschließlich militärischen Gewinn erzielen soll, hat Campanellas Harmoniestreben nichts zu tun. Und doch hat man sich über Campanella immer mehr ereifert als über den Griechen Platon. Das sei alles »fanatischer Kommunismus«, eine »gewaltsame Beglückung der Menschen«[25]. (Anmerkung 3: Eine verräterische Wendung! Wer vor der Alternative steht: entweder gewaltsame Unterdrückung oder gewaltsame Beglückung - der wird sich nicht für die Gewalt, aber für die Beglückung entscheiden. Und wer gegen diese Entscheidung votiert, der optiert für die Gewalt und die Unterdrückung.) Macht und Gewalt ist für Campanella kein Abstraktum. Schließlich schreibt er im Gefängnis. Aber daß Macht als solche böse sei, kann man im »Sonnenstaat« in der Tat nicht lesen. Auch die Natur ist mächtig und gewaltig. Aber in ihr hat die Macht einen Sinn für das Ganze. Und es geht auch nicht darum, die Menschheit gewaltsam zu einem »Zurück zur Natur« zu zwingen. Campanella ist kein Vorläufer Rousseaus. Er will nicht zurück, er will heraus aus einem Zustand der Menschheit, der noch nicht einmal das geregelte Maß der Natur hat. »Vorwärts zur Natur«, das ist sein eigentlicher Gedanke.

Wie bei Morus so zeichnet sich auch bei Campanella der Utopie-Begriff in das Katastrophale ein. Morus will die Katastrophe verhindern, Campanella will das Katastrophale überwinden. Der württembergische Theologe Johann Valentin Andreae will eigentlich beides, wenigstens will aber sein »Christianopolis« eine »Fluchtburg für das Wahre und Gute«[26] sein. Bevor Andreaes »Christianopolis« 1619 erschien, konnte ihr Autor wahrscheinlich schon Einblick nehmen in Campanellas »Sonnenstaat«, dessen erste Fassung bereits 1602 entstanden war. Einfach abgeschrieben hat Andreae aber weder bei Campanella noch bei Morus, wiewohl in Zentralem Übereinstimmung herrscht: kein Geld (S. 34), kein produktives Privateigentum (S. 23ff.), Kommunalität in jeder Hinsicht (S. 41). Dafür aber Arbeit für alle (S. 33f.) und Bildung (S. 71ff.) und zwei Tafeln, auf denen zehn Gebote stehen, die Gesetzeskraft haben und von allen befolgt werden.

Der Protestant Andreae macht sich ganz einfältig und sagt: Wir brauchen nur die zehn Gebote zu halten, dann haben wir eine andere Welt. So einfach ist das, und es ist offensichtlich doch einfach nicht möglich. Diese Welt wird nicht von den zehn Geboten, sondern vom Teufel regiert. Und es sieht ganz danach aus, daß dies auch so bleiben wird - bis zum jüngsten Tage. Aber wehe der Kirche, die sich mit einem Staat abfindet, dessen Wappen von »Sinnbildern der Roheit und Eitelkeit« besetzt ist und nicht von »Werkzeugen der Menschlichkeit und Arbeit« geziert wird (S. 42)! Andreaes Protest gegen Staat, Kirche und Gesellschaft konnte im ersten Jahr des Dreißigjährigen Krieges radikaler nicht ausfallen. Diese Radikalität entspricht einer an die Wurzeln gehenden Diagnose, die wie bei Morus und Campanella lautet: diese Welt ist in einem katastrophalen Zustand - und nur mit einer radikalen Therapie zu retten. Viel Hoffnung hat Andreae dabei allerdings nicht. »Christianopolis« ist kein Kind des historischen Optimismus. Andreae kokettiert nicht mit einer lichten Zukunft. Wo der Teufel regiert, da ist Zukunft ohnehin kein schönes Wort. Doch wehe der Kirche, die sich abfindet mit der »Normativität des Faktischen« und Fatalismus predigt und dem Teufel nicht auf der ganzen Linie und in jeder Beziehung den Kampf ansagt und also nicht bereit ist zur totalen Korrektur in Staat und Kirche und Gesellschaft!

ABKEHR UND UMKEHR

Aus der Katastrophe führt nur die Korrektur im grundsätzlichen heraus, die totale Wende, der radikale Umbruch. In dieser Überzeugung wurzelt Morus’ »Utopia«. Utopie als Überlebensstrategie. Wer heute eine Utopie-Geschichte schreibt, der muß sich schon im Ansatz entscheiden: zwischen einer willkürlichen Auflösung des Utopie-Begriffs in prinzipielle Hoffnung auf »noch nicht« zur Gegenwart Gehöriges, auf noch Erwartetes und zu Erwartendes - und jenem Utopie-Begriff, der Utopie als Überlebensstrategie begreift und also gar nicht viel erwartet, keine Träume hat und keine Illusionen und nur das eine will: die Katastrophe muß verhindert werden! Eine an Morus orientierte Utopie-Geschichte würde nicht sonderlich umfangreich ausfallen. Und doch müßte sie - von der Sache her - sehr weit zurückgreifen und sich hineinstellen in den radikalen Protest der alttestamentlichen Prophetie gegen die innere und äußere Gefährdung der Überlebensfähigkeit Israels.

Dieser Protest spiegelt sich auf doppeltem Niveau: in der Forderung nach einer Reorganisation innerstaatlicher Gemeinschaftsbeziehungen und im Horizont einer universalen Perspektive, die eine Rettung Israels (und der Völkerwelt) nur noch durch eine radikale Neuschöpfung der Erde erwartet.

Die alttestamentlichen Propheten sind keine Moralisten. Israel soll sich nicht »bessern« und weniger verwerflich leben. Es soll sich völlig abkehren von den fremden Göttern und radikal umkehren auf den Wegen, die in das Verderben führen. Die Alternativen sind Tod oder Leben, Zukunft oder Untergang. Die Propheten reden geradezu pragmatisch von der Umkehr als der conditio sine qua non für Israels Weiterexistenz. Und sie reden dabei nicht partiellen Reformen das Wort, sondern sie zielen auf das Ganze, auf die Erneuerung des ganzen Menschen und ganz Israels. In der Sprache der Propheten heißt das: Israel hat nur dann Bestand, wenn Jahwe seinen Geist ausgießt (Jes. 32,15ff.) und ihm das Gesetz in das Herz schreibt (Jer. 31,31ff.), wenn Israel ein anderes Herz erhält und einen neuen Geist (Hes. 11,19). Und selbst diese Totalität der Umgestaltung wird noch überboten: durch den apokalyptischen Horizont einer universalen Erneuerung der ganzen Welt (Jes. 2,4; Mich. 4,3ff.; Sach. 9,9f.). Die Überlebensfähigkeit Israels hängt nicht nur von seiner inneren Verfaßheit ab, sondern von der Verfassung der Welt insgesamt! Das prophetische Urteil über den status quo dieser Welt ist allerdings vernichtend. Die Jesaja-Apokalypse spricht aus, was bereits zur Grundstimmung fast aller Propheten gehört: »Die Erde welkt ..., die Welt zerfällt, sie verwelkt, Himmel und Erde zerfallen. Die Erde ist entweiht durch ihre Bewohner ...« (Jes. 24,4f.). Im Zeichen dieser Katastrophenerklärung ließe sich die Aussicht auf eine geheilte Welt »am Ende der Tage« durchaus als Vertröstung lesen. Doch Vertröstung will das Wort von »dem neuen Himmel und der neuen Erde« (Jes. 67,17) gerade nicht sein. Die eschatologische Perspektive einer geheilten Welt »am Ende der Tage« zielt nicht auf eine Entweltlichung der Geschichte, sondern auf Zukunftsfähigkeit: Zukunft hat die Geschichte nur, wenn sie einem radikalen Umbruch unterworfen wird, der den »alten Äon« überwindet und die Welt eine neue Gestalt annehmen läßt.

Die alttestamentliche Rede von der Erneuerung der Welt als Voraussetzung von Zukunftsfähigkeit ist verbunden mit der spektakulären Einsicht, daß es ohne Umkehr im Grundsätzlichen keine Zukunft geben wird. Ohne Umkehr und Abkehr wird das Ende zum Strafgericht. Die Konturen der notwendigen Abkehr und Umkehr geben sich in der prophetischen Intervention an fundamentalen Aspekten zu erkennen:

◦ in dem Postulat einer neuen Gerechtigkeit, die das Recht der faktisch Rechtslosen zu Geltung bringt (Jes. 3,12ff.);

◦ in der radikalen Verwerfung des Krieges und der Aufrichtung eines weltweiten (»ewigen«) Friedensreiches (Jes. 2,4);

◦ in einer neuen Besinnung auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur (Jes. 11,8);

◦ in der Überwindung des nationalen Staatsegoismus durch die Universalisierung des Zukunftsanspruches für alle Völker (Jona);

◦ in der totalen Revision des poly- und henotheistischen Götterverständnisses durch einen Monotheismus, in dessen Konsequenz nicht nur die Einheit der Welt (als Schöpfung des einen Gottes), sondern zugleich auch die Einheit der Völkergeschichte in den Blick kommt (Jes. 44,24ff.) und die Ablösung der Praxis konfrontativer Völkerkonkurrenz durch das Prinzip stellvertretender Proexistenz eingeklagt werden muß (Jes. 49,6).

Der alttestamentliche Ruf zur Umkehr findet seine neutestamentliche Entsprechung in der Metanoia. Für die apokalyptisch geprägte urchristliche Gemeinde ist Metanoia beides: die Umkehr des »inneren« Menschen und die Umwandlung der »äußeren« Verhältnisse. Und beides steht im Zeichen jener Radikalität, die durch die Erwartung des apokalyptischen Dramas provoziert wird. Der erwartete Untergang dieser Welt ist für das Neue Testament kein fatalistisches Geschick, kein schicksalsmächtiges Ereignis, das so oder so eintreten würde. Der Tod ist vielmehr der Sünde Sold (Röm. 6,23). Das Gericht erfolgt nach den Werken (Matth. 16.27). Diese Welt ist zum Sterben verurteilt, weil »alle, Juden wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen« (Röm. 3,9). Zukunft kann diese Welt unmöglich haben, jedenfalls nicht in ihrer jetzigen Gestalt. Das Ende »dieses Äons« wird im Neuen Testament fast noch mehr herbeigesehnt als befürchtet. Aber die Sehnsucht geht nicht in ein Jenseits, sie zielt auf »einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Offb. 21,1).

Was im Neuen Testament als »Reich Gottes« beschrieben wird, trägt in seiner eschatologischen Perspektive den erneuerten Begriff von Zukunft bei sich. Die Zukunft des »alten Äon« ist der »neue Äon«. Der »alte Äon« ist hoffnungslos verloren. Aber was jetzt Zukunft (Eschaton) heißt, bricht nicht für alle Menschen gleichermaßen an. Es gibt kein Erbrecht auf das Reich Gottes (Gal. 5,21), wiewohl es Verheißung gibt für alle, die da umkehren. »Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch als ein Reicher in das Reich Gottes hinein.« (Mt. 19,24) Metanoia ist im Neuen Testament der Auszug aus dem Reich des »alten Adam« in den Herrschaftsbereich des Christus Jesus als dem »Erstgeborenen aus den Toten« (Kol. 1,18). Dieser Exodus verkehrt die Maximen »dieses Äons« geradezu in ihr Gegenteil: »Wer das Leben gewinnen will, der wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen.«(Matth. 10,39) »Wer unter euch der Größte sein will, der soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, der soll der Diener aller sein.« (Mk. 10,43f.) »Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten.« (Matth. 19,30)

Der neutestamentliche Ruf zur Umkehr beansprucht den einzelnen und ergeht an alle. Er ist politisch in des Wortes ursprünglichster Bedeutung. Das lukanische Magnificat (Luk. 1,46ff.) läßt denn auch die »Bekehrung der Herzen« der Umwandlung der Polis korrespondieren: »Gewaltige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat er erfüllt mit Gütern und Reiche leer davongeschickt.« Die soziale Dialektik der neutestamentlichen Metanoia nimmt provozierende Formen an: Den einen wird gegeben, den anderen wird genommen werden, und eben so wird Gerechtigkeit zu einem Ereignis, das Eschaton hat. Alle drei synoptischen Evangelien haben denn auch das programmatische Prophetenwort Jes. 40,3-5 übernommen. Lukas zitiert ausführlich: Johannes der Täufer »kam in das Land am Jordan und predigte eine Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden, wie im Buche der Reden des Propheten Jesaja geschrieben steht: »Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Straße eben! Jedes Tal soll ausgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen werden, und was krumm ist, soll gerade, und was rauh ist, zu ebenen Wegen werden, und alles Fleisch soll schauen Gottes Heil!« (Luk. 3,3ff.) Radikaler und umfassender läßt sich Metanoia kaum beschreiben. Da sollen Hügel und sogar Berge abgetragen werden, um die Täler auszufüllen; da soll alles Krumme begradigt, alles Unebene geebnet werden. Da soll das Gesicht der Erde erneuert werden - gegen allen Widerspruch, der daran festhält, daß das Unterschiedliche schließlich so ganz und gar natürlich sei. Aber gerade dieses eben so und nicht anders Gewachsene und Zusammengeschobene, dieses unerhört Faktische des Oben und Unten, des Krumm und Gerade, dieses Durchfurchte und Verfaltete - es soll nicht sein, wenn der Herr kommt. Es soll nicht länger zugelassen sein, daß »die da oben« leben und »die da unten« verhungern, daß Reichtum sich durch Armut nährt und Wohlstand sich am Elend mißt. Wenn der Herr kommt, dann darf dieses Oben und Unten nicht länger fortbestehen, nicht länger mehr die Kluft, die Existenzen tötet, die Sklaven schafft und Beute macht bei den Geringen. Dann darf nicht mehr Tal und Hügel sein, sondern nur noch ebene Straße. Kein Wunder, daß Johannes der Täufer den Herodes nicht überlebte.

DER UTOPISCHE EINGRIFF

Der von Morus definierte Inbegriff von Utopie zeigt Traditionslinien, die weit zurückreichen, sich aber kaum zu einer Sukzessionsgeschichte reihen lassen. Der am Abgrund formulierte Utopie-Begriff zeigt keine Kontinuität. Die Hoffnung auf Verbesserung, Veränderung, Entwicklung ist, seit Menschen leben, niemals abgebrochen. Utopien aber reden von der Katastrophe, die verhindert, überwunden werden soll - durch eine Korrektur im Großen und Ganzen. Nicht schon das bloße Modell einer Stadt, eines Staates ist Utopie in des Wortes Bedeutung. Der Staatsroman als solcher muß nicht utopisch sein, auch wenn er sich durchweg an Idealem orientiert. Utopien beschreiben nicht das Ideale, sie modellieren Antithesen, die den Ausweg suchen.

»Utopia« sieht nur einen Ausweg: das Ganze eines Staates muß verändert werden, und schon das Denken selbst bedarf der radikalen Korrektur.

Ein Thomas Hobbes sieht das ganz anders, wiewohl er das Ganze im Blick hat. Sein »Leviathan« von 1651 rechnet erst gar nicht damit, Grundsätzliches verändern zu können. Der Mensch ist, wie er ist - und dementsprechend sieht auch die Gesellschaft aus: ein bellum omnium contra omnes, ein Kampf aller gegen alle[27]. Homo homini lupus, so lautet Hobbes’ Diagnose: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Da läßt sich nichts korrigieren. Der Selbsterhaltungstrieb, der Egoismus, der Utilitarismus sind naturgegeben. Gesellig ist der Mensch nur dann, wenn es ihm Nutzen bringt. Aristoteles irrt, wenn er vom zoon politikon ausgeht (S. 147). Der Mensch ist ein Steppenwolf. Und eigentlich brauchte man das gar nicht zu beklagen, wenn es nicht an die Substanz ginge. Dieses aber tut es leider. Hobbes schreibt seinen »Leviathan« gegen Ende des englischen Bürgerkrieges. Charles I. ist schon hingerichtet worden. Für Hobbes eine Katastrophe, die erst endet, als Charles II. 1660 den alten Adel restauriert und Hobbes selbst zu neuen Ehren kommt. Im »Leviathan« spiegelt sich die englische Revolution für den im Pariser Exil schreibenden Systematiker durchaus als ein apokalyptisches Geschehen. Wie Behemoth, das riesig große, wilde, starke Tier, wälzt sich der Bürgerkrieg über das Land und treibt es in den Abgrund. Revolution und Konterrevolution liefern sich blutige Schlachten. Für Hobbes ist England am Ende. Da hilft nur die ultima ratio: Behemoth muß durch den Leviathan gebändigt werden, durch das Meeresungeheuer, das noch stärker ist, vielleicht sogar noch schrecklicher. Aber tertium non datur. Im »Leviathan« wird dieses Meeresungeheuer beschrieben. Es ist ein Staat, der den status belli beendet, indem sich seine Bürger der absoluten Gewalt eines Souveräns unterwerfen, der seinerseits völlig unanfechtbar ist, auch unabsetzbar, jenseits jeder Kritik, doch zuständig für alle entscheidenden innen- und außenpolitischen Fragen (S. 150ff.). Der Souverän untersteht keinen staatlichen Gesetzen (S. 226). Er hat uneingeschränkten Zugriff auf das Eigentum seiner Untertanen (S. 179). Seine Gewalt muß er mit niemandem teilen, und er muß sie jederzeit einsetzen und regelmäßig demonstrieren (S. 156f.). Er ist Oberbefehlshaber, Oberster Richter, Oberster Gesetzgeber, Oberhaupt der Staatskirche. In einem Wort: er ist von Gottes Gnaden, und nur er!

Als Hobbes in Paris diesen Absolutismus entwirft, ist Ludwig XIV. bereits regierender König. Viel Phantasie war für den »Leviathan« nicht nötig, wenngleich der »Sonnenkönig« erst nach 1661 seinem Namen wirklich Ehre machte. Hobbes und der europäische Absolutismus inspirierten sich ganz sicher gegenseitig. Aber nicht das ist das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr, daß für Hobbes der Leviathan ein Untier ist, ein Ungeheuer. Hobbes ist kein Absolutist aus Leidenschaft, er ist es aus reiner Rationalität, die da besagt: Des Menschen Selbsterhaltungstrieb, sein Egoismus und Utilitarismus, ist so naturgewaltig, daß es keinen Sinn macht, im bellum omnium contra omnes auf Verzicht zu insistieren und zu appellieren an Moral und hehre Gesinnung. Man muß die Menschen gerade auf ihren Egoismus ansprechen und ihnen bewußt machen, daß sie um ihrer Selbsterhaltung willen gezwungen sind, den Kampf aller gegen alle einzustellen. Dieses aber bedarf eines radikalen Eingriffs in die Gesellschaft. Die naturgegebene Gleichheit aller Kombattanten (S. 104ff.) muß an einer Stelle durchbrochen werden: der Souverän herrscht absolut und wird darin - ganz wider die »Natur des Menschen« - von allen anerkannt. Und nur so kann er seine Aufgabe erfüllen, die Untertanen voreinander zu schützen und das Land nach außen erfolgreich zu verteidigen.

Hobbes rechnet mit der »Natur« des Menschen und sieht sich gerade deshalb zu einem »widernatürlichen« Eingriff gezwungen, von dem er sich Bewahrung vor dem Untergang verspricht. Die civitas als solche soll im Prinzip nicht verändert, sie soll lediglich so stabilisiert werden, daß sie jenes Alter erreicht, das die Naturgesetze ihr ermöglichen (S. 273).

Ganz ähnlich denkt schon Platon. Und analog wirkt auch die Situation. Was für Hobbes die englische Revolution ist, das ist für Platon der peleponesische Krieg, der Kampf zwischen Athen und Sparta, zugleich eine Schlacht zwischen Demokratie und Aristokratie, die auch Hobbes sehr genau kennt. 1629 erscheint seine Übersetzung der »Geschichte des Peleponnesischen Krieges« von Thukydides.

Platons Antwort auf die Herausforderung des griechischen Bürgerkrieges ist die »Politeia«, der große Dialog über den Staat, um den es nicht gut bestellt ist in einer Welt, in der der Krieg zum Alltag gehört. Auf den Gedanken, den Krieg zu ächten, wenn er doch an die Fundamente der Polis geht, kommt Platon nicht. Seine staatserhaltenden Erwägungen fallen ausgesprochen simpel aus und lauten: Wenn der Krieg den Staat bedroht, muß man dessen Wehrfähigkeit erhöhen. Das ist denn auch schon der eigentliche Inhalt der »Politeia«, die nun beschreibt, wie man das gründlich macht. Auch Platon protestiert gegen den status quo: gegen die Krise der Polis, die sich zur »ungesunden« Großstadt auswächst[28] und mit ihrer politischen Identität ihre Wehrfähigkeit verliert. In einer vom Krieg dominierten Welt aber bedeutet der Verlust der Wehrfähigkeit und Kriegstüchtigkeit eine Infragestellung der Überlebensfähigkeit. Auch Platon philosophiert am Rande der Katastrophe, weit weg vom Ideal des besten aller Staaten, ganz eingebunden in die Frage nach der überlebensnotwendigen Korrektur. Das Ganze darf diese freilich nicht berühren, denn schließlich soll der Stadt-Staat bleiben, was er einmal war: aristokratisch regiert und beherrscht. Schon »Demokratie« ist für Platon ein Reizwort. In der »Politeia« kommt der Demos denn auch gar nicht erst vor. Hier geht es fast ausschließlich um das Militär und darum, wie diese »Wächter« zu halten und zu züchten sind. (Anmerkung 4: Mit Kommunismus hat das Ganze ebensoviel zu tun wie die Sozialdemokratie mit der Revolution.) Natürlich müssen die Wächter sehr tüchtige Leute sein, an Leib und Seele trainiert und also mit Gymnastik und Musik erzogen, ferngehalten von unbotmäßigen Göttergeschichten, frei von Todesfurcht, die ohnehin nur von Schauermärchen über die Unterwelt herrührt. Also muß man solche Märchen verbieten und auch jene Geschichten, in denen Götter jammern und klagen und lachen und lügen. Lügen darf nur der Regent, und auch er nur im Interesse des Staates. Dann aber richtig. Und Platons Staat gründet auf einer Staatslüge, die zum Staatsgeheimnis wird: die Menschen müssen an die »unentbehrliche Unwahrheit« glauben, daß sie von Natur aus zu Unterschiedlichem geboren sind, Gold, Silber oder eben nur Erz in sich tragen (III,21). Und wer das glaubt, mit dem läßt sich auch alles machen. Platons »Wächter« leisten keinen Widerstand. Sie leben kommunal in jeder Hinsicht. Eine riesige Kaserne, in der alles gemeinsam ist - Wohnung und Mahlzeit und Frauen und Kinder. Doch dürfen nur die Tüchtigsten die Tüchtigsten richtig beschlafen, damit auch der Nachwuchs ganz tüchtig wird. Was sonst noch zur Welt kommt, wird beiseite geschafft, wenn es nicht vorher schon abgetrieben werden konnte. Ein richtiges Heer muß gezüchtet werden. Wie eine »Herde« (V,8) muß es auf voller Höhe bleiben. Die Frauen als »weibliche Schäferhunde« (V,3), die Kinder als künftige Krieger, die schon Schlachten beiwohnen sollen, um zuzusehen, wie ihre (ihnen unbekannten) Eltern den Feind besiegen.

Gewöhnlich fällt immer nur der eine Satz, wenn es um Platons »Politeia« geht: die Könige sollen Philosophen sein. Das ist in Platons Staat auch wichtig, doch längst nicht das Entscheidende. Das VIII. Buch beginnt zudem ganz anders: »Herrscher sollen diejenigen sein, die sich in Philosophie sowie für den Krieg als die Besten herausgehoben haben.«(VIII,1) Entscheidend für Platon ist das Heer, das doppelsinnige Wort von der Heeres-Zucht. Hier greift er korrigierend ein, um seiner Polis Dauer zu verleihen.

Auch Hobbes stützt sich lediglich auf einen Punkt: der Souverän befriedet seine Untertanen. Doch Hobbes weiß, daß das ganz »unnatürlich« ist. Platon will wieder ganz »natürlich« werden: die Armee muß man züchten wie Rassehunde (V,8).

ABSCHIED VON DER UTOPIE

Gemessen an Morus, Campanella und Andreae wirken Platon und Hobbes geradezu realistisch - in des Wortes traditioneller Bedeutung. Sie wollen die Welt nicht auf den Kopf stellen, sondern nur dafür sorgen, daß der status quo erhalten bleibt. Um das zu erreichen, bedarf es des spektakulären Eingriffs in das Fundament eines Staates. Die außerordentlich große Bedrohung kann nur noch durch außergewöhnliche Maßnahmen abgewendet werden.

In dieser Überzeugung liegt der Utopie-Gehalt der »Politeia« und des »Leviathan«. Und hier treffen sich Platon und Hobbes mit Morus bei jenem Utopie-Begriff, der als Inbegriff von Überlebensstrategie den Ausweg sucht. Die Differenz aber ist erheblich. Für Morus ist das Ganze des Staates nur noch dann zu retten, wenn der Staat ganz umgestaltet, wenn das Alternative zum Prinzip des politischen Denkens erhoben wird. Wenn die Welt kopfsteht, muß man sie auf neue Füße stellen.

Von diesem »Neuen Denken« ist bei Platon und Hobbes nichts zu spüren. Ihr utopischer Eingriff bleibt partiell, gebunden an den Vorsatz, daß sich möglichst gar nichts ändern soll. Das ist ja Hobbes’ Argument: Wenn ihr wollt, daß alles so bleiben soll, dann müßt ihr dem absolutistischen Gesellschaftsvertrag zustimmen! Und Platon will gar zurückkehren zu den guten alten Zeiten, in denen die athenische Aristokratie noch optimistisch herrschen konnte.

Platon und Hobbes machen den Umgang mit dem Utopie-Begriff nicht gerade leicht. Das Diktat des Absolutismus und die totale Militarisierung der Gesellschaft empfehlen sich nicht von selbst. Es muß schon zwingende Gründe geben, wenn man Platon und Hobbes verteidigen will. Natürlich auch Gründe der Macht und also der herrschenden Klasse. Wer aber sagt, daß »Utopie« ein Wort zum Schwärmen und zum Erwärmen ist?! »Utopie« ist eine Überlebenskategorie. Und die entscheidende Frage an Platon und Hobbes ist eigentlich die, ob ihr partieller Utopie-Begriff heute überhaupt noch relevant ist.

Man kann diese Frage natürlich auch abweisen: etwa unter Hinweis darauf, daß Utopien ohnehin nie von realpolitischer Bedeutung waren, jedenfalls nicht ernsthaft und auch nicht meßbar ins Gewicht fielen - oder eben unter Berufung darauf, daß Utopien stets widerlegt wurden. Schließlich gibt es England noch heute. Auch Athen ist eine blühende Stadt. Natürlich hat die Geschichte alles irgendwie verändert, aber der Rückblick zeigt doch, daß die Befürchtung einer Katastrophe vielleicht verständlich, doch letztlich unbegründet war. Katastrophal wurde es höchstens für ganz bestimmte Schichten, für bestimmte Klassen der Gesellschaft. Doch das ist der Lauf der Welt.

Gegen dieses Argument läßt sich kaum etwas sagen, solange man die Meinung teilt, daß eben dieser Lauf der Welt ganz selbstverständlich ist, das heißt: daß die Geschichte immer weiter geht und, wenn überhaupt einmal, dann höchstens erst in allerfernster Zukunft enden wird. Um diese Zukunft brauche man sich heute nicht zu sorgen.

Diese Meinung ist noch immer populär, jedenfalls dort, wo Zukunft noch ganz selbstverständlich eingeplant werden kann. Aber die Zahl jener Länder wächst, in denen »Zukunft« zu einem Fremdwort geworden ist, weil das Sterben inzwischen schon in die Millionen geht und der Begriff »Unterentwicklung« wie ein Euphemismus und also zynisch klingt. Für große Teile dieser Erde ist die apokalyptische Katastrophe nicht eine drohende Gefahr; sie ist längst Realität. Und Realität ist auch, daß sich das heute weltbeherrschende Kapital auf dieses Sterben einzustellen beginnt, indem es nationale Wagenburgen baut, die verhindern sollen, daß dieses Elend dort Einzug hält, wo es ursprünglich herkommt. Aber auch innerhalb der Warenburgen des Kapitals ist »Zukunft« schon längst kein unumstrittenes Wort mehr. Seit die Halbierung der Zwei-Drittel-Gesellschaft begonnen hat, rechnen auch immer mehr noch Unbetroffene damit, daß man mit allem rechnen muß, zumal die Wahrscheinlichkeitsrechnungen immer dichter werden und es offensichtlich schon heute nur noch eine Frage der Zeit ist, wann sich die ökologische Krise zu einem globalen Kollaps auswächst und das ungeheure nukleare Potential nicht mehr kontrollierbar ist, wenn es nicht gar gezielt zum Einsatz kommt.

Darin hat Jürgen Habermas völlig recht: »Die Zukunft ist negativ besetzt; an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen ab: die Spirale des Wettrüstens« (Anmerkung 5: das bei der »Neuordnung der Welt« nun unter den imperialistischen Hauptmächten ausgetragen werden wird), »die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, die strukturelle Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichgewichte in den entwickelten Ländern, Probleme der Umweltgestaltung, katastrophennah operierende Großtechnologien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewußtsein eingedrungen sind.«[29] Letzteres offenbar noch längst nicht nachhaltig genug. Aber in der Tat: der faszinierende Gedanke der Aufklärung, daß die Menschheit eine teleologische Entwicklung durchlaufe, scheint am Ende des 20. Jahrhunderts abgedankt zu haben. Die real-existierende Sozialismus-Perspektive wurde zerschlagen. Und allein schon der Begriff »Menschheit« ist zu einem Abstraktum degeneriert und faktisch nur noch definierbar in den gnadenlos separierenden Kategorien einer »Ersten«, »Zweiten«, »Dritten«, »Vierten« ... Welt. Entwicklung ist zu einem Privileg geworden, das ausgegrenzte Unterentwicklung ebenso zur Folge wie zur Voraussetzung hat. Und vom Telos läßt sich kaum noch anders denn in apokalyptischen Bildern reden. Die globalen Gefährdungen sind so handgreiflich geworden, daß selbst der Begriff »Entwicklung« bedrohlich wirkt. Entwicklung geht auf Zukunft - die aber ist negativ besetzt. Wir erfahren den Doppelsinn des griechischen Wortes »telos«: Ziel und Ende.

Aber Schicksal ist das alles nicht! Wer in dieser Zeit mit Habermas von der »Erschöpfung utopischer Energien« spricht, hat mit der Preisgabe des eigentlichen Utopie-Begriffs zugleich auch eine seiner charakteristischen Signaturen verdrängt: die Überzeugung, daß sich die Gesellschaft ändern läßt und nicht dem Fatalismus überlasen werden darf und auch nicht überlassen werden muß. Schon Platon läßt den Propheten im Namen der Lachesis verkünden: »Euer Los wird nicht durch den Dämon bestimmt, sondern ihr seid es, die den Dämon erwählen« (Politeia X,15).

Utopie widerspricht ganz bewußt dem Fatalismus und demonstriert den Einspruch gegen die Ohnmacht. Erst wenn sich diese utopische Energie erschöpft, kann das »Schicksal« seinen Lauf nehmen. Und es fällt auf, daß die von Habermas erwähnten Medien zwar manches dafür tun, daß sich die Katastrophe ins Bewußtsein schreibt, doch oft eben so, daß nur der Eindruck übrig bleibt: dagegen können wir sowieso nichts tun.

Die Utopie will gerade das Gegenteil erreichen. Und sie erreicht es nicht zuletzt dadurch, daß sie auf Analytisches setzt. Platon fragt ständig nach den Ursachen der Krise der Polis. Hobbes verweist permanent auf die Konsequenzen falscher Politik. Morus, Campanella und Andreae demonstrieren Kausalzusammenhänge bis ins Detail. Natürlich ist das Theoretisch nicht alles ausgeleuchtet. Aber daß hier Ursache und Wirkung verrechnet werden müssen, das ist für den Utopiker gar keine Frage. Von dieser Rechnung lebt ja sein Modell. Und eine Erschöpfung utopischer Energien wäre heute gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Einsicht in Zusammenhänge. Utopie und Wissenschaft sind gerade keine Alternative.

Besagte Medien geben sich da in der Regel mit Andeutungen zufrieden. Wenn überhaupt, dann werden Zusammenhänge mehr geahnt als demonstriert und höchstens mit »Struktur« umschrieben. Und es verdichtet sich der Eindruck, daß auch das mit Vorsatz geschehen könnte. Denn nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Medien Tag für Tag die Sätze verbreiteten: Der kapitalistische Profitmechanismus ist der Totengräber der Menschheit. Nur wenn das Wolfsgesetz des Kapitals weltweit gebrochen wird, hat die Menschheit eine Chance auf Zukunft. Wenn hier nicht Umkehr, radikale Abkehr einsetzt, bleibt die Selbstvernichtung programmiert.

Wer heute so redet, bekommt seinen Stempel: »Radikalist«, »Umstürzler«, »Staatsfeind«, »Kommunist«, »Anarchist«. Nie aber wird als Ketzerhut der Titel »Utopist« verliehen. Und dabei wäre das durchaus angemessen. Denn ein Thomas Morus ist ein Radikaler, und es gehört zum Wesen der Utopie, radikal sein zu müssen. Wenn es der Gesellschaft an die Wurzeln geht, hilft kein Reformismus. Und es behauptet ja auch niemand ernsthaft, daß an dem »reformierten« Kapitalismus, der sich »soziale Marktwirtschaft« nennt, in der sogenannten dritten Welt weniger Menschen sterben müßten. Zu offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. Eine Erschöpfung utopischer Energien würde heute gleichbedeutend sein mit dem Verzicht auf konsequenten Wider-Spruch, auf eine Programmatik, die an die Wurzeln geht, um das Ganze retten zu können. Die Option für den utopischen Eingriff à la Platon und Hobbes ist längst nicht mehr offen. Gemessen an dem, was not-wendig ist, wirken Platon und Hobbes heute eher unrealistisch, weil »reformistisch« - mutatis mutandis. Die Interdependenz der Welt von heute und ihrer globalen Krisenherde läßt weder eine selektive Sanierung zu, noch gestattet sie den Gedanken, es könnte eigentlich alles so bleiben, wenn man nur bestimmte Konzessionen mache. Die Welt von heute steht vor Alternativen, die so gravierend sind, daß es sogar fraglich bleibt, ob der Selbsterhaltungstrieb und Egoismus groß genug sind, sie überhaupt erst einmal zu erkennen.

Und was geschieht, wenn sie erkannt worden sind? Welche Wege müssen dann beschritten werden? Was ist dann Strategie und Taktik?

Es wirkt eigentlich ganz ungeheuerlich, daß alle Utopien den Weg zu ihrem Ziel verschweigen. Sie setzen immer ein mit einer Macht, die alles regeln kann, und niemand sagt, wie diese Macht zustande kommt. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil das niemand von ihnen weiß.

Den Utopikern geht es nicht anders und nicht besser als denen, die heute danach fragen, wie es weitergehen muß, wenn es weitergehen soll, wo sich das neue »revolutionäre Subjekt« zeigen könnte, nachdem Arbeiterklasse und Sozialismus zwei offensichtlich disparate Termini geworden sind.

Die Verlegenheit beginnt quälend zu werden. Und doch muß man sich darauf einstellen, daß sie noch ziemlich lange quält. Eine Erschöpfung utopischer Energien wäre in dieser Zeit gleichbedeutend mit dem Verlust des Überlebenswillens. Gerade weil die Wege unklar sind, muß das Ziel umso deutlicher sein. Auch dafür steht der Utopie-Begriff, was vermuten läßt, daß er womöglich doch noch auf den Index kommt. Solange die Wege unklar sind, ist an einen Abschied von der Utopie erst recht nicht zu denken, gerade weil das, was Habermas unter »utopischer Energie« versteht, in der Tat erschöpft ist, weil die Welt am Abgrund steht, bekommt der Utopie-Begriff des Thomas Morus und also jener Inbegriff von Utopie, der an Abgründen formuliert wurde, ein ganz neues und ganz eigenes Gewicht, einen praktischen Wert und eine theoretische Berechtigung.


[1] K. Marx/F. Engels: Werke Bd. 4, 1959, S. 491.

[2] E. Bloch: Abschied von der Utopie? Vorträge, hg. von Hanna Gekle, 1980, S. 101, 80, 106.

[3] E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 1959, S. 1390.

[4] E. Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie I, 1963, S. 131.

[5] P. Tillich: Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, 1951, S. 51.

[6] Ebd., S. 14.

[7] K. Mannheim: Ideologie und Utopie, 1978 (6.Aufl.), S. 169.

[8] Ebd., S. 169.

[9] Ebd., S. 169.

[10] Ebd., S. 171.

[11] P. Tillich: Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, S. 54.

[12] M. Buber: Pfade in Utopia, 1950, S. 19.

[13] J. Habermas: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, 1990, S. 107.

[14] K.R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1945.

[15] Andreas Voigt: Die sozialen Utopien, 1906, S. 24.

[16] Joachim Walter (Hg.): Der Traum aller Träume. Utopien von Platon bis Morris, 1990 (2.Aufl.), S. 372.

[17] Th. Morus: Utopia, dt. hg. und mit einem Nachwort von Jürgen Teller, 1976 (5.Aufl.), Nachwort, S. 157.

[18] Ebd., S. 130.

[19] K. Kautsky: Thomas More und seine Utopie, 1888.

[20] K. Marx/F. Engels, Werke Bd. 23, 1969, S. 754.

[21] Th. Morus, Utopia, S. 43.

[22] F. Bacon: Neu-Atlantis, neu hg. von Jürgen Klein, 1982, S. 26.

[23] E. Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopie, 1987 (2.Aufl.), S. 68

[24] Th. Campanella: Der Sonnenstaat, 1955, S. 39.

[25] Klaus J. Heinisch: Der utopische Staat, 1960, S. 216.

[26] J.V. Andreae: Christianopolis, 1977, S. 17.

[27] Th. Hobbes: Leviathan, hg. von Hermann Klenner, 1978, S. 106.

[28] Platons Staat, hg. und übers. von Otto Apelt, 1916, Buch II, Kap. 13.

[29] J. Habermas: a.a.O., S. 107.

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DIE VERHEISSUNGEN GOTTES UND DIE WIRKLICHKEIT DER WELT

Eine biblisch-theologische Besinnung

[in: Weißenseer Blätter 5/1992, S.2-13; der Vortrag wurde im Rahmen eine Kolloquiums gehalten, dessen Teilnehmer unterschiedlichen Weltanschauungen bzw. Konfessionen angehörten; Stellenangaben wurden von den WBl auf die deutsche Bibel umgestellt, einiges in [...] erläutert]

Die 1957-62 von Kurt Galling in 3. Auflage herausgegebene RGG (Die Religion in Geschichte und Gegenwart) gehört noch immer zu den bedeutendsten Enzyklopädien protestantischer Theologie. Es gibt kaum ein Stichwort der Kirchen- und Theologiegeschichte, das hier nicht Aufnahme gefunden hätte. Allein schon der Registerband umfaßt mehr als 1000 Spalten. Um so erstaunlicher, daß ausgerechnet eine so zentrale biblische Kategorie wie die der »Verheißung« als eigenständiges Stichwort nicht vorkommt. Es lohnt sich, über die möglichen Gründe für dieses Defizit nachzudenken, zumal es bereits in der 1. Auflage der RGG (1909-13) festgestellt werden kann. Die Annahme, es handele sich hier lediglich um eine redaktionelle Fehlleistung, darf wohl ausgeschlossen werden, denn im Registerband wird der Begriff »Verheißung« angeführt, allerdings nur sekundär, unter Hinweis auf die Artikel »Erwählung« und »Weissagung und Erfüllung«. Eine solche Zuordnung nimmt der Kategorie »Verheißung« aber die eignende Charakteristik und Bedeutsamkeit. »Verheißung« ist nicht identisch mit »Weissagung« oder »Erwählung«. »Verheißung« ist eine Kategorie sui generis und nur als eine solche kann und muß sie dann auch in Beziehung gesetzt werden zu »Erwählung« und »Weissagung«. Offensichtlich hat das der Herausgeber der RGG anders gesehen. Und Gründe dafür gibt es in der Tat.

Für das »Erwählen« und »Weissagen« hat das Alte Testament fixe Termini. Für »erwählen« steht das hebräische רחב, für »weissagen« zumeist אבנ im Niphal oder Hitpael. Im Unterschied dazu gibt es im Hebräischen keinen exklusiven Terminus für »Verheißung« und »verheißen«. Eigentlich ist das äußerst überraschend, hat es sich doch gerade auch von der alttestamentlichen Exegese her eingebürgert, von der sogenannten »Väterverheißung« zu sprechen oder auch von der »Landverheißung« [dem »gelobten Land«]. Und auch der Begriff »Israelverheißung« ist geradezu zu einem terminus technicus geworden. Aber an dem Hebräischen Wörterbuch kommt man nicht vorbei, und Wilhelm Gesenius kennt keine eindeutige hebräische Vokabel, mit der sich das deutsche »Verheißung« und »verheißen« wiedergeben ließe. Das könnte sehr wohl der Grund dafür sein, den Begriff »Verheißung« lexikalisch lediglich im Zusammenhang mit geprägteren Wendungen aufzunehmen. Allerdings kennt auch der »Gesenius« das Substantiv »Verheißung« und das Verb »verheißen«. Doch seine Quelle ist nicht eigentlich der masoretische Text, sondern die deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers. Es ist Luther gewesen, der das im neuen Testament sehr häufig vorkommende επαγγελια und επαγγελλειν in seine Übersetzung des AT hineingenommen hat. Die Feder wurde ihm dabei vor allem von Paulus geführt, für den die επαγγελια Gottes die große Klammer zwischen der Geschichte Israels und der neutestamentlichen Christusgemeinde bildet. Für Paulus ist »Verheißung« geradezu ein Komplement zu »Evangelium« (vgl. ThWNT II,575 ), denn das ευαγγελιον bezieht sich auf die επαγγελια, das neutestamentliche Evangelium gründet in der alttestamentlichen Verheißung Gottes.

Luther trägt diesen heilsgeschichtlichen Zusammenhang in seine Übersetzung des AT, indem er den Begriff »Verheißung« zu einer alttestamentlichen Hauptvokabel macht. Dieses geschieht auf eine geradezu spektakuläre Weise. Denn Luther übersetzt mit »Verheißung« und »verheißen«, wo im hebräischen Text lediglich רבד oder רמא steht. Zwei Worte, die in der Regel nichts anderes bedeuten, als »reden«, »sprechen«, »sagen«. Z.B. 1. Mose 18,19: Jahwe erscheint dem altgewordenen Abraham im Hain Mamre, um ihm und seiner Frau einen Nachkommen anzukündigen, was auf Sarah verständlicherweise höchst lächerlich wirkt, denn sie ist hochbetagt, und es geht ihr nicht mehr nach der Weiber Weise. Jetzt noch ein Kind gebären zu können, das spricht wider alle Erfahrung und wohl auch gegen die Konvention. Sehr pointiert übersetzt Luther Sarahs Bedenken: »Nun ich alt bin, soll ich noch Wollust pflegen?« (18,12). Aber es bleibt bei der Ankündigung und dem Vorsatz Jahwes, aus Abraham ein großes Volk zu machen. Und Luther übersetzt dann Vers 19: »Denn ich weiß, er (Abraham) wird befehlen seinen Kindern und seinem Hause nach ihm, daß sie des Herrn Wege halten, und tun, was recht und gut ist; auf daß der Herr auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat.« Im hebräischen Text heißt es an dieser Stelle רבד רשא, »was er gesagt hat.« Und die Septuaginta übersetzt denn auch ganz wortgetreu mit οσα ελαλησεν - λαλειν = reden, sprechen. Auch die Vulgata bleibt hier ganz neutral und übersetzt nicht etwa mit quae promissus est, sondern mit quae locutus est. Für Luther aber hängt alles an der promissio. Wenn Gott etwas sagt, dann kommt das einer Zusage gleich, einem Versprechen, eben einer Verheißung, auf die man sich verlassen kann.

Es ist aber nicht nur paulinische Theologie, die Luther bewegt, רבד mit »verheißen« zu interpretieren. Es ist auch das AT selbst, das diese Interpretation trägt und geradezu fordert. Unvergleichlich die Prägnanz, mit der 1. Mose 1 zu berichten weiß, daß das, was Gott sagt, auch Wirklichkeit wird: »Und Gott sprach: ›Es werde Licht!‹ Und es ward Licht.« (1. Mose 1,3) »Machthaltig und von höchster schöpferischer Potenz« hat Gerhard von Rad dieses רמא genannt (Das erste Buch Mose, 1961 (6.Aufl.), S. 39 [ATD 2/4]). Das AT beginnt mit der Schöpfung durch das Wort Gottes. Was Gott sagt, das geschieht. Die Theologie des Wortes Gottes ist nicht erst ein Spezifikum neutestamentlicher Rede vom λογος του θεου, sie ist genuin alttestamentlich. Weil Gottes רבד und רמא schöpferisch ist, ist »Verheißung« eine höchst angemessene Übersetzung.

In dem von Heinz Brunotte und Otto Weber 1959 in 1. und 1962 in 2. Auflage herausgegebenen kirchlich-theologischen Handwörterbuch »Evangelisches Kirchenlexikon« ist dem - im Unterschied zur RGG - Rechnung getragen worden. Jedenfalls finden wie hier (Bd. III, Sp. 1645-1648) einen Artikel von Claus Westermann zu dem Stichwort »Verheißungen an Israel«. Darin betont Westermann einleitend: »Das AT ist von Anfang bis Ende durchzogen von einer Kette von Ankündigungen, Versprechen oder Zusagen Gottes« (Sp. 1645). Diese Beobachtung ist von erheblicher Relevanz für die Hermeneutik des AT. Aber von nicht geringerer Bedeutung ist, daß wesentlichen Verheißungstexten eine ganz bestimmte Struktur eignet, von der her das Spezifische des alttestamentlichen Verheißungsverständnisses in den Blick kommt. Es sind vor allem vier Aspekte, die zur Signatur der Kategorie »Verheißung« gehören: 1. der Aspekt lebensbejahender Materialität, 2. der Aspekt menschheitsgeschichtlicher Universalität, 3. der Aspekt scheinbarer Paradoxalität und 4. der Aspekt gehorsamer Kooperativität.

1. Der Aspekt lebensbejahender Materialität

Wenn der Israelit Schalom wünscht, dann soll dieser Friedenswunsch - wie es Gerhard von Rad in seiner »Theologie des Alten Testamentes« (Bd. I, 242) formuliert - »bis in die Backschüsseln der einzelnen Haushaltungen reichen«. Die alttestamentliche Segensverheißung kennt kein Heilsein, das nicht recht eigentlich Wohlsein bedeutet. Schalom gilt nicht dem »geistigen«, dem »inneren«, es gilt dem ganzen Menschen. Die Abstraktion eines »Seelenfriedens« ist dem Israeliten fremd. Der alttestamentliche Segenswunsch ist handgreiflich. 5. Mose 28,3-8: »Gesegnet bist du in der Stadt und gesegnet auf dem Felde. Gesegnet ist die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Bodens, die Frucht deines Viehs, der Wurf deiner Rinder und die Tracht deiner Schafe. Gesegnet ist dein Brotkorb und deine Backschüssel. Gesegnet bist du, wenn du kommst, und gesegnet bist du, wenn du gehst. Jahwe entbietet den Segen, daß er mit dir sei in deinen Speichern und bei all dem Schaffen deiner Hände, und er segnet dich in dem Lande, das dir Jahwe, dein Gott, verleiht.« Die beiden großen »Väterverheißungen« der Frühzeit sind von eben diesem - wie von Rad es nennt (ebd.) - »Heilsmaterialismus« getragen. Es geht um die Verheißung eines Landes, in dem »Milch und Honig fließen« und also Wohlstand herrschen soll, ja, geradezu der reine Überfluß, wie es die Metapher in 2. Mose 3,8 doch wohl sagen will.

Es geht um die Zukunft Israels beziehungsweise um das zukünftige Israel. Und beschrieben wird diese Zukünftigkeit in jenen lebenssatten Farben, in denen die sogenannte »Diesseitigkeit« und »Weltlichkeit« gerade nicht verblaßt zur bloßen Negativfolie für eine jenseitige Überweltlichkeit. Die kann der alte Israelit gar nicht denken. Er kennt nur dieses eine Leben, das er Jahwe verdankt, wie er Jahwe nun eben auch dankbar sein darf dafür, die Köstlichkeiten dieses Lebens auf Jahwes blühender Erde genießen zu dürfen. Der alte Israelit ist kein Asket. Sein Ideal ist ein möglichst langes und möglichst gutes Leben, gesegnet mit Reichtum und großer Nachkommenschaft. Und in eben diesem Sinne heißt es denn auch von Abraham, daß er im gesegneten Alter von 175 Jahren starb, betagt und »lebenssatt«, nachdem er Isaak seinen ganzen Besitz übergeben hatte (1. Mose 25,5ff.). Der Tod ist in einem solchen Leben nicht das Unnatürliche. Er ist Befristung. Und als notvoll empfunden wird er erst dann, wenn er ein Leben beendet, das noch nicht gesättigt war.

Die eindrückliche Sozialethik der alttestamentlichen Propheten hat eben dieses Lebensideal zur Voraussetzung. Auch ihnen geht es um den ganzen Menschen, um ein Leben in Fülle. Doch was sie in Israel erleben, entspricht ganz und gar nicht diesem Schalom, denn der Bejahung des ganzen Menschen steht entgegen, daß eben nicht ganz Israel diesen Schalom teilt. Weil die Erwählung ganz Israel gilt, darf nicht das Unrecht hingenommen werden, das das erwählte Volk spaltet in Arme und Reiche, die (Amos 5,11) den Geringen niedertreten und Getreideabgaben von ihm erpressen, um sich Häuser aus gehauenen Quadern zu bauen, die (Amos 2,6ff.) für Geld den Unschuldigen verkaufen und den Armen für ein Paar Schuhe, sich auf gepfändeten Kleidern niederlassen und den Wein derer trinken, die in Strafe genommen sind. Ihnen gelten die Weherufe des Propheten Habakuk (Hab. 2,6ff.): »Wehe dem, der fremdes Gut anhäuft! Und der sich belastet mit gepfändeter Habe!« »Wehe dem, der unredlichen Gewinn macht ...!« »Wehe dem, der eine Stadt baut mit Unrecht!«

Die Sozialkritik der Propheten zielt nicht auf marodierende Räuberbanden. Sie gilt einer Gesellschaft, die im Begriff ist, sich zu dividieren und also auseinanderzufallen. Was in der Sprache heutiger Politologie und Soziologie moderat umschrieben wird als »soziale Differenzierung«, das ist für die alttestamentliche Prophetie keineswegs ein neutral zu bewertendes Geschehen. Wo sich Reichtum an Armut nährt, da pervertiert das Sich-Berufen auf Verheißung, und aus Verheißung wird Gericht. Und die Gerichtspredigt der Propheten ist radikal. Jeremia (6,12ff.): »Ich stecke meine Hand aus gegen die Bewohner dieses Landes, spricht Jahwe. Denn klein und groß, jeder von ihnen ist gierig nach Gewinn. Prophet und Priester, jeder übt Trug. Und sie heilen den Schaden meines Volkes obenhin, indem sie schreien: ›Schalom! Schalom!‹ Aber es gibt keinen Frieden! Zuschanden müssen sie werden, denn ein Greul ist, was sie tun. Und sie können nicht einmal mehr erröten. Sie haben alle Scham verlernt. Darum sollen sie fallen, wenn alles fällt, zur Zeit ihrer Heimsuchung werden sie zu Boden stürzen, spricht Jahwe.« Das Gericht trifft ganz Israel, denn - so Mich. 7,2 - »sie alle lauern auf Blut, einer macht Jagd auf den anderen. Zum Bösen sind ihre Hände geschickt. Der Beamte fordert ..., und der Richter spricht Recht gegen ein Geschenk, und der Große entscheidet nach Willkür«.

Das Gericht ist in der Botschaft der Propheten allerdings nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist abermals ein Wort der Verheißung. Und es fällt auf, daß auch die prophetische Jahwe-Verheißung bestimmt ist von jenem »Heilsmaterialismus«, der bereits für die »Väterzeit« charakteristisch ist. Die messianisch gestimmte Verheißung von Jeremia 33,15 spricht von einem »Sproß Davids«, der »Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird«. Und in Jesaja 65,17ff. wird sogar ein »neuer Himmel und eine neue Erde« verheißen, auf der man in Jerusalem kein Weinen und Wehklagen mehr hören wird. »Nicht wird es dort ein Kind von nur wenigen Tagen geben und einen Greis, der nicht seine Tage auslebt.« »Sie werden Häuser bauen und darin wohnen, Weinberge pflanzen und ihre Frucht selbst genießen.« »Nicht umsonst werden sie sich mühen und nicht Kinder zu jähem Tod gebären.« »Nicht werden sie Schaden und Unheil stiften auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht Jahwe.« Während dieser Text aus Tritojesaja im NT noch eine eminent politische Rezeption erfuhr (Offbg. 21,1ff.), knüpfte die großkirchliche Theologie an solche Aussagen lediglich in der Illustration einer extramundanen Eschatologie an. Und gegenwärtig würde man im Blick auf diese »heile Welt« höchstens noch resignierend von »Utopie« sprechen. Doch das ändert nichts daran, daß jedenfalls das AT in diesen Verheißungen eine höchst reale Lebensmöglichkeit gesehen hat.

2. Der Aspekt menschheitsgeschichtlicher Universalität

Eine der eindrücklichsten Phänomene der alttestamentlichen Theologie besteht wohl darin, daß Israels Erwählungspartikularismus nicht auf eine absolute Exklusivität festgelegt ist, sondern eine erkennbare Offenheit impliziert. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, und die Landnahmetexte z.B. erwecken ja durchaus den Eindruck, als sei es völlig legitim, wenn hier die Geschichte Jahwes mit seinem auserwählten Volk über andere Völker geradezu erbarmungslos hinweggeht. Israel erobert Land, das andere bereits besiedeln. Aber das Existenzrecht wird nur für Israel proklamiert. Dieser sich hier artikulierende Partikularismus steht allerdings in einer auffälligen Spannung zu jenen alttestamentlichen Texten, die um eine Korrelation von Horizont und Mitte wissen, um das Mit- und Ineinander von Partikularität und Universalität. Und es spricht manches dafür, davon ausgehen zu müssen, daß sich der Aspekt der Universalität in der Geschichte Israels erst allmählich durchsetzte, durchaus auch gegen erhebliche Widerstände.

Bereits 1. Mose 1-12 geht über die Geschichte Israels weit hinaus. Dabei ist primär gar nicht an die Schöpfungsgeschichte zu denken, die durchaus noch als notwendige Vorgeschichte zur Geschichte Israels interpretiert werden könnte. Viel signifikanter ist da schon der sogenannte »noachitische Bund« in 1. Mose 9: Jahwe schließt diesen Bund bezeichnenderweise nicht nur mit Noah und seinen Nachkommen. Der Regenbogen wird vielmehr - wie es 1. Mose 9,13 heißt - »ein Zeichen des Bundes zwischen mir (Jahwe) und der Erde sein«. »Nie mehr soll das Wasser zur Flut werden, um alles Fleisch zu vernichten.« (9,15b) Und der universale Horizont dieser Bundeserklärung wird nun noch bekräftigt durch die Genealogien in Kapitel 10, die mit der programmatischen Feststellung in 9,18f. eingeleitet werden: Von Noahs Söhnen, also von den Brüdern Sem, Cham und Japhet stammt die Bevölkerung der ganzen Erde ab. Schillers Ode »An die Freude« wird hier erheblich überboten. Nicht erst werden alle Menschen Brüder, sie sind es von Hause aus. Zum Skopos von 1. Mose 9 und 10 gehört die Erkenntnis, daß die Israelerwählung innerhalb jener Klammer steht, die vom Bundesschluß Jahwes mit der ganzen Menschheit bestimmt ist. Der priesterliche Segen Gottes in 1. Mose 9,1 gilt allen Menschen! Die sogenannte »Priesterschrift« gehört zu den jüngsten Quellengeschichten des Pentateuch [die fünf Mose-Bücher]. Sie ist wahrscheinlich vorwiegend im babylonischen Exil entstanden, in eben jener Situation, in der der Henotheismus endgültig überwunden und vom Monotheismus verdrängt wird. Und es ist nun eben dieser Monotheismus, der dem alttestamentlichen Verheißungsgedanken einen eindeutig universalen Charakter gibt. Bei Deuterojesaja, dem Propheten des Monotheismus, wird der Perser Cyrus mit dem dem israelitischen König vorbehaltenen Titel eines »Gesalbten« Jahwes angesprochen (Jes. 45,1). Und kaum noch zu überbieten der Verheißungshorizont des 2. Liedes vom Gottesknecht, Jes. 49,6: «Zu wenig ist, daß du mein Knecht nur seiest, um die Stämme Jacobs wieder aufzurichten und zurückzuführen, was aus Israel übrig bleibt. Ich mache dich zum Licht der Heiden, daß mein Heil bis an die Grenzen der Erde reichen.« Während der israelitische Henotheismus durchaus mit der Existenz anderer Götter rechnet - und das 1. Gebot des Dekalogs geht ja davon aus, daß diese anderen Götter für Jahwe eine tatsächliche Konkurrenz darstellen -, wird der Monotheismus getragen von dem Bekenntnis zur Einzigkeit Jahwes. Neben ihm gibt es keine anderen Götter, höchstens Götzenbilder. Das aber bedeutet zugleich: auch die Götter der Gojim, der heidnischen Völker, sind gar keine Götter. Wenn Jahwe der einzige Gott ist, dann ist er auch der Gott der Heiden, der Gott aller Menschen.

Für Israel ist das eine ausgesprochen spektakuläre Einsicht, die denn auch nicht unwidersprochen blieb. Das Buch Jona artikuliert diesen Widerspruch, und es weist ihn kategorisch zurück. Jona wird von Jahwe in die heidnische Stadt Ninive geschickt, um ihr Umkehr zu predigen. Doch Jona wird von Eifersucht geplagt und will sich dem Auftrag entziehen. Schließlich aber predigt er doch in Ninive und wird verdrossen und zornig, als er erleben muß, daß seine Predigt Erfolg hat, daß die Heiden von ihrer Bosheit lassen und Jahwe sie nicht straft. Jahwe hat Mitleid mit dieser großen Stadt, wie es Jona 4,11 heißt, »in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht zwischen rechts und links unterscheiden können, und so viel Vieh«.

Etwa zeitgleich mit dem Buch Jona ist im 4. Jahrhundert der zweite Teil der Sacharja-Prophetie entstanden, deren Messias-Verheißung im NT häufig zitiert wird. Auch in dieser Messias-Verheißung geht der Blick über Israel hinaus in die Völkerwelt, wahrscheinlich in die Völkerwelt des riesigen Reiches Alexanders des Großen. Der verheißene Messias wird nicht nur die Kriegswagen und Kriegsrosse und Kampfbogen aus Ephraim und Jerusalem fortschaffen, er wird vielmehr allen Völkern Frieden gebieten, denn »seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer« (Sach. 9,10). Auch bei Jesaja verbindet sich die Friedensverheißung mit dieser ökumenischen Perspektive. Jes. 2,4: »Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer wird Volk gegen Volk zum Schwert greifen; üben wird man nicht mehr zum Krieg.« Gerade auch an dieser Friedensverheißung wird deutlich: auch dort, wo die Israel-Verheißung in die Völkerwelt übergreift, ist sie inhaltlich bestimmt von jener lebensbejahenden Materialität, die für das alttestamentliche Verheißungsverständnis insgesamt überaus charakteristisch ist.

3. Der Aspekt einer scheinbaren Paradoxialität

Der Begriff der Paradoxie ist ja, philosophiegeschichtlich gesehen, nicht unbelastet. Sieht man aber einmal von dem Widerspruch Kierkegaards gegen Hegel ab, so läßt sich doch wohl sagen, daß eine Paradoxie eine gegen allgemein anerkannte Grundsätze verstoßende Behauptung ist. Es ließe sich auch von »Widersinnigkeit« sprechen. Und tatsächlich begegnet uns im Kontext der alttestamentlichen Verheißungen ein ganz auffälliges Maß an Widersinnigem, an Verstößen gegen anerkannte Grundsätze. Und noch auffälliger ist, daß das AT diese Paradoxien nicht nur benennt, sondern zum Teil auch sehr nachdrücklich reflektiert und bewußtzumachen versucht.

Eine dieser Paradoxien ist bereits erwähnt worden: Die große Verheißung an Abraham, an einen Mann, der alt ist und eine alte Frau hat, die eigentlich gar keine Kinder mehr bekommen kann. Ausgerechnet dieses Paar soll zu einem großen Geschlecht werden. Natürlich muß da Sarah lachen. Und auch Abraham kann sich das zunächst gar nicht vorstellen. Er versucht den Widersinn zu umgehen und hört lieber erst einmal auf den Rat seiner Frau, einer jungen Sklavin beizuwohnen. Das ist, nach menschlichem Ermessen und unter Anrechnung alttestamentlicher Verhältnisse, auch völlig vernünftig. Aber die Verheißung Jahwes hält sich nicht an menschliches Ermessen und bindet sich nicht an geltende Erfahrung. Im Gegenteil. Gerade das traditionell Gültige, das anerkannt Logische wird hier außer Kraft gesetzt. Die Verheißung Jahwes verbindet sich mit dem Gegenteil herkömmlichen Denkens. Und so wirkt sie zunächst paradox. Aber diese Paradoxalität ist nur eine scheinbare, denn Jahwe steht zu seinem Wort. Sarah bekommt einen Isaak.

Die Struktur der scheinbaren Paradoxalität läßt sich auch an anderen Verheißungs-Texten beobachten. Besonders eindrücklich im Kontext der Landverheißung, die endlich in Erfüllung zu gehen scheint, als Israel durch Jahwe aus Ägypten herausgeführt wird. Aber der Exodus endet zunächst mit einer großen Enttäuschung, nämlich in der Wüste, in der Israel nun vierzig Jahre zubringen muß (2. Mose 15,35). Natürlich »murrte da die ganze Gemeinde der Israeliten gegen Mose und Aaron«, wie 2.Mose 15,2 berichtet. Und analog zur Verheißung des Isaak auch dieses: wie Abraham, so hält sich auch Israel erst einmal an das Machbare und überlegt, ob es nicht lieber wieder an die »Fleischtöpfe Ägyptens« zurückkehren sollte (2. Mose 16,3). Die Verheißungsgeschichte Israels ist voller Umwege, die zum Teil absonderlich wirken und völlig paradoxe Situationen schaffen. In elf Kapiteln erzählt das erste Buch Mose (37-48) die unglaubliche Geschichte, daß ausgerechnet Joseph, der von seinen Brüdern als Sklave verkauft wird, zu einem der mächtigsten Männer Ägyptens avanciert und die Seinen vor der großen Hungersnot rettet.

Auch bei den Propheten gehört das Moment der scheinbaren Paradoxalität zu den bestimmenden Elementen ihrer Botschaft. Der sich durch die Propheten-Bücher hindurchziehende Ruf zur Umkehr und zur Abkehr von den verheißungsvollen Wegen verbindet sich konstitutiv mit Alternativen, die für die Israeliten und die Israel beherrschende Politik unakzeptabel sind. Denn diese Alternativen widersprechen allen traditionellen Vorstellungen vom politisch Machbaren und denunzieren den konventionellen Begriff politischer Macht. Auch für die Israeliten gilt ja zum Beispiel ganz selbstverständlich, daß zur Macht das Militär gehört, die Hochrüstung, das militärische Bündnis. Auch für die israelitischen Herrscher ist der Krieg ein probates Mittel zur Machterhaltung und Machtentfaltung - ein politisches Naturgesetz, gegen das man nicht verstoßen kann, wenn man seinem Lande Zukunft garantieren will. Das »si vis pacem, para bellum« ist nicht erst eine Erfindung der Römer. Die scheinbare Plausibilität eines solchen Denkens hat eine archaische Tradition, in der nun auch die israelitischen Königshäuser stehen. Aber gerade dieses so alte und traditionsgeprägte Denken, das sich offensichtlich auf einen weltweiten Konsens berufen kann, gerade dieses scheinbar Selbstverständliche wird von den alttestamentlichen Propheten radikal in Frage gestellt.

Gemessen an den ehernen Grundsätzen herkömmlicher Politik wirken ihre Alternativen paradox und widersinnig, denn die prophetische Jahwe-Verheißung verbindet sich mit einer Umkehr im Grundsätzlichen. Nicht das Militär, sondern die totale Abrüstung eröffnet für Israel Zukunft (Jes. 2,4; Mich. 4,3; Sach. 9,10; Jes. 9,4). Nicht das Militärbündnis, sondern der kategorische Verzicht auf jegliche Militärpolitik rettet das Land vor dem Untergang (Jes. 7,1-19). Zukunft hat Israel nur, wenn die herkömmliche Praxis konfrontativer Völkerkonkurrenz abgelöst wird durch das Prinzip stellvertretender Proexistenz (Jes. 49,6). Zukunft hat Israel nur, wenn der nationale Staatsegoismus überwunden wird durch die Universalisierung des Zukunftsanspruches für alle Völker (Jona). Zukunft hat Israel nur, wenn die Gesellschaft von einer grundsätzlich neuen Gerechtigkeit getragen wird (Jer. 23,5f.; Jes. 54,14; Am. 5,24).

Diese Umkehr im Grundsätzlichen zu einem den Verheißungen Jahwes entsprechenden neuen Denken und Tun hat für die Propheten eine so umfassende und fundamentale Dimension, daß Hesekiel (11,19) gar von einem neuen menschlichen Herzen und einem neuen menschlichen Geist sprechen kann. Ganz ähnlich Jeremia (31,33): Jahwe schreibt Israel sein Gesetz in die Herzen und verwandelt so ihr Sinnen und Trachten. Bei Jesaja gießt Jahwe seinen Geist über Israel aus. Und dann heißt es Jes. 32,16f. fast summarisch: »Dann weilt in der Wüste das Recht, und im Garten wohnt die Gerechtigkeit. Die Wirkung der Gerechtigkeit wird Friede sein, die Frucht des Rechtes ewige Sicherheit.«

Daß Israel in jeder Beziehung umdenken muß, um Zukunft haben zu können, bekommt im babylonischen Exil den Charakter einer totalen Herausforderung. Das Nordreich ist bereits 721 durch die Assyrer vernichtet worden. 587 fällt auch Jerusalem. Israel existiert nicht mehr. Wo aber ist Jahwe ? Eigentlich müßte auch er besiegt worden sein von den Göttern der fremden Völker, denn den Krieg der Völker führen auch ihre Götter. 2. Makk. 6,2 berichtet: als der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes 169 Jerusalem plündert, läßt er den Tempel schänden und führt den Kult des Zeus Olympios ein - zum demonstrativen Zeichen dafür, daß der Gott der Juden von dem Gott der Seleukiden besiegt wurde. Im babylonischen Exil war Israel buchstäblich gott-los, denn Jahwe wohnte im Tempel zu Jerusalem. Der Tempel aber war unter Nebukadnezar in Flammen aufgegangen, und Jerusalem war weit. Daß Jahwe aber auch im Exil bei Israel ist und nicht nur im Tempel wohnt, das ist die eine große Wende im theologischen Bewußtsein der Deportierten. Und dieses wird nun noch überboten von der Erkenntnis, daß es ja Jahwe selbst ist, der Israel ins Gericht geführt hat. Jahwe hat nicht verloren gegen Marduk. Er kann gar nicht verlieren, denn außer ihm gibt es keinen Gott. Die scheinbar paradoxe Verheißungsgeschichte erreicht in dem sich im Exil durchsetzenden Monotheismus geradezu einen Höhepunkt. Denn daß Jahwe sein Volk an die Babylonier ausliefert, widerspricht jeder antiken Gottesbeziehung. Und doch ist die Paradoxalität eben nur eine scheinbare, denn nicht Verrat und Verstoßung haben hier das letzte Wort, sondern die befreiende Erkenntnis: wenn das Exil Jahwes Strafe an Israel ist, wenn Jahwe sich der Babylonier nur bedient, dann besteht begründete Hoffnung auf Rückkehr und Zukunft.

4. Der Aspekt gehorsamer Kooperativität

Der Begriff »Kooperativität« hat in evangelisch-reformatorischer Theologie keinen guten Klang, und dafür gibt es gute Gründe, denn man könnte, sehr verkürzt sagen: in der Stellung zur cooperatio bricht der fundamentale Dissens zwischen römisch-katholischer und evangelisch-reformatorischer Theologie auf. Die Reformation hat - vor allem unter Berufung auf Augustin und Paulus - kategorisch bestritten, daß die Rechtfertigung des Menschen vor Gott einer menschlichen Kooperation bedarf. Der römisch-katholische Synergismus in Gestalt des Semipelagianismus ist mit dem reformatorischen »sola fide« prinzipiell zurückgewiesen. Und solange protestantische Theologie den Anspruch erhebt, den theologischen Erkenntnissen der Reformation verpflichtet zu sein, kann und darf sich daran auch nichts ändern. Wenn hier nun dennoch von »Kooperation« gesprochen werden muß, dann hat auch das gute Gründe, denn die Rechtfertigung Gottes ist nicht identisch mit der Verheißung Gottes. Im Unterschied zum personalen Charakter der Rechtfertigung, in deren Focus der Einzelne zu stehen kommt, sind die Perspektiven der Verheißung in jeder Beziehung von Kommunität und Sozialität bestimmt. Die Verheißungen Gottes sind unteilbar. Sie gelten nicht nur ganz Israel beziehungsweise der Menschheit als ganzer - dieses darf freilich auch von der Rechtfertigung gesagt werden. Aber im Unterschied zu ihr, der iustificatio, bleibt auch die Erfüllung der promissio [der Verheißung] an diese Sozialität und Kommunität gebunden. Es gehört zum Wesen der Erfüllung, daß niemand von jenen ausgeschlossen bleibt, denen die Verheißung insgesamt gilt. Die Sozialkritik der alttestamentlichen Propheten an der israelitischen Ein-Drittel-Gesellschaft geht ja von diesem totalitären Grundsatz aus. Wenn die Verheißung des Schalom ganz Israel gilt, dann ist kein Schalom, wenn nur einige in »Milch und Honig« baden.

Gottes Rechtfertigung kennt ebensowenig eine conditio humana sine qua non wie seine Erwählung. Aber Gottes Verheißung fordert Gehorsam und Nachfolge, denn sie ist eingebunden in den auf Kooperation gestellten Bundesschluß, bei dem tatsächlich beide Seiten zu Vertragspartnern werden. Die Volk- und Landverheißung wird besiegelt in Jahwes Bund mit Abraham (1. Mose 15,18). Und die Verheißung, daß die Erde als Lebensraum der Menschen nicht mehr zerstört werden wird (1. Mose 8,22), wird besiegelt in dem Bund mit Noach und seinen Nachkommen (1. Mose 9,9ff.). Es ist dieser Zusammenhang von Verheißung und Bund, der die komfortable These zurückweist, Gottes Verheißungen würden sich schon irgendwie erfüllen, gleichsam »automatisch«. Aber die Verheißungen sind nicht schon als solche auch Garantieerklärungen. Die Garantie ist vielmehr der Bund - und zwar der von beiden Bundespartnern eingehaltene. Wie Jahwe sich in diesem Bund verpflichtet, zu seinen Verheißungen zu stehen, so ist nun auch der Bundespartner gehalten, seiner Bundespflicht nachzukommen. Hier geht es also in der Tat um Konditionen, ohne deren Erfüllung niemand ernsthaft auf Verheißung rekurrieren darf.

Es ist bezeichnend, daß diese Konditionen sehr konkret benannt sind. In 1. Mose 9 werden Menschheitsverpflichtung und Noachbund apodiktisch verknüpft mit Gottes Hoheitsrecht über alles Leben. Zwar ist in 1. Mose 9,1-7 noch eine sehr alte kultische und sakralrechtliche Tradition zu erkennen: ein Speisegebot, das den Genuß des Blutes untersagt, und die Regelung der Blutrache. Aber die Priesterschrift gibt dem nun eine übergreifende Interpretation. Das Blut ist der Sitz des Lebens. Und weil dieses ausschließlich Gott gehört, darf das Blut der Tiere nicht genossen und das Blut von Menschen nicht vergossen werden. Dem entspricht das Zeichen des Noachbundes: der Regenbogen (1. Mose 9,13ff.). Doch das hebräische תשק meint eigentlich den Kriegsbogen, den Gott beiseitestellt. Der Skopos dieser bewußten Zuordnung von 1. Mose 9,1-7 zu Verheißung und Bund ist provozierend direkt, denn er besagt, daß die gehorsame Anerkennung des Hoheitsrechtes Gottes über alles Leben zur menschlichen Bundespflicht gehört. Wo diese Pflicht verletzt, der Bund also einseitig gebrochen wird, da verliert die Menschheit das Recht, sich auf die ihr gegebene Verheißung berufen zu dürfen. Sie muß nun durchaus damit rechnen, daß die Erde aufhört, menschlicher Lebensraum zu sein.

Diese Konklusion ist alles andere als abwegig. Denn seit wir wissen, daß sich die Menschheit in die Lage gebracht hat, Gottes Erdenschöpfung vernichten zu können und also Gott seiner Schöpfung zu berauben, hat der Gedanke daran, daß wir Verheißung definitiv verspielen können, eine unheimliche Plausibilität bekommen.

Was sich an 1. Mose 9 beobachten läßt, bestätigt der Kontext der Verheißung an Abraham. Abraham wird nicht nur ausdrücklich aufgefordert, den Bund zu halten (1. Mose 17,9), ausdrücklich wird auch die Verheißung konditioniert. 1. Mose 18,19 stammt sicher aus einer jüngeren Schicht als der nachfolgende jahwistische Jahwe-Abraham-Dialog über das Gericht an Sodom. Aber daß die Zerstörung Sodoms so unmittelbar mit der Abraham-Verheißung verbunden wird, ist bedeutsam genug. Und 1. Mose 18,19 interpretiert den Zusammenhang, denn es heißt dort: »Ich (Jahwe) habe ihn (Abraham) dazu erkannt, daß er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm gebietet, den Weg Jahwes durch Übung von Recht und Gerechtigkeit einzuhalten, auf daß Jahwe über Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat.« Das heißt: die Verheißung kann sich nur erfüllen, wenn Israel tatsächlich Recht und Gerechtigkeit übt. Hält es diese Bundespflicht nicht, wird es ihm wie Sodom ergehen.

Im Deuteronomium [im 5. Buch Mose], in dem der Bundesgedanke bekanntlich zu dem alles Dominierenden gehört, wird diese Alternative mit den die »zwei Wege« zusammenfassenden Kürzeln »Fluch oder Segen«, »Leben oder Tod« beschrieben. 5. Mose 30,1 bietet sogar eine sprachliche Verklammerung: Jahwe hat Israel die Verheißungen, den Segen und den Fluch vor Augen geführt. Und in 5.Mose 30,15-20 heißt es dann unter anderem: »Siehe! Heute habe ich dir Leben und Heil, Tod und Unheil vor Augen gestellt. Wenn du den Geboten Jahwes, deines Gottes, gehorchst ..., so wirst du am Leben bleiben und dich mehren ... . Wenn sich aber dein Herz wendet und du nicht gehorchst ..., so kündige ich euch an: Ihr werdet unfehlbar zugrundegehen ... und ... nicht lange leben. Ich rufe heute Himmel und Erde wider euch zu Zeugen an: Leben und Tod, Segen und Fluch habe ich dir vor Augen gestellt. So sollst du denn, daß du und deine Nachkommen am Leben bleiben, das Leben wählen ...«.

Für das Deuteronomium schließt Jahwe seinen eigentlichen Bund mit Israel am Horeb, am Sinai. Deshalb wird der Dekalog, die für Israel entscheidende Bundessatzung (2. Mose 20), in 5. Mose 5 ausdrücklich wiederholt. In 5. Mose 30, in der sogenannten Abschieds- beziehungsweise Vermächtnisrede des Mose, steht die Quintessenz dieser Komposition: Israel vernichtet sich selbst, wenn es den Bund bricht.

5. Unsere Welt nach dem Bundesschluß

Die Bibel ist kein Buch der Besinnlichkeit und Erbaulichkeit. Dafür ist der sie bestimmende Realismus viel zu tiefgreifend. Selbst dort, wo man formgeschichtlich von Mythen, Sagen, Legenden sprechen kann, geht es um sehr reale Fragen, die sich - wie durchaus nicht nur das Deuteronomium zeigt - letztlich zu Überlebensfragen verdichten. Gemessen an dem populären Religionsbegriff oder der idealistischen Religionsphilosophie ist die Bibel kein »religiöses« Buch. Sie ist eher religionskritisch - nämlich im Blick auf die real existierende Religiosität Israels und der Gojim. Die Götter der Heiden sind für Jeremia nur »Vogelscheuchen im Gurkenfeld« (Jer. 10,5), und der Tempelkult ist Jahwe ein »Greul« (Jes. 1,10ff.). Der Propheten Anklage ist unglaublich scharf: Von den beamteten Gottesmännern zu Jerusalem »geht die Gottlosigkeit aus in das ganze Land« (Jes. 23,15). Die Kritik am herrschenden Kult und seinen Dienern ist schonungslos, jedenfalls dort, wo sie es sein muß. Selbst ein Mann wie Abraham wird von ihr nicht ausgenommen. Und so erzählt die Genesis [1. Buch Mose] doch tatsächlich die abgründige Geschichte, daß Abraham während seines Aufenthaltes in Ägypten seine Frau Sarah aus reinem Opportunismus überredet, sich dem Pharao hinzugeben.

Der status quo der Geschichte Israels und der Völkerwelt wird im Alten wie im Neuen Testament in einer außergewöhnlichen Klarheit diagnostiziert. Und am Ende fällt die Diagnose verheerend aus. Schon die Jesaja-Apokalypse spricht aus, was der spätjüdischen und frühchristlichen Apokalyptik zur Gewißheit wird. »Die Erde welkt ..., die Welt zerfällt, sie verwelkt, Himmel und Erde zerfallen. Die Erde ist entweiht durch ihre Bewohner ... « (Jes. 24,4f.). Das klingt nicht larmoyant und depressiv - eher aggressiv, denn auch die Apokalyptik bäumt sich gegen dieses Todesurteil auf und sehnt sich nach dem »neuen Äon«.

Es ist eher verständlich als verwunderlich, daß sich die alte Kirche diesen »neuen Äon« alsbald nur noch als ein überirdisches Gebilde vorzustellen wagte. Wer konnte schon in einer Welt des permanenten Krieges, in einer Welt des massenhaften Elends und der massenhaften Not auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde hoffen? In den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte post Christum natum erlosch der Mut zu dieser Hoffnung vollends - und mit ihm der in den urchristlichen Gemeinden noch ganz fest verwurzelte Chiliasmus, die Überzeugung, daß vor der Wiederkunft des Christus ein tausendjähriges Friedensreich anbrechen werde. Auch wenn dann mit dem Kaiser Konstantin die Wende für die Verfolgten kam, die nun auch ihrerseits Verfolgung übten und Synagogen liquidierten - daß aber nun die neue Religion des Staates die Welt vom Fluch zum Segen wenden würde, das war nicht nur für Augustin ganz unvorstellbar. Vorstellbar blieb höchstens der permanente Kampf zwischen der civitas coelestis, der civitas dei, und der civitas terrena, der civitas diaboli [himmlischem Gottes- und irdischem Teufelsreich].

Die große Bedeutung, die dem Diabolus in der Theologie der alten Kirche beigemessen wird, verdankt sich ganz wesentlich der Auseinandersetzung mit der Gnosis, die die apokalyptische Diagnose dieser Welt eigentlich teilt. Aber für einen Marcion ist diese Welt nicht nur von einem Diabolus lediglich durcheinandergebracht worden. Für Marcion ist das Elend und die Not, die Bosheit und Verwerflichkeit so grenzenlos und unabänderlich, daß er - auch um Gottes willen (!) - zur ultima ratio greift und sagen muß: diese Welt kann unmöglich Gottes Schöpfung sein; sie ist das Werk eines bösen Demiurgen. Christliche Erlösung heißt: von Gott aus diesem Demiurgenreich befreit zu werden. Weltflucht ist durchaus auch ein Charakteristikum der altkirchlichen Theologie. Aber die Schöpfung einem Demiurgen zu überlassen, das konnte und wollte die alte Kirche nicht tolerieren. Sie hat - allen Übeln zum Trotz - daran festgehalten, daß die Welt die Schöpfung eines guten Gottes ist. Doch die Aporie, die die alte Kirche mit der Apokalyptik ja teilt, ist deutlich: die Welt ist des guten Gottes gute Schöpfung - und doch sieht es in ihr erbärmlich aus. Die Apokalyptik versucht diese Aporie zu lösen, indem sie den Satan dafür verantwortlich macht - eine Gestalt, die dem alten Israel ganz fremd ist und erst durch die Begegnung mit anderen Religionen in das AT Eingang gefunden hat. Zu denken ist dabei nicht nur an den babylonischen bel dababi, der neben dem Schutzgott die Funktion eines Verklägers hat - ein Motiv, das dann ja im Hiob-Buch eine tragende Rolle spielt. Besonders attraktiv dürfte vor allem auch der Parsismus gewesen sein, der mit seinem Dualismus eine Antwort geben konnte auf das unde malum [woher kommt das Übel?].

Die alte Kirche hat sich der apokalyptischen Lösung angeschlossen, und sie hat diese, entsprechend den neuen Gegebenheiten, modifiziert. Die Apokalyptik rechnet mit dem Ende dieser Welt, mit der Äonenwende. Und noch Paulus rechnet damit - jedenfalls noch im ersten Thessalonicher-Brief -, daß er die Parusie Christi erleben werde (1.Thess. 4,15). Die alte Kirche aber muß sich mit der Parusieverzögerung abfinden und nun eben auch damit, daß der Diabolus noch immer nicht endgültig vernichtet ist, obwohl ihm doch »eigentlich« schon keine Macht mehr zukommt. Es ist nicht zuletzt diese Spannung, die dazu führt, daß die Kirchengeschichte eine so auffällig widersprüchliche Entwicklung nimmt. Einerseits führt diese Spannung dazu, daß Erlösung nach und nach zu einem rein geistig-geistlichen Ereignis wird, bei dem es nur noch um die Seele, aber nicht mehr um den Leib des Menschen geht. Den Leib mag der Satan peinigen, die Seele aber gehört allein Gott. Daneben entwickelt sich der krasse Gegensatz: die Kirche wird zu einer Weltmacht, die sich als »Leib Christi« bezeichnet und dabei mit dem Richterschwert regiert und Königspurpur trägt - Insignien, die allein dem wiederkommenden Christus gebühren. Hier sind sie vorweggenommen und also okkupiert. Die Ideologie ist deutlich und Dostojewski hat ihr ja im Großinquisitor des Iwan Karamasow ein bizarres Denkmal gesetzt: Christus darf gar nicht wiederkommen, solange sein »Stellvertreter« regiert. Wer gegen diese Ideologie opponierte und gegenüber der totalen Spiritualisierung darauf insistierte, daß auch das NT von einem neuen Himmel und einer neuen Erde spricht, der wurde mit dem Schwert gerichtet. Nicht diese Welt und auch nicht diese Kirche, allein des Menschen Herz war zu Erneuerung zugelassen, die nun sehr oft nur noch bedeutete: auch in der größten Not nicht zu verzagen und nicht zu klagen.

Die Opposition gegen die Verweltlichung der Kirche und gegen die Vergeistigung der biblischen Botschaft ist in allen Jahrhunderten spürbar gewesen. Und sie ist im Laufe der Zeit gewachsen, während das Schwert langsam stumpf zu werden begann und der Purpur verblaßte. In der Zeit der Aufklärung kann man schon etwas ungestrafter zu der ursprünglichen Fragestellung zurückkehren, die nun mit großem Optimismus angegangen wird. Und voller Optimismus ist denn auch die Antwort, die jetzt gegeben wird, nachdem das Dogma mit Sanktionen nicht mehr zuverlässig abgesichert werden kann. Die Antwort lautet: Wenn überhaupt, dann ist die Religion ein Agens der Humanität, und Humanität muß und kann entwickelt werden. Diese Welt ist nicht dazu verurteilt, vor einem Diabolus kapitulieren zu müssen. Sie läßt sich gestalten und also in Ordnung bringen.

Hinter diesem hehren Optimismus stehen natürlich auch soziale Kräfte. Das Bürgertum ist auf dem Plan und ringt dem Klerus und dem Adel Zukunft ab. Mit Erfolg, wie wir wissen. Und auf dem Rezept dieses Erfolges steht auch der neue Grundsatz: wenn alles möglich ist, dann kann die Welt unmöglich nur ein Ort des Übels sein.

Leibniz hat aus diesem Satz eine Philosophie geschmiedet, die noch heute imponiert, auch wenn an ihr womöglich gar nichts stimmt. Seine »Theodizee« von 1710 will nur vordergründig Pierre Bayle widerlegen. Im Grunde geht es ihm um Hiob und also um die Frage unde malum. Woher kommt das Übel, und ist Gott gerecht, wenn er es zuläßt? Selbstverständlich ist Gott ein gerechter Gott, antwortet Leibniz. Man muß nur die richtige Perspektive haben, um das erkennen zu können. Nicht das Detail darf unser Urteil über den Zustand dieser Welt bestimmen, man muß auf das Ganze sehen. Mag sein, daß es hier und dort nicht gut aussieht - aber die Welt ist groß, und aufs Ganze gesehen und quantitativ verrechnet relativiert und verliert sich so manches Übel. Und selbst von denen, die dann noch immer nicht übersehen werden können, läßt sich durchaus auch Gutes sagen. Jedes Übel hat auch seine guten Seiten. Es kann ja zum Beispiel zum Ansporn werden, auch zum Anlaß für Verbesserung. Per Saldo ist die Welt durchaus die gute Schöpfung. Und wenn man nun doch bedenkt, daß sie als Schöpfung notwendig unvollkommener als Gott selbst sein muß, weil sie sonst ja mit Gott identisch wäre, dann läßt sich durchaus sagen: diese Welt ist die beste aller möglichen Welten, sie ist die »bestmögliche aller Welten«.

Schon Voltaire konnte das nicht glauben. Und in seinem »Candide« versucht er den Gegenbeweis zu führen, der längst nicht so imponierend ist, aber stichhaltig genug, um noch heute und heute erst recht verifiziert werden zu können. Leibniz hat völlig recht. Die Frage nach der Wirklichkeit unserer Welt darf nicht am Detail festgemacht werden. Nur die ökumenische Perspektive kann hier gültig sein. Aber schon das ist eine Frage der Einstellung und des Blickwinkels, mithin auch eine Interessenfrage. Wer die Wirklichkeit unserer Welt aus der Perspektive einer behaglichen und gesicherten deutschen Wohnzimmerexistenz wahrnimmt, der wird womöglich eine andere Welt als die wirklich existierende sehen. Und wer aus den Chefetagen der neugotischen Bank-Dome und aus den neofeudalen Palästen multinationaler Konzerne auf diese Welt herabschaut und aus dieser Distanz durchaus das Ganze sieht, jedoch statt einer Menschenwelt nur noch einen Weltmarkt erkennen kann, der wird dem Leibniz auch nicht widersprechen wollen: Jawohl, das ist die beste aller möglichen Welten. Die Übel lassen sich verrechnen, und selbst am Elend kann man unter Umständen verdienen.

Eine wirklich ökumenische Perspektive für die Wirklichkeit unserer Welt zu gewinnen, ist offensichtlich ohne bestimmte Voraussetzungen kaum möglich. Es bedarf dazu einer Unbedingtheit, die das eigene Interesse aus dem Mittelpunkt rückt, um jenen Maßstab anlegen zu können, mit dem das Ganze ermessen werden kann. Der Maßstab der alttestamentlichen Prophetenkritik ist weder den Interessen der Tempelpriesterschaft noch denen des Königshauses entliehen. Ihre Kritik liegt nicht einmal in ihrem Eigeninteresse, denn sie machen sich ungeliebt in Israel, man trachtet ihnen nach dem Leben. Der Maßstab, mit dem die Propheten Israel messen, ist die Verheißung und der Bund, den Gott nicht mit den Leviten und dem König schließt, sondern mit ganz Israel. Und weil die Bundesverheißung ganz Israel gilt, ist die Frage nach dem Zustand Israels nur aus dieser so totalen Perspektive gültig.

Eine totale Sicht auf die Wirklichkeit unserer Welt läßt uns Erschreckendes sehen, nämlich eine Welt, in der das Übel gerade nicht eine verbrecherische Ausnahme ist. Gemessen an dem buchstäblich zum Himmel schreienden Elend, das in Milliarden gezählt werden muß, ist der griechische Inbegriff von »Kosmos« zur Ausnahme geworden. »Harmonie« ist nur noch privilegierten Reservaten vorbehalten, und selbst in diesen zählt die Armut nach Millionen. Und auch der Kosmos sozial und wirtschaftlich intakter Biotope hat alle Ästhetik verloren, denn neben und inmitten all dieser Menschennot ist »Reichtum« zu einem häßlichen Wort geworden. Der weltweit herrschende Wahnsinn der ökonomischen, militärischen, politischen Prinzipien hat diese Welt tatsächlich an den Abgrund ihrer Existenz geführt. Fast könnte man versucht werden, Marcion Recht zu geben: diese Welt, in der mehr gestorben als gelebt wird, könnte das Werk eines bösen Demiurgen sein. Jedenfalls ist vom Monotheismus in dieser Welt nicht viel zu spüren. Wir leben mitten in einem politischen Polytheismus. Der Kriegsgott Mars hat hier das Sagen - und vor allem Mammon, der Gott des Geldes, dem alle Welt zu Füßen liegt. Die Götter des Nationalismus liegen im Kampf gegeneinander. Das bellum omnium contra omnes scheint tatsächlich den Rhythmus dieses Lebens zu bestimmen. Der biblische Monotheismus hatte die Erkenntnis im Gefolge, daß die Welt eine Einheit ist und nicht von konkurrierenden Göttern beherrscht und separiert wird. Heute aber haben wir noch nicht einmal einen wirklichen Begriff für die eine Menschheit. Was wir »Menschheit« nennen, ist eine reine Fiktion, denn de facto gibt es viele »Menschheiten«, die in vielen »Welten« leben und sterben. Und wir wissen das auch und können die Welten sogar numerieren.

Man muß kein alttestamentlicher Prophet sein, um den Zustand dieser Welt diagnostizieren zu können. Und man muß nicht einmal besonders weitsichtig sein, um sehen zu können, daß nun auch der Begriff »Zukunft« für diese Welt zu einer Fiktion zu werden beginnt. Der bürgerliche Optimismus der Aufklärung ist grundlos geworden. Was wir mit dem verharmlosenden Stichwort »globale Probleme« zu bezeichnen pflegen, hat längst ein Ausmaß angenommen, das den globalen Kollaps mehr als wahrscheinlich macht. Ein Wunder, wenn er ausbliebe. Aber Gott hat dieser Welt nicht verheißen, Wunder zu tun. Er hat einen Bund geschlossen, der Zukunft enthält, wenn er gehalten wird.

6. Unser Leben unter der Verheißung des Evangeliums

Vom NT war bisher kaum die Rede. Bewußt nicht, denn es läßt sich nicht authentisch von der Botschaft des Neuen Testamentes sprechen, wenn nicht zuvor die alttestamentlichen Verheißungen zur Sprache gebracht worden sind, um die es doch im NT geht. Es ist Dietrich Bonhoeffer gewesen, der auf diesem Zusammenhang mit großem Nachdruck insistiert hat. In einem seiner Briefe aus der Tegeler Haft schreibt er unter dem 28.7.1944: »Der theologische Zwischenbegriff im AT zwischen Gott und dem Glück etc. des Menschen ist ... der des Segens. Gewiß geht es im AT, also z.B. bei den Erzvätern, nicht um das Glück, aber es geht um den Segen Gottes, der alle irdischen Güter in sich schließt. Dieser Segen ist die Inanspruchnahme des irdischen Lebens für Gott, und er enthält alle Verheißungen. Es würde wieder der üblichen vergeistigten Auffassung des NT entsprechen, den alttestamentlichen Segen als vom NT überholt zu betrachten.« (Widerstand und Ergebung, Berlin 1982, 5.Aufl., S. 406)

In dem eingangs erwähnten Evangelischen Kirchenlexikon wird das, was Bonhoeffer kritisiert, deutlich. Das Lexikon hat zwar - gemessen an der RGG müßte man sagen: immerhin - einen Artikel »Verheißungen an Israel«, doch zur επαγγελια des Neuen Testamentes schweigt die Enzyklopädie. Dabei läßt sich für dieses so wichtige Theologoumenon eine Struktur erkennen, die dem alttestamentlichen Verheißungsverständnis entspricht.

Der Aspekt der menschheitsgeschichtlichen Universalität ist dabei besonders deutlich. Und es ist ja wohl auch theologischer Konsens, daß das Christusereignis über Israel hinausführt, daß der Leib Christi aus Juden und Heiden besteht (Röm. 9,24). Aber was das heißt, wird eigentlich erst verständlich, wenn diese Universalisierung auf die Israel geltende Verheißung bezogen wird. Und genau dieses tut Paulus ja in Röm. 9-11: Gottes Verheißungen an Israel gelten weiterhin, und auch wir Heiden sind nun als auf den Ölbaum aufgepfropfte Wildlinge in diese Israelverheißung hineingenommen. Das aber bedeutet: Wenn die Israel-Verheißung die Signatur lebensbejahender Materialität trägt, dann eignet diese auch der auf die Völkerwelt ausgeweiteten Verheißung. Und das NT ist ja auch geradezu auffällig reich an dem, was im Blick auf das AT gerade nicht abwertend als »Heilsmaterialismus« bezeichnet werden konnte. Jesus von Nazareth kümmert sich sehr wohl um den Leib des Menschen, und vielfach berichten die Synoptiker von Krankenheilungen, von Speisungen und auch von dem, was wir heute »soziale Reintegration« nennen würden. Jesus speist mit Huren und Zöllnern und macht sie so »gesellschaftsfähig«. Den Armen gilt in besonderer Weise seine Zuwendung. Lukas (4,18) zitiert geradezu programmatisch Jesaja (61,1-2): »Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, Armen Frohbotschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Augenlicht, Bedrückte in Freiheit zu entlassen, auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn.« Jesus wendet sich eben jenen zu, für die im gelobten Land weder Milch noch Honig fließen. Und der Skopos ist prägnant: ganz Israel soll der Verheißung teilhaftig werden, der Schalom soll ganz Israel umfassen. Mark. 2,15: »Nicht die gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.«

Was Jesus tut, ist in den Augen der herrschenden Schriftpolitik suspekt, paradox und widersinnig. Und in der Tat ist das NT voll von scheinbaren Paradoxien und Widersinnigkeiten. Aber: wenn ganz Israel und von nun an auch noch die ganze Völkerwelt an den Verheißungen partizipieren soll, dann muß sich ein neues Denken und ein neues Handeln durchsetzen, dann müssen die ehernen Traditionen und Grundsätze dieser Welt durchbrochen werden, dann muß der Alternative Geltung verschafft werden - und erst recht dann, wenn sie im kategorischen Widerspruch zu allen Konventionen steht. Jesus von Nazareth ist provozierend unkonventionell, und so diffamiert man ihn denn auch prompt als einen »Fresser und Säufer« (Matth. 19,24). Seine Predigt verkehrt die Maximen dieser Welt in ihr schroffes Gegenteil. »Wer das Leben gewinnen will, der wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen.« (Matth. 10,39) »Wer unter euch der Größte sein will, der soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, der soll der Diener aller sein.« (Mark. 10,43f.) »Leichter kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch als ein Reicher in das Reich Gottes hinein.« (Matth. 19,24) Ganz ungeheuerlich ein solcher Spruch, denn wer in Israel in Reichtum lebt, der gilt doch als von Gott gesegnet. Ein ärgerlicher Tor, wer so redet. Und Paulus bestätigt das sogar. Jawohl, das Evangelium ist »Juden ein Ärgernis, Heiden eine Torheit« (1.Kor. 1,18). Der Paradigmenwechsel ist total, auch bei Paulus. 1.Kor. 1,27f: »Was die Welt für töricht hält, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen; was die Welt für schwach hält, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen«.

Metanoia nennt das NT diese Umkehr im Grundsätzlichen, bei der alles Herkömmliche in Frage gestellt wird. Auch für die Propheten war Umkehr und Abkehr das entscheidende Wort. Für sie stand die Existenz Israels auf dem Spiel. Im NT geht es um die ganze Menschheit. Und es geht um die Frage, ob die Menschheit einen neuen Äon erleben oder ohne Zukunft bleiben wird. In diesem Kontext stehen auch die Makarismen [die Seligpreisungen] der sogenannten Bergpredigt, die nicht etwa eine Sonderethik, ein Ethos besonderer Vollkommenheit proklamiert. Matthäus hat die Bergpredigt ja bewußt in Analogie zum Sinai-Bund gesetzt. Und wie der Dekalog, die »Zehn Worte des Bundes«, ganz Israel verpflichtet, so nun auch die Bergpredigt die ganze Menschheit. Matthäus versteht sie als eine Bundesverpflichtung für eine erneuerte Politik in des Wortes umfassendster Bedeutung. Der regelmäßig vorgetragene Einwand, mit der Bergpredigt könne man keine Politik machen, ist aber nur insofern richtig, als sich die Politik des »alten Äons« tatsächlich nicht mit der Bergpredigt machen läßt. Aber dieser »alte Äon« ist für das NT eben auch der vergehende, der vom Tode gezeichnete und zukunftslose. Zukunft gibt es nur mit einer neuen Politik, die dem »neuen Bund« entspricht.

An der Bergpredigt spiegelt sich das Ineinander der alttestamentlichen Verheißungsstruktur besonders klar wider. Sogar der lebensbejahende Aspekt der Landverheißung ist hier aufgenommen, Matth. 5,5: »Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen.« Die Verheißung des Landes und also die Verheißung von Zukunft und Schalom verbindet sich mit einer totalen Umkehr. Nicht das Militär, nicht die Gewalt politischer und wirtschaftlicher Macht kann dem Lande Zukunft garantieren. Im Gegenteil. Gerade durch sie wird Zukunft verspielt. Die Verheißung, die der Menschheit des »alten Äons« in einem »neuen Äon« Zukunft zusagt, ruht ausschließlich auf den von radikaler Umkehr und Abkehr bestimmten Alternativen. Für die Politiker des »alten Äon« ist das freilich absurd, naiv oder verrückt. Und ganz sicher kein Zufall: Die erste Seligpreisung der Bergpredigt gilt tatsächlich den »Armen im Geiste« (Matth. 5,3). Bei Paulus heißt es 1.Kor. 1,19f.: »Es steht geschrieben: ›Vernichten will ich die Weisheit der Weisen und die Klugheit der Klugen beiseite schieben.‹ Wo ist ein Weiser, wo ein Schriftgelehrter, wo ein Wortfechter dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit erwiesen?«

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Was heißt Gemeinde Jesu Christi, was heißt Kirche heute, wenn das NT die Verheißung an die christologisch begründete Praxis eines grundsätzlich alternativen Lebens und einer im Grundsatz alternativen Politik bindet? Daß das NT die christliche Gemeinde als den Ort einer auch die Welt verwandelnden Erneuerungsbewegung versteht, läßt sich nachlesen. Und es läßt sich auch nachlesen, daß hier »Nachfolge« und also gehorsame Kooperation zur conditio sine qua non wird. Ob aber die Christenheit an diesem Ort überhaupt noch anzutreffen ist, läßt sich, jedenfalls an unseren öffentlichen Kirchen, kaum noch ablesen. Und dabei fallen hier Entscheidungen, bei denen es um die Zukunft der Menschheit geht und also um die Verheißung Gottes.

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