TOPOS

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TOPOS

Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie

herausgegeben von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo

in Verbindung mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici und dem Centro di Studi Filosofici S. Abbondio

Edizioni La Città del Sole/Napoli ( I - 80135 Napoli, Piazza Quattro Giornate, 64)

www.toposzeitschrift.de

STOA UND GNOSIS

Anpassung und Verweigerung. Typologische Aspekte zweier antiker Ideologien im Zeitalter der griechisch-römischen Globalisierung   

HANS HEINZ HOLZ 

Zu Dieter Krafts Beitrag: Stoa und Gnosis

DIETER KRAFT

Eine Replik

EIN SYMPOSION

»Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert?«

DIETER KRAFT

Zu Hans Heinz Holz: »Weltentwurf und Reflexion«

HANS HEINZ HOLZ

Eine Replik

MYTHOS UND IDEOLOGIE

Zum politischen und theoretischen Umgang mit einer griechischen Vokabel

[TOPOS 31, Napoli 2009, S. 13-48]

DER ENTKETTETE KNECHT

Philosophische Perspektiven auf Brecht und Hacks und Hegel

[TOPOS 34, Napoli 2010, S. 151-166]

REINHARD KRÜGER

Klassik-Ideologie als Herrschaftswissen. Ein Beitrag zu ihrer Kritik

[TOPOS 35, Napoli 2011, S. 111-135]

MESSER UND GABEL

Zu Reinhard Krügers Kritik des Klassikbewußtseins

[TOPOS 35, Napoli 2011, S. 137-146]

STOA UND GNOSIS

Anpassung und Verweigerung. Typologische Aspekte zweier antiker Ideologien im Zeitalter der griechisch-römischen Globalisierung

[in: TOPOS 15, Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, herausgegeben von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo, Neapel 2000, S. 11-32]

Globalisation is not only an imperialistic term of the present time. We know the process of globalisation in history. Two periods are well-known: Hellenism and the Roman Empire. Both epochs are accompanied by philosophies and religions which try to give a special answer to the global challenges of existence and society. Two types are significant for different ideological arguments: Stoicism and Gnosticism. Stoicism affirms the new development and gives a universal philosophic platform for adaptation. Gnosticism refuses recognising new conditions and condemns the world with its divine rulers. Stoicism is looking for harmony, Gnosticism is searching a radical conflict. Two types of ideology interesting in history and the present.

Von der Polis zur Oikoumene

Als sich Zenon aus Kition um 300 ante Christum natum in einer mit Gemälden geschmückten Halle am Markt von Athen niederläßt und seine neue Philosophie vorträgt, findet er in dieser stoa poikile schnell großen Zulauf. Die Athener warten auf neue Lebenslehren. Seit die griechische polis aufgehört hat ein Stadtstaat zu sein, eine in sich geschlossene und weitgehend autokephale Stände- und Klassengesellschaft, deren Beziehungen zu anderen griechischen Stadtstaaten vornehmlich von Kriegern und Kaufleuten gestaltet wurden, hat das ursprünglich im Gerichtshof gesprochene Wort von der krisis einen ganz neuen und übergreifenden Klang bekommen. Mehr oder weniger sind nun alle Athener dazu verurteilt, sich nach ihrem neuen Bürgertum in einer Welt befragen lassen zu müssen, die nicht mehr an ihren Stadtstaatstoren endet, sondern in Asien und Afrika.

In seiner politischen Bedeutung muß sich Athen ohnehin und schon lange bescheiden, und mit der Niederlage von 338 gegen den makedonischen Phillip II. in der Schlacht von Chaironeia verblaßt der alte Ruhm endgültig. Bei Chaironeia unterliegen die Athener Militärs mit dem die siegentscheidende Reiterei anführenden Alexander einem Mann, der in der Folgezeit nicht nur die griechischen Städte in eine ebenso umwälzende wie verheerende Entwicklung treibt. Als Alexander III. setzt der Sohn Philipps nach seiner 336 erfolgten Inthronisation die makedonische Hegemonial- und Expansionspolitik in rasantem Tempo und in einem Ausmaß fort, das alle vorangegangenen hellenischen Kriegszüge nachgerade maßlos überbietet.

Als erste bekommen das die Nachbarn im Norden zu spüren, die Skythen und Illyrier, und 335 auch das einflußreiche Theben, das fast vollständig zerstört wird. Schon 334 zieht Alexander gegen Persien und schlägt ein Jahr später den Großkönig Dareios III.. 332 kapituliert die Phönizierstadt Tyros. 331 wird Sparta besiegt, Syrien erobert, Ägypten besetzt. Im selben Jahr fallen Babylon und Susa. 330 geht Persepolis in Flammen auf. 329 werden Baktrien und Sogdianien mit Samarkant unterworfen. Und schließlich zieht Alexander auch noch gegen Indien. Als er 323 stirbt, hinterläßt er ein Weltreich, das im Wortsinn der griechischen oikoumene enspricht.

Während Zenon in Athen seine neue Lebensphilosophie vorträgt, toben noch immer die Diadochenkämpfe um dieses Weltreich. Zwar wird es nun in neuen Kriegen herrschaftspolitisch aufgeteilt, doch es sind griechische Herrschaften, die diese oikoumene regieren und prägen. Und so wird Griechisch in der dialektreichen Gestalt der Koine zu einer Weltsprache, verbreitet sich hellenische Kultur und Religion, um wiederum mit Asiatischem, Arabischem, Nordafrikanischem zu jenem Konglomerat zu verschmelzen, das seit Johann Gustav Droysen Hellenismus genannt wird. Eine historische Abbreviatur, die der griechischen Überfremdung der eroberten Gebiete ebenso Rechnung trägt wie der multikulturellen Synthese, die für das hellenisierte Großreich nicht minder charakteristisch ist und von Alexander sogar planvoll befördert wird, wie die spektakuläre Massenhochzeit zu Susa 324 zeigt, bei der sich Tausende seiner Krieger mit Perserinnen vermählen müssen und Alexander selber eine Tochter des Dareios zur Frau nimmt. Der ethnische, religiöse, kulturelle Synkretismus gehört als sozio-kulturelle Signatur zum Hellenismus ebenso wie seine griechische Prägung.

Auch der aus dem zyprischen Kition stammende Zenon ist kein gebürtiger Grieche, sondern phönikischer Herkunft. In Athen findet man ihn bezeichnenderweise zunächst im Kreise der Kyniker, deren demonstrative Bedürfnislosigkeit auch eine Form der Solidarität mit den Stadtarmen ist und nicht nur Ausdruck einer Stadtbürgerlichkeit, die sich vor dem Niedergang der Polis und den bereits Einzug haltenden oikoumenischen Turbulenzen in einen originellen Individualismus zu retten versucht. Diogenes Laertius berichtet in seinem antiken Philosophenkompendium von dem berühmten Kyniker Diogenes aus Sinope: »Auf die Frage, welchen Gewinn ihm die Philosophie gebracht hätte, sagte er, wenn sonst auch nichts, so doch jedenfalls dies, auf jede Schicksalswendung gefaßt zu sein.«[1] Wer nichts hat, dem kann auch nichts genommen werden; wer sich selbst genug ist, den müssen keine politischen Verwerfungen beunruhigen; wer ein Weltbürger ist, der kümmert sich nicht um die Meinung der agora. Schon für die Kyniker ist der Kosmopolitismus eine ideologisch und natürlich auch eine sozialpsychologisch tragende Kategorie. Gefragt nach seinem Heimatort, antwortete Diogenes: »Ich bin ein Weltbürger.«[2]

Die Stoiker verstehen sich auch als Weltbürger. Doch ihr Kosmopolitismus hat, wie auch ihr Schicksalsverständnis, eine ganz andere Färbung. Überhaupt kommt ihrer Philosophie insgesamt eine ganz andere Funktion zu. Die Kyniker verweigern sich. Sie stellen sich jenseits aller Konvention und bloßen Tradition. Und so bergen die Provokationen ihres exzentrischen Individualismus letztlich immer auch Gesellschaftskritik, die zwar kaum damit rechnen darf, Veränderungen auslösen zu können, die dessen ungeachtet aber durchaus als eine Form des Protestes verstanden - und nur selten angenommen wird. Diogenes Laertius ruft dem Antisthenes noch 6 Jahrhunderte später nach: »Eine Hundenatur, Antisthenes, warst du im Leben. Mit deinem bissigen Wort trafst Du die Menschen ins Herz.«[3]

Ins Herz treffen wollen die Stoiker ihre Zeitgenossen nicht. Im Gegenteil. Sie sind keine Provokateure. Sie sind nicht einmal Kritiker, obwohl sie um das Leiden wissen - das Leiden an einer Welt, in der die Schrecken des Krieges zur Normalität gehören und unterschiedslos jeder von diesem Greuel heimgesucht werden kann, wie etwa in Theben, bei dessen Zerstörung Alexander Tausende Einwohner töten und den Rest als Sklaven verkaufen läßt. Sie wissen um das Leiden an einer Welt, die so groß und unübersichtlich geworden ist, daß der einzelne in ständiger Gefahr steht, in diesem Meer der Völkerverschmelzung unterzugehen. Sie wissen um die Inflation eines alten Wertesystems, das der neuen Welt des Alexander und seiner Diadochen nicht kompatibel ist. Und sie wissen, daß viele ihrer Zeitgenossen darauf warten, eine Orientierung zu finden, die es ihnen erlaubt, diese prekäre Lage bewältigen zu können.

Epikur wird eine solche Orientierung - aber nur für einzelne. Seine Empfehlung, doch einfach im Verborgenen zu leben, um zu überleben, ein paar gute Freunde zu suchen und möglichst jeder Unlust und also auch allem Politischen aus dem Wege zu gehen, ist kein Programm, das in einer Weltenkrise Massen mobilisiert. Die Stoiker aber bieten ein solches Programm, mit einem Erfolg, der über Jahrhunderte anhält und sich nicht zufällig auch im römischen Imperium fortsetzt[4].

Zu den Leitern der Athener Schule gehören nach Zenon aus Kition (~262): Kleanthes aus Assos (bis ~232), Chrysipp aus Soloi (bis ~206), Zenon aus Tarsos (bis ?), Diogenes aus Seleukeia (bis ~150), Antipatros aus Tarsos (bis ~129). Dessen Nachfolger, Panaitios aus Rhodos (~110), der Begründer der sog. ›mittleren Stoa‹, trägt die stoische Philosophie auch in römische Kreise. In der Schulleitung folgen ihm die Athener Dardanos und Mnesarchos nach, und dann läßt sich die Sukzession in Athen nicht weiter verfolgen. Der Syrer Poseidonios aus Apameia (~51) zählt schon nicht mehr zu den eigentlichen Schuloberhäuptern, obwohl er der letzte große Vertreter der griechischen Stoa ist, die in der römischen aufgeht und sich hier mit den Namen Seneca (65 n.Chr.), Epiktet (~130) und Mark Aurel (180) und z.T. auch schon mit Cicero (43 v.Chr.) verbindet.[5]

Die ursprünglich sehr zahlreichen, doch nur fragmentarisch überlieferten Schriften[6] verdichten sich zu einem Bild, das in seiner relativen Homogenität zugleich die Geschlossenheit einer ideologisch affirmativen Weltanschauung zeigt. Die Kyniker wollen sich ostentativ verweigern, die Epikureer wollen sich stillschweigend aus allem heraushalten, die Stoiker aber sind entschlossen, sich den ungeheuren weltpolitischen Umwälzungen um jeden Preis anzupassen. Diese weltanschauliche Assimilation verläuft auf verschiedenen Ebenen, die im einzelnen ein unterschiedliches Gewicht erhalten, aber, weil letztlich derselben Problemlage verpflichtet, miteinander auch dort verbunden sind, wo sie zueinander im Widerspruch stehen.

Von der oikoumenischen zur kosmologischen Totalität

Die Akkommodation der Stoiker an die durch den Hellenismus bestimmte welt- und gesellschaftspolitische Entwicklung beginnt, biographisch gesehen, mit einer Wende, jedenfalls damit, daß sich Zenon von Kition von seinem alten Athener Lehrer Krates abwendet und den Kreis der Kyniker verläßt. Es ist nicht überliefert, ob er diesen Bruch seinen Zeitgenossen als notwendigen Schritt einer programmatischen ›Reform‹ zu erklären versucht, wohl aber wird alsbald deutlich, daß die dem Zenon folgende Bewegung der Stoa nicht reformieren, sondern weltanschaulich affirmieren und ideologisch legitimieren will. Und sie unternimmt dieses philosophisch in einer abstrakten Universalität, die für die griechische Antike beispiellos ist, doch in den makedonischen Eroberungen ihre konkrete politische Entsprechung findet.

Die Affirmationsphilosophie der Stoa setzt mit einer dubiosen These ein. Während sich ganz Griechenland in einem politischen und kulturellen Umbruch befindet und die unterworfenen Länder und Völker um ihre nationale Identität ringen, während der explodierende Hellenismus für tiefgreifende gesellschaftliche Turbulenzen sorgt und allenthalben Krieg befohlen wird, behaupten die Stoiker kategorisch: In dieser Welt geht alles mit rechten Dingen zu, in ihr ist alles logisch und vernünftig. Denn nicht nur diese Welt, sondern der gesamte Kosmos ist durchdrungen und wird getragen und geordnet und auf schönste Weise erhalten und gelenkt von einem göttlichen logos und also von einer alles regierenden und dirigierenden göttlichen Vernunft. Dieser Logos gibt aller Wirklichkeit Maß und Gesetzmäßigkeit, Sinn und Ziel. Die Natur, die Geschichte und selbst die Gestirne folgen seiner göttlichen »Logik«. Er ist die »Seele« und der »Geist« des Ganzen - und das Ganze ist eines, denn auch die Gottheit ist eine, und nichts ist außerhalb der Gottheit.

Hegels Diktum von der Identität des Wirklichen mit dem Vernünftigen hätte eigentlich durch die Stoa berühmt werden müssen. Jedenfalls vermitteln auch die Stoiker mit dieser Identität eine weltanschaulich-philosophische Grundstimmung, die erhaben macht und nicht verweilen läßt beim Widrigen des Widerspruchs und der Verwerfung in Gesellschaft und Geschichte. Natürlich denken sie das Leid nicht einfach weg. Im Gegenteil. In ihrer »Physik« erhält es sogar den Rang einer arche, eines ontologischen Grundprinzips:

»Das All, das Ganze (τὸ ὅλον) besteht aus zwei Prinzipien (δύο ἀρχὰς), dem wirkenden und dem leidenden (τὸ ποιοῦν καὶ τὸ πάσχον). Das leidende ist die qualitätslose Wesenheit, die Materie ( ὕλη), das in ihr wirkende ist der Logos (ὁ λόγος), die Gottheit (ὁ θεός). Diese geht in ihrer Ewigkeit ganz durch sie hindurch und gestaltet (δημιουργεῖν) so die Einzeldinge.«[7]

Wie das Feuer sich mit den Dingen vermischt und sie durchdringt, so vermischt sich der Logos mit der ganzen Materie und durchdringt sie gestaltend. In einem solchen Vorgang hat das Leidende gar keine Wahl. Aber selbst noch im Leiden darf es sich rühmen (lassen), vom Göttlichen gestaltet zu werden.

Hinter Aristoteles und die subtile entelechisch vermittelte Dialektik von Stoff und Form fällt diese stoizistische Zuordnung von hyle und logos - rein philosophisch geurteilt - erstaunlich weit zurück. Ideologisch gesehen aber ist diese Vereinfachung plausibel. Denn in ihr läßt sich nicht nur der griechische Gestaltungsanspruch gegenüber den eroberten und besetzten Ländern und Völkern entdecken. Sie enthält auch für den im Hellenismus noch nicht angekommenen und unter den neuen Verhältnissen und Entwicklungen leidenden Griechen die Botschaft, sich mit Überzeugung fügen zu können.

Es ist keine metabasis eis allo genos, die Philosophie der Stoa nach ihrem Ideologiegehalt zu befragen und ihren philosophischen Monismus und Pantheismus mit dem politischen Panhellenismus in Verbindung zu bringen - und erst recht auch ihren philosophisch begründeten Kosmopolitismus mit dem politischen Oikoumenismus.[8] Die Stoiker selber geben mit der durch Generationen repetierten Maxime vom ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν[9] einen Kosmologie, Naturphilosophie, Ethik und Politik verbindenden Interpretationszusammenhang vor. homologoumenos te physei zen, in Übereinstimmung mit der Natur leben, convenienter naturae vivere[10], wie dann die römischen Stoiker schon nicht mehr ganz so beziehungsreich sagen, denn bereits in homologoumenos geht es etymologisch um den logos im legein, um den einen (homo) und alles, Natur und Geschichte, durchdringenden und bestimmenden göttlichen Logos. Nicht mit der Natur schlechthin ist nach Übereinstimmung zu trachten, sondern mit dem ihr innewohnenden Logos. Als logosgemäßes ist das naturgemäße Leben ein vernünftiges und als solches ein tugendhaftes und damit ein glückseliges Leben.

Auch für die Stoa ist die eudaimonia natürlich ein zentrales Thema. Und für die Stoiker charakteristisch ist Zenons ebenso schlichte wie prägnante Definition dieser mit »Glückseligkeit« eigentlich gar nicht adäquat wiedergegebenen eudaimonia: εὐδαιμονία δ' ἐστὶν εὔροια βίου[11], Glückseligkeit ist ein gut verlaufendes Leben - besser noch: ein gutes Leben fließt ungehindert dahin. Das klingt bescheiden und unspektakulär, aber gemessen an den äußeren Bedingungen, unter denen die Stoiker dieses gute Leben propagieren, ist der Anspruch sehr hoch. Wo schon kann Leben ungehindert dahinfließen - und nun gar in Zeiten sozialer und geschichtlicher Umbrüche und Umwälzungen, die vor niemandem halt machen und jeden erfassen und aus der Lebensbahn werfen können. Und um genau diese Frage gruppiert sich das lebensphilosophische System der Stoa: Wie muß sich der Einzelne verhalten, um in dieser kritischen Situation nicht aus der Bahn geworfen zu werden?

Die Antwort der Stoa ist einfach und umfassend zugleich und in dem Postulat eines naturgemäßen Lebens in jeder Hinsicht enthalten, denn kata physin zielt nicht nur auf die Welt der Natur, sondern auf die Natur der Welt, mithin also auf die Natur der Dinge ebenso wie auf die Natur des Menschen, der Polis, der Oikoumene. Denn alle unsere Naturen sind Teil des Ganzen, μέρη γάρ εἰσιν αἱ ἡμέτεραι φύσεις τῆς τοῦ ὃλου[12]. Hermeneutisch freilich kommt der Welt der Natur eine besondere Bedeutung zu, denn was ihr gegenüber gemäß heißt, das läßt sich plausibel vermitteln. Die ›physikalische‹ Welt der Natur gestattet dem Menschen - aufs Ganze gesehen - keinen willkürlichen Handlungsspielraum. Niemand verstößt ungestraft gegen die Ordnung der Natur, niemand kann ihren nomos, ihre Gesetzmäßigkeit aufheben. Wer die Naturordnung nicht akzeptiert, wer sich ihr nicht anpaßt und unterwirft, der bezahlt gegebenenfalls sogar mit dem Leben. Auf jeden Fall aber bringt er in sein Leben Unordnung und mit ihr Schmerz und Leid. Es ist also vernünftig, die Ordnung der Natur zu respektieren und sich ihr zu akkommodieren – und dieses um so mehr, so nun die besondere Betonung der Stoiker, als sich in dieser Ordnung nichts anderes als der göttliche Logos manifestiert. Der aber waltet nicht nur im Naturgeschehen, sondern gleichermaßen auch in der Geschichte. Und so gilt auch für die Geschichte, was für die Natur gilt: Wer sich ihr nicht anpaßt und unterwirft, der bringt sich um seine eudaimonia.

Die über Jahrhunderte anhaltende Popularität der Stoa verdankt sich nicht zuletzt auch der Tatsache, daß die Stoiker diese Anpassung nicht vordergründig dekretieren, sondern hintergründig für sie werben. Niemand muß, aber alle dürfen sich »logosgemäß« verhalten - und das aus guten Gründen. Diese guten Gründe heißen pronoia und heimarmene. Eigentlich könnte man beide mit Vorsehung übersetzen, denn pronoia und heimarmene überschneiden und vermischen sich, bis hin zur Austauschbarkeit[13], die darin gegeben ist, daß beide letztlich wiederum mit dem logos identisch sind[14]. So kommt in der sprachlichen Differenzierung eher eine Unterscheidung der Beziehungsebenen zum Ausdruck. Während sich die Vorsehung als pronoia auf das Verhältnis des Menschen zum Naturgeschehen bezieht, bezieht sie sich als heimarmene, als Schicksal, auf seine Geschichte. Und in beidem darf der Mensch nun davon ausgehen, daß in allem nicht nur Ordnung schlechthin herrscht, sondern eine menschenfreundliche, weil alles in allem zweckmäßige und nützliche und auch schöne Ordnung.

μηδὲν ὑπὸ τῆς φύσεως γίνεσθαι μάτην,[15] sagt der Athener Chrysipp: Nichts geschieht in der Natur umsonst. Omnia aliorum causa esse generata,[16] zitiert ihn später der Römer Cicero: Alles ist um eines anderen willen geschaffen - und er schwärmt von den Pflanzen, die für die Tiere, und von den Tieren, die für die Menschen, von den Pferden, die zum Reiten, von den Ochsen, die zum Pflügen, von den Hunden, die zum Jagen, von den Schweinen, die zum Schlachten da sind. Alles ist miteinander sinnvoll verbunden und aufeinander bezogen. Das eine ist die Voraussetzung des anderen, und alles hat eine Bestimmung und ein Telos.

Bevor Leibniz von der »prästabilierten Harmonie« sprechen wird, haben die Stoiker diesen Topos längst besetzt und dabei das harte Wort vom Widerspruch rhetorisch weitgehend ausgeräumt: Natürlich ist die Harmonie im einzelnen nicht immer ganz vollkommen, aber aufs Ganze gesehen[17] steht ho kosmos für Ordnung und Schmuck.

In dieser »besten aller möglichen Welten« sorgt die Vorsehung aber nicht nur für ein planvolles Mit- und Füreinander der Natur, die heimarmene nimmt sich auch des Menschenschicksals an und läßt ein logosgemäßes Leben gut verlaufen, denn letztlich hat die pronoia vorzugsweise (προηγούμενος) um der vernünftigen Wesen willen alles hervorgebracht und sorgt (pronoei) vorzugsweise für diese[18]. Der Zeus-Hymnus des Kleanthes weiß denn auch zu rühmen:

»Nichts gibt es auf Erden, was deiner Gottheit entzogen, nichts in dem Reiche des Äthers noch drunten in Fluten des Meeres. Nur was Böses die Menschen vollbringen, das tut ihre Torheit. Aber du weißt auch das Krumme zum Graden zu richten. Was häßlich, schön wird’s in deiner Hand, was feindlich, ergibt sich in Liebe; Gutes und Böses, sie werden vereint zu einem Verbande; eine Vernunft herrscht ewig, faßt alles harmonisch zusammen.«[19]

Auch Kleanthes beherrscht die Kunst, das offensichtlich doch nicht ganz zu übergehende Üble und Böse (kakos) rhetorisch zu relativieren. Völlig ausräumen aber können es die Stoiker natürlich alle nicht. Jedenfalls nicht objektiv. Und so konzentriert sich denn ihre Ethik fast ausschließlich auf die Frage, wie das Übel subjektiv zum Verschwinden gebracht werden kann. Und ihre Antwort lautet: indem wir unsere Einstellung zum Übel korrigieren und, wenn auch das nicht hilft, das Üble einfach ignorieren. Der Weise beherrscht das eine wie das andere. Und Weisheit ist eine Tugend, die erlernbar ist.

Das von der Stoa entwickelte Exerzitium ist nicht umfangreich, dafür aber sehr kompakt. Zu der Hauptübung gehört es, sich der sog. Affekte, der pathe, zu entledigen und Trauer, Furcht, Begierde und Lust[20] zu überwinden, um apathisch, leidenschaftslos, werden und den erstrebenswerten Zustand der Ataraxie und Autarkie erreichen zu können, die Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit von allen inneren Erregungen und äußeren Bewegungen. Für den Leidenschaftslosen kommen viele Übel erst gar nicht in Betracht. Nicht einmal das Leid des Nächsten geht ihn etwas an, denn Mitleid ist nur eine Form der Trauer und als solche eine unvernünftige und naturwidrige Bewegung der Seele[21]. Die römischen Stoiker bekräftigen solche Grundsätze später mit Nachdruck: misericordia est aegritudo animi[22], Mitleid ist eine Krankheit der Seele. Die »vernünftige« und »gesunde« Seele des »Weisen« läßt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er weiß, daß alles nur eine Frage der richtigen Einstellung ist, die die nichtige Meinung (doxa) hinter sich läßt.

»Alles ist Meinung, und diese hängt ganz von dir ab. Räume also, wenn du willst, die Meinung aus dem Wege, und gleich dem Seefahrer, der eine Klippe umschifft hat, wirst du unter Windstille auf ruhiger See in den sicheren Hafen einfahren.«[23]

Es kommt nicht darauf an, die Verhältnisse zu verändern, sondern sie zu interpretieren - und zwar so, daß möglichst alles Üble von ihnen abfällt. »Darum muß man nicht die Armut vertreiben, sondern die falsche Ansicht von ihr; so werden wir glücklich sein.«[24]

Was für die Armut gilt, das gilt letztlich für alle prekären sozialen Verhältnisse und natürlich auch für die Sklaverei. Bis heute wird die Stoa oft dafür gerühmt, auch dem Sklaven konzediert zu haben, ein Mensch zu sein[25]. Und tatsächlich touchieren die Stoiker damit eine Herrschafts­ideologie, der auch ein Aristoteles geradezu selbstverständlich verpflichtet ist. Doch die soziale Konsequenz und also die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei folgt daraus mitnichten, obgleich eine solche Forderung nun erst recht erhoben werden müßte. Den Stoikern aber liegt nichts an gesellschaftlichen Veränderungen. Sie verändern lediglich die Perspektive und können so die Sklaverei verschwinden lassen. Denn nur der ist ein Sklave, der sich zum Knecht seiner Affekte macht; die wahre Freiheit besteht in der inneren Unabhängigkeit[26].

Als der makedonische König Antigonos den achtzigjährigen Zenon als Erzieher an seinen Hof beruft, beweist er ein sicheres Gespür für staatstragende Ideologien. Zenon schlägt den Ruf aus Altersgründen zwar aus, doch schickt er zwei seiner Schüler[27] und kommt so jener kosmopolitischen Staatsbürgerpflicht nach, die für die Stoa insgesamt zum unbedingt Gebotenen gehört[28]. to kathekon nennen seit Zenon[29] die griechischen Stoiker jenes unbedingt Gebotene, das dann in der römischen Stoa als officium[30] einen geradezu amtlichen Charakter erhält Im Zentrum dieser sog. Pflichtenlehre steht die Entfaltung einer Gesinnungsethik, die auf die unbedingte Übereinstimmung mit dem vom Logos bestimmten Grundgesetz des Naturgemäßen abzielt[31]. Das kathekon wird so zu dem kategorischen Imperativ, sich unter allen Umständen und also rücksichtslos[32] der von der pronoia getragenen Wirklichkeit zu akkommodieren. Und natürlich heißt das für die Stoiker auch: sich der Staatspolitik zur Verfügung zu stellen[33] und unnachsichtig für die Einhaltung und Durchsetzung der Staatsgesetze einzutreten[34].

Es ist kein Zufall, daß die »Lebensphilosophie« der griechischen Stoa in dem die Diadochenreiche nach und nach und 30 ante Christum natum schließlich endgültig erobernden Imperium Romanum weiterlebt. Dafür sind die gesellschaftlichen Konsequenzen der griechischen und der römischen Globalisierung viel zu ähnlich[35]. Wer in dem nun noch größeren Römischen Weltreich möglichst unbeschadet überleben will, der muß sich auch diesem neuen Imperialismus anpassen und nach jener conciliatio trachten, die die griechischen Stoiker bezeichnenderweise oikeiosis[36] nennen. οἰκειόω: sich jemanden zum Freund und zum Vertrauten machen, sich etwas zueignen - und im eigentlichen Wortsinne (oikos, das Haus): sich häuslich einrichten, heimisch werden. In kaum einem anderen Begriff widerspiegelt sich das Grundanliegen der Stoa so sinnfällig und so präzis wie in dem der oikeiosis. Und in keiner anderen antiken Philosophie als der der Stoa wird eine weltanschaulich und ideologisch so umfassende und präzise Antwort auf die existentiell und politisch gleichermaßen hochbrisante Frage gegeben, wie man sich in einer feindlich werdenden Welt und Geschichte intellektuell einzurichten hat, um ein Teil dieser Welt und dieser Geschichte werden und also einen Paradigmenwechsel vollziehen zu können, der aus dem Ort der Bedrohung ein Zuhause macht. Und dabei wird von den Stoikern selbst noch das Scheitern dieser oikeiosis vorsorglich bedacht und mit der Empfehlung verbunden, ganz gelassen den Freitod zu wählen, wenn das Leid denn doch zu mächtig wird[37].

Daß die griechische Stoa im römischen Weltreich ihre Fortsetzung finden kann, verdankt sie aber nicht nur analogen historischen Prozessen. Sie verdankt diese Prolongation vor allem auch der Tatsache, daß sie in ihrer Funktion als populare Überlebensphilosophie zugleich und in herausragender Weise die Kriterien einer hegemonialen Herrschaftsideologie erfüllt, denn der Stoiker ist für jeden Herrscher ein idealer Staatsbürger. Von ihm sind keine Revolten zu befürchten. Veränderung ist nicht sein Thema. Sollte sich dennoch alles verändern, wird er sich als erster anzupassen wissen. Er ist konstruktiv und konstruiert selbst für den eklatanten Widerspruch Sinn und Harmonie. Er fügt sich ein und ordnet sich unter, bedürfnislos und anspruchsfrei, bereit, fürs Vaterland zu sterben. Und in allem ist er zudem noch glücklich und zufrieden und sorgt stets ganz allein dafür, daß das so bleibt.

Bezeichnenderweise sind die ersten Römer, die sich für die Stoa interessieren, Aristokraten und Vertreter der politischen Herrschaftselite[38]. Jedenfalls unterhält der Begründer der sog. »mittleren Stoa«, Panaitios aus Rhodos, beste Beziehungen zu diesen römischen Kreisen; und er schreibt sogar für sie. Und ein Cicero wird dann später vieles wörtlich von ihm abschreiben[39]. Am sinnfälligsten jedoch verbindet sich der ideologische Doppelcharakter der Stoa in ihrer späten Phase mit den Namen Epiktet und Mark Aurel. Der Sklave und der göttliche Kaiser - zwei Wortführer einer Lebensphilosophie. Das ist kein Irrtum, das ist die Stoa.

Das Ende der Harmonie

Eine solche Eintracht ist in der Gnosis nicht denkbar. Unter Gnostikern ist von dem, was die Stoa ausmacht, überhaupt nichts denkbar, es sei denn als Gegenstand einer radikalen und grundsätzlichen Kritik. Diese wird zu einem Zeitpunkt laut, der sich ähnlich genau bestimmen läßt wie die Geburtsstunde der Stoa. Mit der jüngeren Forschung[40] wird man davon auszugehen haben, daß »die Bewegung der Gnosis in der neutestamentlichen Zeit wuchs und sich entwickelte, Seite an Seite mit dem Christentum und in gewissem Maße im Austausch mit ihm.«[41] Damit aber bekommt für die Bewegung der Gnosis ein historisches Datum Bedeutung, das für das Römische Reich insgesamt von großer und nachhaltiger Wirkung ist und auch in Schriften des Neuen Testaments seinen Niederschlag findet: der Untergang der römischen Republik und die Errichtung einer kaiserlichen Militärdiktatur unter Oktavian. 31 ante Christum natum reichsrömischer Alleinherrscher, läßt er sich bereits vier Jahre später als der »göttliche Kaiser Augustus« verehren und verfügt schließlich über eine Macht, die selbst die des »göttlichen Alexander« weit überbietet. Folgenreich ist diese Entwicklung für das Imperium Romanum nicht nur darin, daß die soziale Hierarchie des Weltreiches durch das Kaiserhaus nun eine absolute Klimax erhält, die »die Positionen und Funktionen einzelner sozialer Schichten teilweise neu definiert«[42]. Folgenreich ist vor allem auch, daß »das als ›römisch‹ zu bezeichnende soziale Modell praktisch im ganzen Weltreich« durchgesetzt und »auch auf die Bevölkerung der Provinzen übertragen« wird[43]. Damit aber verschärfen sich die Widersprüche zwischen dem nunmehr allmächtigen Rom und seinen weitgehend gleichgeschalteten Kolonien und führen in letzteren zu einer Radikalisierung widerständiger Bewegungen.

Dieser Widerstand bricht nicht nur in bewaffneten Aufständen aus - wie dem Jüdischen Krieg, der 70 n.Chr. mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels endet. Er findet seinen Ausdruck auch in einer spezifischen Widerstandsliteratur - wie der Apokalyptik, die in der Gestalt der neutestamentlichen Johannes-Apokalypse eine dezidiert antirömische Auseinandersetzung führt[44]. Und er bringt sich in einer Weltanschauung zur Sprache, in der die Verwerfung der römischen Welt definitiv vollzogen wird in einer grundsätzlichen Verwerfung der Welt überhaupt - wie eben bei den Gnostikern, deren Weltverständnis so radikal negativ ist, daß die Welt und mit ihr also auch das römische Weltreich nur noch als »Reich der Finsternis« gesehen wird.

Die sich im 1. Jahrhundert n.Chr. etablierende und alsbald im gesamten Imperium Romanum ausbreitende gnostische Bewegung umfaßt eine Vielzahl von kleineren und größeren Gemeinschaften, deren Begründer bzw. Wortführer aus Texten ihrer frühchristlichen Gegner z.T. auch namentlich bekannt sind - wie etwa Simon (Magus), Satornil, Basilides, Karpokrates, Kerinth und Kerdon[45]. Dabei sind die Grenzen zwischen Christen und Gnostikern, zwischen der sog. »christlichen« und der sog. »paganen« Gnosis fließend, und noch heute gibt ihre genaue Verhältnisbestimmung zahlreiche Probleme auf[46], zumal gnostisches Denken ebenso wie die Auseinandersetzung mit der Gnosis bereits im Neuen Testament nachweisbar ist. Jedenfalls ist der Kampf der »antignostischen Väter« Irenäus, Tertullian und Hippolyt gegen die »gnostischen Häretiker« eine rein »innerkirchliche« Auseinandersetzung, die schon früher zu Exkommunikationen, wie die des einflußreichen Gnostikers Valentinus[47], führt und sogar zur Gründung einer eigenen christlichen »Gegenkirche« durch den Gnostiker Marcion, die im Osten immerhin bis ins 6. Jh. hinein Bestand hat[48]. Ein synkretistisches Christentum findet sich schließlich auch in den koptisch-gnostischen Nag-Hamadi-Schriften, unter denen wiederum und vielleicht auch bezeichnenderweise relativ viele Apokalypsen sind. Demgegenüber findet sich in den gnostischen Teilen des Corpus Hermeticum aus dem 2. bzw. 3. Jh. so gut wie kein Einfluß christlicher Traditionen, was auch insofern von Bedeutung ist, als es belegt, »daß Gnosis minus Christentum nichtsdestoweniger Gnosis ist und bleibt«[49]. Die gnostische Mythologie der Mandäer ist sogar dezidiert antichristlich und läßt den »falschen Propheten« Jesus zum Sohn einer Dämonin werden[50], während Jesus im Manichäismus wiederum göttliche Hoheitstitel erhält.

Entscheidend ist für das Verständnis der Gnosis aber nicht die Frage nach ihrer komplizierten Beziehung zu dem sich entwickelnden Christentum, entscheidend ist hier vielmehr die Frage nach der sich in den gnostischen Systemen artikulierenden Ideologie. Und diese Systeme sind erstaunlicherweise so homogen, daß sie auf die sie bestimmende Ideologie durchaus auch Rückschlüsse zulassen. Keine »Religion wirkt verwirrender in ihren Erscheinungsformen, keine Religion aber auch ist einfacher und monotoner in ihren Hauptmomenten als gerade die Gnosis«[51].

Das gnostische Drama

Der Stoa ist alles Dramatische fremd; denn der Stoiker hält sich von jeglicher Aufregung fern. Und wo er ihr nicht ausweichen kann, da sieht er von ihr ab oder umhüllt sie mit dem Mantel der Harmonie. Die sich mit der hellenistischen Globalisierung dramatisch zuspitzenden sozialen und politischen und kulturellen und auch ethnischen Widersprüche und Konflikte werden in der Stoa kategorisch ignoriert oder harmonisch interpretiert. In der Gnosis hingegen ist alles dramatisch, denn Harmonie kennen die Gnostiker nur in einer eschatologischen Perspektive. Und die geht auf ein Jenseits dieser Welt. Sie muß auch auf ein Jenseits gehen, weil diese Welt ein dämonischer Ort des Elends ist. Und dafür gibt es Gründe, die erkannt werden müssen, wie eben auch in jener eschatologischen Perspektive erkannt werden muß, wo für den Menschen die allein mögliche Rettung zu finden ist.

Erkenntnis, gnosis - das ist für die Gnostiker der alles entscheidende Existenzvorgang, in dem die Erlösung von und aus dieser Welt beschlossen liegt. Sie selbst nennen sich denn auch bewußt γνωστικοί, Erkennende, auch um ihrer Gewißheit Ausdruck zu geben, zu den Erlösten gehören zu dürfen. Diese Erlösung vollzieht sich im Rahmen eines gigantischen Weltendramas, das zu erkennen zur Erlösung selbst gehört.

Dieses Drama findet bei den einzelnen Gnostikern sehr unterschiedliche Entfaltungen. Anzahl und Namen und Rollen der in ihm (mit)wirkenden göttlichen und widergöttlichen Mächte und Gestalten ändern sich vielfach[52], doch das Sujet bleibt bei allen dasselbe und provoziert mit der blasphemischen These, daß diese Welt unmöglich die Schöpfung eines guten Gottes sei; daß der Mensch, d.h. seine unkörperliche und also unweltliche Seele, in dieser Welt nicht nur keine Heimat habe, sondern eigentlich auch gar nicht in dieses Reich der Finsternis, sondern in ein Reich des Lichtes gehöre; und daß ein wirklich guter Gott den Menschen aus diesem seinem Gefängnis durch einen Erlöser nur befreien könne.

Natürlich sind die Gnostiker dabei nun auch mit der hintergründigen Frage befaßt, wie es denn überhaupt zu einer solchen für den Menschen unwürdigen Situation kommen konnte. Simon (Magus), der schon in der Apostelgeschichte (8,9ff.) Erwähnung findet, trägt nach dem Bericht des Irenäus[53], der ihm nachsagt, der »Initiator« der Bewegung zu sein, folgende Gnosis vor:

Der (gute) Vater des Alls, die »höchste Kraft«, erzeugte »die Erste Ennoia (Gedanke) seines Geistes, die Mutter von allen, durch die er am Anfang in seinem Geiste den Plan gefaßt hatte, Engel und Erzengel zu erschaffen. Denn diese Ennoia trat aus ihm hervor, und da sie erkannte, was ihr Vater wollte, stieg sie zu den untersten Gegenden (ad inferiora) hinab und erzeugte Engel und Mächte, von denen ... auch diese Welt gemacht wurde. Nachdem sie aber diese erzeugt hatte, wurde sie von ihnen festgehalten aus Neid, weil sie ja nicht für die Nachkommen irgend jemandes gelten wollten.« Sie »fügten ihr jegliche Schmach zu, damit sie nicht hinauf zu ihrem Vater zurückeile, und dies ging so weit, daß sie sogar in einen menschlichen Körper eingeschlossen wurde und durch Jahrhunderte, gleichsam von Gefäß zu Gefäß, in immer andere weibliche Körper wanderte.« Sie »ging von einem Körper in den anderen über und erlitt dadurch immer Schmach. Zuletzt gelangte sie sogar in ein Bordell (in fornice prostitisse)«. »Deshalb kam auch er (scil. der Vatergott) selbst, um sie ... von den Fesseln zu befreien, aber auch um den Menschen das Heil zu bringen (salutem praestaret), dadurch, daß sie ihn (scil. in dem Simon) erkennen. Die Engel regierten die Welt schlecht, weil jeder von ihnen die Vorherrschaft begehrte.« »Darum sollen jene, die auf ihn ... ihre Hoffnung gründen, fürderhin sich nicht um jene (Engel) kümmern, sondern als freie Menschen« leben. »Deshalb, so versprach er, werde auch die Welt aufgelöst, und jene, die ihm zugehören, würden von der Gewalt der Weltschöpfer befreit.«[54]

So ähnlich spielt sich das Weltendrama auch in den anderen gnostischen »Systemen« ab, z.T. mit noch stärkerer Betonung des Dualistischen und Antagonistischen - wie bei Marcion, dessen böser Weltschöpfer als Demiurg nicht einmal eine Emanation des guten unbekannten Gottes ist, sondern ein »Gegengott«, womit auch der vom Demiurgen geschaffene Mensch von Hause aus nun nicht einmal mit seiner Seele dem Reich des ihn dennoch vom Demiurgen befreienden fremden guten Gottes angehört.[55]

Auch wenn andere »Systeme« eine noch weit verwickeltere Mythologie und Emanationstheorie entfalten, keinem der Gnostiker geht es lediglich um mythische Spekulation. Dafür sind die sich metaphorisch spiegelnden Konkretionen und Adversionen viel zu deutlich, und Simon (Magus) macht die Ennoia ja auch ganz bewußt zu einem Prototyp für jene Frau, der die Welt zur Hölle geworden ist. Der Gnosis geht es im Mythischen um den Menschen - und zwar um den unglücklichen, den erniedrigten und beleidigten. »Wer hat mich in das Leid der Welt geworfen, wer mich in die böse Finsternis versetzt?«[56] Das ist die eigentliche Frage der Gnosis, und ihr eigentliches Gewicht erhält diese Frage dadurch, daß sie gestellt und dann auch beantwortet wird in einem Zusammenhang, der nicht mythisch abstrakt und abstrakt existential bleibt, sondern einen konkret geschichtlichen, mithin also auch einen politischen und sozialen Horizont hat.

In diesen Zusammenhang gehört ganz unmittelbar die hartnäckige und nur vordergründig verstiegen wirkende Suche der Gnostiker nach einer Antwort auf die entscheidende Vor-Frage, warum denn nun diese Welt überhaupt mehr einer Hölle als einem Himmel gleicht. Unde malum - den Stoikern ist das kein Problem. Für sie ist das Böse nur eine Frage der Einstellung. Im Grunde ist für sie alles gut. Den Gnostikern hingegen ist im Grunde alles ein Übel. Und in dieser Generalisierung des Negativen steckt die eigentliche Antithese, mit der die Gnosis bewußt und ausdrücklich gerade auch die Stoa bekämpft.

Schon Hans Jonas weist auf diese Frontstellung hin[57], doch erst von Takashi Onuki wird sie an einem Text detailliert dargestellt[58].

Der Befund seiner Untersuchung zum koptisch-gnostischen Apokryphon des Johannes (AJ) ist eindrücklich, denn er belegt vor allem auch, wie umfassend sich die Gnosis mit der Stoa auseinandersetzt. Onuki zeigt das an einer mehrfachen Polemik: 1. gegen den stoischen Erkenntnisakt, der für den (die) Gnostiker des AJ nicht durch den »göttlichen Teil seiner Seele, sondern durch dämonische Kräfte beherrscht wird«[59]; 2. gegen die auf Aristoteles zurückgehende Lehre von den verschiedenen Qualitäten und Mischungsverhältnissen der Materie (Feuer, Luft, Wasser, Erde; warm, kalt, feucht, trocken etc.), die für die Stoa mit dem gestaltenden Wirken des göttlichen Logos, für den Gnostiker aber mit der unheilvollen Macht von Dämonen verbunden sind[60]; 3. in der Auseinandersetzung mit dem stoischen Verständnis der Affekte, die für den Gnostiker nicht nur Defizite sind, sondern dämonische Laster[61]; 4. gegen die stoische Kosmologie, in der die Gestirne mit dem theos letztlich identische Gottheiten sind, was der Gnostiker zurückweist, weil die Gestirne zwar das Feuer, nicht aber den Funken des göttlichen Lichtes haben[62]; 5. gegen die stoische Psychologie, der der Gnostiker bestreitet, daß die Planeten(götter) dem Menschen mehr als nur niedrige Fähigkeiten vermitteln können[63]; 6. gegen die stoische Anthropologie, in der die Seele als das den Körper des Menschen Bewegende letztlich weltimmanent gedacht wird, wogegen der Gnostiker einwendet, daß das Bewegende transzendenter Natur sei[64]; 7. schließlich und vornehmlich auch gegen die stoische Vorsehungslehre, und zwar dergestalt, daß der Gnostiker die Einheit von Pronoia und Heimarmene zerbricht und in einen prinzipiellen Dualismus führt, der die Heimarmene dämonisch degradiert und zur Folge hat, daß sie nunmehr »die Unbeständigkeit der materiellen Welt schlechthin vertritt«[65].

Es ist insbesondere die stoischen Vorsehungslehre, die für die Gnosis völlig inakzeptabel ist. Und mit der dualistischen Trennung von Pronoia und Heimarmene[66] kehrt sie die Anschauung der Stoa auch insofern in ihr Gegenteil, als sie den absolut positiven nunmehr mit einem absolut negativen Determinismus konfrontiert. Mit demselben Recht, mit dem da behauptet wird, alles sei gut, läßt sich auch sagen: alles ist schlecht. Aber es geht der Gnosis nicht nur um eine kontradiktorische These, es geht ihr, wie ja auch der Stoa, um die Implikationen und Tragweiten ihrer These, die also als solche, wie in der Stoa auch, nicht Ziel, sondern weltanschauliche Voraussetzung für ein Denken ist, das sich in einer Krise ideologisch zu bewähren versucht.

Bezeichnenderweise geschieht dies in der Stoa ebenso wie in der Gnosis im Rahmen einer universalen Perspektive, die jeweils Ausdruck einer globalen Herausforderung ist. Doch während die Stoa auf die griechische Globalisierung mit einem umfassenden und radikalen Akkommodationsprogramm reagiert, das seine Funktionsfähigkeit auch noch im Imperium Romanum zeigt, antwortet die Gnosis auf die imperialistische Globalisierung des Römischen Reiches mit einer ebenso umfassenden und radikalen Verweigerungtheorie, die schon als solche den Charakter des Widerständigen trägt.

Gnostiker sind keine guten Staatsbürger. Viele weigern sich, Kinder in diese Welt zu setzen. Weil sie das Elend nicht noch vermehren wollen, leben sie asketisch oder treiben ab[67]. Manche propagieren und leben sogar den Kommunismus, den sie mit dem Prinzip der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) in Gemeinschaft und Gleichheit (κοινωνία μεθ' ήσότητος) begründen[68]. Andere rühmen sich, an keine von Menschen gemachten Gesetz gebunden zu sein, und halten auch religiöse Vorschriften für problematisch[69]. Allen gemeinsam aber ist, daß ihre Verneinung dieser Welt nicht in einem bloßen Pessimismus steckenbleibt, sondern zum Angriff auf eine Welt wird, die sie für hoffnungslos verdorben halten. »Wer die Welt erkannt hat, hat einen Leichnam gefunden«.[70]

Jonas spricht denn auch zu Recht von der »revolutionären« Gnosis[71], auch wenn er dabei nun seinerseits den Begriff des Revolutionären betont akosmisch zu fassen versucht. Doch die »Revolution« der Gnostiker ist so akosmisch gar nicht, denn mit ihrer Entzauberung der Welt, mit dem Sturz der »bekannten Götter« stürzen sie zugleich einen der bekanntesten und nun wirklich auch mächtigsten Gottheiten ihrer Zeit: den römischen Kaiser.

Seitdem der sich in die Nachfolge seines griechisch-makedonischen Vorgängers Alexander begeben und sich gleich ihm zum »Gottessohn« hat erklären lassen, ist ein Widerspruch gegen Rom ein Sakrileg. Doch die Gnostiker begehen ständig Sakrilege und scheuen keine Blasphemie. Und indem sie die gesamte herrschende Götterwelt abschaffen und zu Archonten und Demiurgen degradieren, delegitimieren sie die Herrschaft des Imperium Romanum in einer nicht mehr zu überbietenden Radikalität.

Verständlich wird diese Radikalität vor dem Hintergrund des reichsrömischen Kaiserkultes, der die politische Herrschaftsfunktion hat, das Weltreich religiös-ideologisch zu einen, und deshalb auch ständig ausgebaut und mit Tempeln und Priestern in den letzten Winkel der »Provinzen« getragen wird. Seit »Augustus«, amtlich bestätigt, in den Himmel aufgefahren ist, ist die Cäsarenapotheose eine Institution - dominus et deus noster. Ein solches dominium aber stellt man nicht mit Kritik in Frage. Es läßt sich nur in seinen Fundamenten erschüttern, und die Gnostiker erschüttern diese religiösen Fundamente nicht nur, sie zerstören sie in ihrer religiösen Substanz.

Es ist schon erstaunlich, daß Hans Jonas diese Dimension der gnostischen »Auflehnung« und »Rebellion«[72] nicht einmal in Erwägung zieht, sondern fest entschlossen ist, den religionsgeschichtlichen Rahmen nicht zu verlassen. Damit aber geht auch eine zweite Dimension der gnostischen Umwertung verloren. Es trifft ja zu: In der Gnosis vollzieht sich »die weltgeschichtliche Ablösung der alten und mächtigen Vaterreligionen durch die Sohnesreligionen«, »der ›Mensch‹ oder der ›Sohn des Menschen‹ wird über die alten Götter erhoben und selber zum höchsten Gott oder zum Zentrum der Heilsreligion«[73]. Doch genau dieses bedeutet nun auch und gleichermaßen nicht nur eine radikale Emanzipierung, sondern auch eine ›religiöse Demokratisierung‹, deren polemische Spitze politisch durchaus erkennbar ist. Wenn es zum Privileg römischer Cäsarenherrschaft gehört, in den Götterhimmel aufsteigen zu dürfen, dann wird dieses Privileg und mit ihm die Herrschaft der Cäsaren wiederum radikal in Frage gestellt, wenn die Gnosis nun diese besondere Herrscher-Apotheose mit ihrer allgemeinen Menschen-Vergöttlichung konfrontiert. Auch wenn nicht ausnahmslos jeder ein Gnostiker sein oder werden kann, für die Gnosis ist Vergöttlichung jedenfalls kein Privileg römischer Kaiser. Im Gegenteil. Der Kaiser schafft es ohnehin nur bis zu Zeus, und der ist gar kein richtiger Gott und schon gar nicht ein guter. Und das heißt zugleich: Wenn alles Elend dieser Welt der Unfähigkeit und Bosheit schlechter Götter geschuldet ist, dann trägt im Prinzip Verantwortung dafür auch der »göttlichen Kaiser«.

Es gibt wohl kaum eine größere ideologischen Kluft als die zwischen dem Herrschaftsanspruch des Imperium Romanum und dem Widerspruch der Gnosis gegen eine Welt, die die Gnostiker gerade unter dieser Herrschaft für verloren halten. Gemessen an dem Gewicht dieser globalen Konfrontation und fundamentalen Opposition kann die Frage nach der sozialen Einordnung der Gnostiker durchaus in den Hintergrund treten, zumal es die Quellenlage ohnehin schwer macht, hier gesicherte Aussagen zu treffen[74]. Um so spannender ist dafür nun aber eine ganz andere Frage, nämlich die nach den ideologischen Hintergründen für die Bekämpfung der Gnosis durch die sich dezidiert antignostisch verstehenden Theologen und (Amts-)Träger der frühen christlichen Kirche, die sich in ihrer Entwicklung immer mehr der Stoa annähert und schließlich dort zu finden ist, wo sie neben Stoa und Gnosis, gleichwohl mit beiden auf unterschiedliche Weise bleibend verbunden, einen Weg beschreitet, der in seinen reformistischen Konturen den Charakter eines ›Dritten Weges‹ trägt. Doch das ist ein Thema für einen anderen Aufsatz.


 

[1] Diogenes Laertius VI 63, in der Übersetzung von O. Apelt, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 1921.

[2] Diogenes Laertius VI 63.

[3] Diogenes Laertius VI 19.

[4] Seit A. Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa, 1892, hat sich allgemein durchgesetzt, von der ›frühen‹, ›mittleren‹ und ›späten Stoa‹ zu sprechen, wobei dann zur ›späten‹ im wesentlichen nur noch die ›römische Stoa‹ gerechnet wird.

[5] Eine vorzügliche und sehr detaillierte Übersicht - auch zur Literatur - bietet: P. Steinmetz, Die Stoa, in: H. Flachar (Hg.), Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 4,2: Die Hellenische Philosophie, 1994, S. 495-716.

[6] Noch immer eine der wichtigsten Sammlungen: Stoicorum Veterum Fragmenta I-III, hg. von J. Arnim, 1903-1905, IV (Indices), hg. von M. Adler, 1924, 21964 (= SVF). Vgl. auch: K. Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren, 4 Bde., 1987f. Für die ›römische Stoa‹ ist die Quellenlage zwar kompakter, doch dafür sind die Texte nicht mehr ganz so interessant, denn das Interesse der Römer zielt fast nur noch auf die Ethik.

[7] SVF I 85.

[8] Selbst Autoren, die sich vorwiegend einer systemimmanenten Interpretation verpflichtet wissen, kommen an solchen Zusammenhängen nicht vorbei; vgl.: E. Katsigiannopoulos, Die Grundlagen des Kosmopolitismus in der Stoa, 1979, S. 153ff.

[9] SVF III 5 u.ö.

[10] SVF III 13 (Cicero, de finibus IV 14).

[11] SVF III 16.

[12] SVF III 4.

[13] SVF I 176, II 580.

[14] SVF II 913.

[15] SVF II 1140.

[16] SVF II 1153.

[17] SVF II 1170: Die Natur hat so vieles und soviel Herrliches und Großes hervorgebracht, da ist unvermeidbar (κατὰ παρακολούθησιν) manches halt nicht so ganz gelungen.

[18] SVF II 1157.

[19] SVF I 537; Übersetzung nach: M. Pohlenz, Stoa und Stoiker. Die Gründer - Panaitios - Poseidonios, 1950, S. 104.

[20] SVF I 211.

[21] SVF III 412.

[22] SVF III 452 (Seneca, De clementia II 5).

[23] Mark Aurel, Selbstbetrachtungen XII 22, in der Übersetzung von A. Wittstock, 21969, S. 173.

[24] Epiktet, Diatriben III 17, zitiert nach: W. Weinkauf, Die Stoa. Kommentierte Werkausgabe, 1994, S. 146.

[25] SVF III 352.

[26] SVF III 355f.

[27] Diogenes Laertius VII 7f.

[28] P. Steinmetz, a.a.O., hat auch die politischen Aktivitäten der einzelnen Stoiker zusammengetragen, und der Befund ist eindrücklich.

[29] SVF I 230.

[30] Cicero, De officiis.

[31] SVF III 493.

[32] Mark Aurel, Selbstbetrachtungen, VI 2: »Bei der Erfüllung deiner Pflicht soll dir nichts darauf ankommen, ob du vor Kälte starrst oder vor Hitze glühst, ob du schläfrig bist oder genug geschlafen hast, ob man dich tadelt oder lobt, ob du darüber dem Tode nahekommst oder etwa anderes der Art zu leiden hast.«

[33] SVF III 697.

[34] SVF III 641.

[35] Vgl.: G. Alföldy, Römische Sozialgeschichte, 1975, S. 25.

[36] SVF II 724.

[37] SVF III 757.

[38] G. Alföldy, a.a.O., S. 54: Diese »griechische Philosophie erschien den aufgeschlossenen Aristokraten durchaus nicht als eine ideologische Gefahr, sondern als eine Möglichkeit, den Anspruch auf die Weltherrschaft und auf die eigene soziale Führungsposition durch ein ideologisches System zu legitimieren, das den neuen Zeiten adäquat war.«

[39] Vgl.: M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 31948, S. 191ff.

[40] Hans Jonas geht in seinem epochemachenden Werk von 1934 davon aus, daß die Wurzeln der Gnosis weit in die Zeit der Diadochenreiche hineinreichen; H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, 31964, S. 66. Wenn zwischen den ›Wurzeln‹ und der historisch faßbaren ›Bewegung‹ der Gnosis unterschieden wird, muß dieser These auch gar nicht widersprochen werden.

[41] R. M. Wilson, Artikel: Gnosis/Gnostizismus II, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XIII, 1984, S. 536. Im Unterschied zur Stoa-Forschung haben sich der Gnosis denn auch vorwiegend Theologen und unter ihnen vor allem Exegeten des Neuen Testaments angenommen. Das hat inzwischen zwar zu einer sehr umfangreichen Literatur und zu wichtigen Editionen wie The Coptic Gnostic Library, aber weithin auch dazu geführt, daß das für H. Jonas noch entscheidende Interesse an einer geistesgeschichtlichen Systematik von exegetischen und bisweilen auch apologetischen Spezialinteressen verdrängt worden ist.

[42] G. Alföldy, a.a.O., S.83.

[43] Ebd.

[44] Vgl.: J. Ebach, Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2, 1985, S. 5ff.; K. Füssel; Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes-Apokalypse, 1986.

[45] Vgl.: Irenaeus, adversus haereses I 23ff. Die Verfasserschaft der koptisch-gnostischen Nag-Hamadi-Texte und der gnostischen Teile der hermetischen Schriften bleibt demgegenüber weithin anonym.

[46] Vgl.: C. Colpe, Artikel: Gnosis II (Gnostizismus) in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. XI, 1981, Sp. 540ff.

[47] Um 140 durch die Gemeinde in Rom (Irenäus, adv. haer. III 4,3).

[48] Sogar bis in die Gegenwart hinein haben sich im Irak die Mandäer, vermutlich eine jüdisch-gnostische Sekte des 1. Jh.s, erhalten. Und die synkretistisch-gnostischen Manichäer des 3. Jh.s sind in ihrer tausendjährigen Geschichte sogar eine Weltreligion geworden, deren gnostische Spuren sich noch in den mittelalterlichen Bewegungen der Bogomilen, Katharer und Albigenser zeigen.

[49] G. Quispel, Gnosis als Weltreligion. Die Bedeutung der Gnosis in der Antike, 31995, S. 52.

[50] K. Rudolph, Das Christentum in der Sicht der mandäischen Religion, in: Wissenschaftliche Zeitschrift Leipzig 7, 1957/58, S. 651ff.

[51] G. Quispel, a.a.O., S. 52.

[52] Leicht zugänglich sind entsprechende Texte in den Übersetzungen von: W. Foerster/A. Böhling (Hg.), Die Gnosis, Bd.1: Zeugnisse der Kirchenväter, 1969; Bd. 2: Koptische und mandäische Quellen, 1971; Bd. 3: Der Manichäismus, 1980; R. Haardt, Die Gnosis. Wesen und Zeugnisse, 1967; J.M. Robinson, The Nag Hammadi Library in English, 1977; W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1: Evangelien, 61990; Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, 61966.

[53] Irenäus, adv. haer. I 23,1-4.

[54] In der Übersetzung von R. Haardt, a.a.O., S. 34f. Vgl.: W. Völker, Quellen zur Geschichte der christlichen Gnosis, 1932, S. 2f.

[55] A. Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, 1921, S. 31: Marcion redet »von dem fremden und guten Gotte, dem Vater Jesu Christi, der die ihm völlig fremden, elenden Menschen aus schwersten Banden zu ewigem Leben erlöst«.

[56] Ginza. Der Schatz oder das Große Buch der Mandäer, hg. und übersetzt von M. Lidzbarski, 1925, S. 457f.

[57] H. Jonas, a.a.O., u.a. S. 141ff.

[58] T. Onuki, Gnosis und Stoa. Eine Untersuchung zum Apokryphon des Johannes, 1989.

[59] Ebd., S. 19.

[60] Ebd., S. 27.

[61] Ebd., S. 52.

[62] Ebd., S. 70.

[63] Ebd., S. 90.

[64] Ebd., S. 93.

[65] Ebd., S. 139; vgl.: Jonas, a.a.O., S. 172f.

[66] Die Pronoia steht nun für das überweltliche göttliche Walten, das die Erlösung des Menschen aus dieser Welt und von diesem Weltschöpfer zum Ziel hat, während die dem Demiurgen beigeordnete Heimarmene zum Inbegriff des Weltlichen und also des Negativen wird.

[67] Letzteres nimmt die Ketzerpolemik dann zum Anlaß, wahre Horrorgeschichten zu verbreiten, - wie Epiphanius, Ende des 4. Jh.s Metropolit von Konstantia auf Zypern, in seinem »Panarion« (Arzneikasten), mit dem er gleich 80 Häresien kurieren will; Panarion haereses 26; 5,2ff.

[68] Clemens von Alexandrien, Stromata III 8,1 - aus der dem Epiphanes zugeschriebenen Schrift Über die Gerechtigkeit; Gerechtigkeit fehle dort, wo geschieden werde in »reich und arm, Volk und Herrscher, dumm und klug, weiblich und männlich, Freien und Sklaven« (III 6,1); vgl.: W. Völker, a.a.O., S.34f.; R. Haardt, a.a.O., S.58f.

[69] Brief des Ptolemaios an Flora bei Epiphanius, Panarion haereses. 33; 3ff.

[70] Thomasevangelium, NHCod II,2, Spr. 56; W. Schneemelcher (Hg.), a.a.O., Bd. 1, S.108.

[71] H. Jonas, a.a.O., S. 214ff. u.ö.

[72] H. Jonas, a.a.O., S. 218.

[73] Ebd., S. 219.

[74] Vgl.: C. Colpe, a.a.O., Sp. 600.

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HANS HEINZ HOLZ

Zu Dieter Krafts Beitrag: Stoa und Gnosis

[in: Topos 16, Neapel 2000, S. 151-154]

Lieber Herr Kraft,

Ihr Aufsatz über Stoa und Gnosis wirft manche Fragen auf. Lassen Sie mich zuerst die Übereinstimmung feststellen. Was Sie über die ideologische Funktion der Stoa sagen, scheint mir zutreffend und gut belegbar zu sein; unter den Bedingungen der hellenistischen »Globalisierung« befriedigte sie die von Ihnen herausgearbeiteten weltanschaulichen Bedürfnisse, wenn auch Varianten oder vielleicht »Fraktionen« unter den Stoikern noch unterschieden werden müssen. Der Bedeutung der ethischen Strenge scheinen Sie zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken - aber das beeinträchtigt die Richtigkeit Ihrer Einschätzung nicht. Ich kann Ihnen auch zustimmen, daß die Gnosis eine Verweigerungsideologie ist; ob darin durchgängig auch der Protest gegen die römische civitas terrena enthalten ist, lasse ich dahingestellt. Die große Vielfalt gnostischer Strömungen macht Verallgemeinerungen schwer, und ich lese nicht alle gnostischen Texte so politisch rebellisch wie Sie. Wohl aber leuchtet mir die Konfrontation ein, die Sie vollziehen. »Während die Stoa auf die griechische Globalisierung mit einem umfassenden und radikalen Akkommodationsprogramm reagiert, ... antwortet die Gnosis auf die imperialistische Globalisierung des Römischen Reichs mit einer ebenso umfassenden und radikalen Verweigerungstheorie« (S. 29).

Nun aber sind Stoa und Gnosis ja nicht einfach zwei spätantike Weltanschauungsströmungen; und Sie haben Ihre Konfrontation ja auch nicht aus antiquarisch-historischem Interesse vorgenommen, sondern um an ihr typische Haltungen in einer politischen Krise zu charakterisieren, die durch imperiale Expansion und daraus folgend durch die Zerstörung der Bürger-Polis hervorgerufen wird. Diese typologische Verallgemeinerung ist geschichtsphilosophisch legitim. Hegel hat in der »Phänomenologie des Geistes« den Stoizismus als ein solches Grundmuster des Selbstbewußtseins dargestellt, Eric Voegelin hat Ähnliches (mit anderen Bewertungsperspektiven) für die Gnosis getan.

Die Differenz des historischen Ortes dieser beiden generalisierenden Adaptationen ist aufschlußreich. Für Hegel gewinnt die Stoa im Zusammenhang mit der französischen Revolution die Bedeutung einer weltanschaulichen Grundkonstellation (neben Skeptizismus und unglücklichem Bewußtsein); Voegelin entdeckt die Gnosis in der Periode des Imperialismus (als dem höchsten Stadium des Kapitalismus). Das mag als ein Hinweis darauf genommen werden, daß die ideologischen Funktionen von Stoa und Gnosis in ihrer Wiederbelebung als Neustoizismus (im 17. und 18. Jahrhundert) und als neue Gnosis (im 19. und 20. Jahrhundert) auseinandertreten und sich verändern. Stoizismus und Gnostizismus stehen nun nicht mehr in korrelativer Antithese von Anpassung und Verweigerung. Wenn sie aber in anderen Kontexten andere Funktionen bekommen, so muß doch der Sachgehalt, aus dem die veränderte Funktion sich begründet, schon in der ursprünglichen Theorie angelegt gewesen sein. Und da sehe ich ein Problem, das den Geltungscharakter von Philosophien betrifft.

Beginnen wir mit der Stoa. Seit dem 17. Jahrhundert wird der Stoizismus zum weltanschaulichen Orientierungsrahmen der aufsteigenden bürgerlichen Klasse. Republikanisch-römische Bürgertugenden stehen dabei im Vordergrund; daß sie sich mit christlichen Traditionen (insbesondere bei den lateinischen Kirchenvätern) verbinden lassen, erleichtert die ideologische Aneignung, aber im Kern ist der frühbürgerliche Stoizismus laizistisch und antifeudalistisch. Von Justus Lipsius, der nicht nur die Stoiker edierte, sondern mit seinem Werk »De constantia« (1584) ihre Lehren in die politische Welt der beginnenden Neuzeit transformierte, bis zu Dieterich Tiedemann, dessen »System der stoischen Philosophie« (1776) das Bild der Stoa für die klassische Periode der Philosophie um 1800 fixierte, war der Neustoizismus ein wesentliches ideologisches Element bei der Formierung der bürgerlichen Klasse als Klasse. Daß der Mensch kraft seiner Fähigkeit, durch Vernunft tugendhaft zu werden, gleichsam zum Gott gemacht wurde, hat Tiedemann ausdrücklich hervorgehoben; daß das Unvernünftige der Affekte als ein Moment der universellen Vernunft begriffen werden müsse und beherrscht werden könne, wird zur gesellschaftlichen Verhaltensnorm. Vernunft, Disziplin, Tatkraft, Beständigkeit sind Leitwerte, die die Produktionsverhältnisse des sich ausbildenden Kapitalismus bestimmen. Wer die Reden von Robespierre und St. Just liest, findet sie durchtränkt vom Aufklärungsstoizismus, der eine progressive (und keineswegs affirmativ-anpasserische) Haltung fördert.

Nun aber die Gnosis. Als »politische Gnosis«, wie Voegelin sie interpretiert hat, wäre sie das geheime Zentrum aller revolutionären Bewegungen, die satanische Antithese zur göttlichen Ordnung. Das käme der Auffassung der Verweigerung als Widerstand sehr nahe (wenn auch bei Voegelin mit der entgegengesetzten politischen Intention als bei Ihnen). Aber ist das wirklich so? Ist nicht seit der Zeit um 1800, als in der Romantik der Umschlag zu antirevolutionären, konterrevolutionären Einstellungen vollzogen wurde - zum Beispiel bei Friedrich Schlegel, um nur einen Protagonisten zu nennen - die Wiederaufnahme gnostischer Motive gerade gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtet? Die Verweigerungshaltung gegenüber dem Welttreiben und der weltlichen Politik manifestiert die Ablehnung von bürgerlicher Demokratie, von revolutionärer Arbeiterbewegung, von gesellschaftlichem Engagement und Klassenkampf. Es geht um die Rettung der eigenen individuellen Seele, um die »Reinheit« der Gedanken, um Erleuchtung durch eine jenseitige Wahrheit. Die Abwendung von »moderner« Politik wird faktisch zur passiven Akzeptanz oder auch zur aktiven Unterstützung der reaktionärsten politischen Strömungen bis hin zum Nationalsozialismus, wie das Beispiel von C.G. Jung zeigt. Der Neugnostizismus ist eine der prägnantesten Tendenzen im Prozeß der »Zerstörung der Vernunft«. Verinnerlichung ist hier keine Verweigerung, sondern eine Strategie, die eigene politische Entmündigung durch die herrschende Klasse unter dem Signum der Spiritualisierung affirmativ hinzunehmen und im System der Herrschaftsverhältnisse eine stabilisierende Rolle zu spielen.

Welches Verkehrungspotential liegt - lag von Anfang an - in diesen beiden Weltanschauungen, so daß der Rollenwechsel möglich wurde ? Ich meine das nicht rezeptionsgeschichtlich, sondern systematisch. Die Anpassungsideologie enthielt offenbar eine wesentliche Intention auf menschliche Autonomie, also Freiheit, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen dominant werden konnte; und die Verweigerungsideologie barg in sich eine Akkomodationskomponente. Ohne Ihre, wie mir scheint korrekte, Darstellung des ideologietheoretischen Befundes für die Spätantike zu bestreiten, kehrt sich im Hinblick auf den systematischen Gehalt der beiden Philosophien ihr Verhältnis um. Wenn diese Beobachtung richtig ist, so müßte in der Philosophiehistorie eine spezifische (und nicht beliebige) Differenz zwischen dem Geltungscharakter eines Philosophems (d.h. seiner historisch relativen Wahrheit) und seiner handlungssteuernden Funktion (d.h. seiner Wirkungsweise an einer bestimmten Zeitstelle) unterschieden werden. Die genaue Bestimmung der allgemeinen Konstitutionsbedingungen dieser Differenz wäre dann eine vordringliche Aufgabe der Ideologietheorie.

Herzlich Ihr Hans Heinz Holz

 

DIETER KRAFT

Eine Replik

[in: Topos 16, Neapel 2000, S. 155-159]

Lieber Herr Holz,

Typologien sind natürlich immer angreifbar, denn sie nivellieren mit Vorsatz die Differenz der »Varianten« und »Fraktionen«. Und selbstverständlich gibt es solche in der Stoa ebenso wie in der Gnosis. Wie jede (geistes)geschichtliche Bewegung sind auch sie ein Konglomerat von Varianten und Fraktionen, weil letztlich jede Erscheinung und also auch jede (geistes)geschichtliche nur in Variablen existiert. Das ist ja denn auch die unerschöpfliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für jene Historiker, die sich mit dem Sammeln, Etikettieren und Vergleichen von Varianten begnügen. Lehrreich kann das allemal werden, gerade auch als Voraussetzung für eine typologische Perspektive. Jedenfalls gilt es im Wissen­schaftsbetrieb als eine ehrenwerte Arbeit, die auf Anerkennung, Beifall und Lehrstühle hoffen darf.

Typologien hingegen werden von übergreifenden Fragestellungen bestimmt; und so bleiben sie generell erst einmal suspekt - allerdings nur solange, bis sich herausstellt, daß das sie leitende Interesse sehr wohl und gleichermaßen Anerkennung, Beifall und Lehrstühle verdient.

Da aber sind dann auch schon geschichtliche und also politische Optionen im Spiel, die antagonistisch werden können - wie etwa Blochs Typologie von »Freiheit und Ordnung« und Poppers Typologie der »offenen und geschlossenen Gesellschaft«.

Letztere könnte zwar dazu verführen, von Typologien lieber grundsätzlich Abstand zu nehmen, aber soviel Wirkungsgeschichte darf einem Popper natürlich nicht eingeräumt werden. Schließlich ist die Typologie eine fundamentale Kategorie jeder Erkenntnis. Ich meine, sie ist nicht nur, wie Sie sagen, »geschichtsphilosophisch legitim«, sie ist vielmehr eine Grundvoraussetzung des Denkens überhaupt, das eigentlich doch erst mit der typologischen Verallgemeinerung von Zusammenhängen (in der Natur ebenso wie in der Geschichte) anhebt - ohne sich in ihr zu erschöpfen. Denn Typologien sind statisch. Sie bedienen die Anschauung mit ›Bildern‹, die als Segmente eines übergreifenden Ganzen gesehen werden müssen. Weil sich das ›Ganze‹ der Anschauung entzieht, werden die Segmente zum beziehungsvollen Fundus einer Vorstellung, in der sich die bloße Beziehung zur Bewegung und die bloße Bewegung als Beziehung entwickelt - die Voraussetzung dafür, schließlich sogar begreifen zu können, daß auch Typologien, aufs ›Ganze‹ gesehen, gar nicht nur statisch sind.

Doch darüber würden wir uns wahrscheinlich ebenso schnell verständigen können wie über die Frage nach den allen Typologien eignenden Voraussetzungen. Ich habe sehr bewußt und mit Vorsatz von »typologischen Aspekten« gesprochen, weil ich durchaus nicht in Abrede stelle, daß in Stoa und Gnosis neben den von mir fokussierten durchaus auch andere Aspekte zur Geltung gebracht werden könnten. Aber: auch über deren Ansatz entscheiden die sehr vielfältigen und unterschiedlichen geschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen, sozialen und natürlichen Zusammenhängen, innerhalb derer dieser Ansatz gewonnen wird. Und so bleibt natürlich jede Typologie voraussetzungsvoll, weshalb denn ja auch die radikale Kritik an einer Typologie immer auch eine radikale Kritik ihrer Voraussetzungen ist - und eine dezidierte Widerlegung eigentlich auf deren Überwindung zielt.

Ganz offensichtlich geht es Ihnen, lieber Herr Holz, um letzteres nun ganz und gar nicht. Um so unbefangener kann ich meinerseits kontrovers werden und sagen, daß ich einige Ihrer Einschätzungen nicht zu teilen vermag.

Sie sprechen von der »ethischen Strenge«, die ich bei der Stoa nicht hinlänglich berücksichtigt hätte. Und ich frage mich, ob dieser Begriff überhaupt angemessen ist, zumal ich auch nicht ganz sicher bin, was Sie mit dieser ideologieindifferenten Kategorie zum Ausdruck gebracht wissen wollen. Es ist ja richtig, die Ethik spielt für die Stoa eine entscheidende Rolle. Sie ist geradezu die anthropologische Korrelation zu der theo-logologischen Ontologie. Aber genau das ist nun auch das Problem, denn die »Strenge« dieser Ethik gründet nicht in einem moralischen Imperativ, sondern in einem ontologischen Indikativ. Das hat zur Folge, daß der Sphäre der Sozialität keine autonome Dignität zukommt - selbst dort nicht, wo die Stoiker - und durchaus auch eindrucksvoll - von der humanitas sprechen. Denn letztlich bleibt die Würde des Menschen abgeleitet. Sie kommt ihm zu als dem Teil eines Ganzen, das als solches gewürdigt zu werden verdient, weil es vom göttlichen Logos durchdrungen ist. Richtig ist, daß der Mensch in diesem Ganzen einen besonderen Platz einnehmen darf. Den aber verdankt er wiederum nur dem Logos, insofern der menschliche Nous an diesem auf besondere Weise partizipiert - und auf ganz besondere Weise eben der »Weise«. Damit im Zusammenhang steht das für die Stoa typische Gefälle der Ethik, deren inneres Interesse nicht auf Menschenfreundlichkeit zielt, sondern auf Selbsterhaltung, zu der nun allerdings die Menschenfreundlichkeit in eine funktionale Beziehung tritt: Wer jederzeit damit rechnen muß, versklavt werden zu können, der tut gut daran, auch im Sklaven einen Menschen zu sehen.

Natürlich gibt es keine von sozio-kulturellen Faktoren unabhängige Entwicklung ethischen Bewußtseins. Und ich habe schon an anderer Stelle deutlich zu machen versucht, daß der Begriff der Humanität in der Stoa »kein ethischer Gipfelbegriff« ist, sondern aus den »Niederungen« eines Weltreiches erwächst, in dem »die Frage nach dem Überleben des Einzelnen Antwort nur findet unter notwendiger Berücksichtigung anderen Lebens«. (Dieter Kraft, Ethik und Bildung. Erwägungen zur Perspektive menschheitlichen Überlebens, in: Kommunität 1989, S. 10.)

Ich gebe gerne zu, daß dieser funktionale Humanismus durchaus einen Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der Ethik darstellt und eine Stufe erreicht, hinter die die »globalisierte« kapitalistische Gesellschaft mit ihrer ihr eignenden Menschenverachtung schon längst wieder zurückzufallen beginnt. Aber eine im eigentlichen Sinne »ethische Strenge« sehe ich hier ebensowenig wie eine »wesentliche Intention auf menschliche Autonomie, also Freiheit, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen dominant werden konnte«.

Auch Hegel hat der Stoa die Idee der Freiheit abgesprochen, weil sie lediglich ein konditioniertes Freiheitsverständnis entwickelt habe (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft im Grundrisse [1830, 3. Teil, § 482], in: Werke in 20 Bänden, Frankfurt am Main 1986, Bd. 10, S. 301).

Und sieht man auf das Ganze des stoischen Systems, dann bleibt für »Freiheit« und »Autonomie« tatsächlich auch gar kein Raum. Da alles vom Logos besetzt und durchdrungen wird, da  Pronoia und Heimarmene alles ›planmäßig‹ verlaufen lassen und Ordnung das Wesen des Kosmos ist, sind »Freiheit« und »Autonomie« in dieser Systematik geradezu inkompatible Kategorien. Die Eleutheria der Stoiker beschränkt sich auf das höchst fragwürdige Bemühen, kategorisch jene Weltwirklichkeit auszublenden, die zu der ›prästabilierten Harmonie‹ ihrer Weltanschauung in Widerspruch steht. Und so ist denn auch die stoische Autarkie nicht mit Autonomie, sondern eher mit Gleichgültigkeit zu übersetzen, zumal die Stoa einen autos nomos gar nicht kennt; denn der Nomos des Menschen ist der Logos.

Damit bin ich auch schon mitten in der gewichtigen Frage nach der neuzeitlichen Wirkungsgeschichte von Stoa und Gnosis. Uneingeschränkt stimme ich der These zu, daß »in der Philosophiehistorie eine spezifische ... Differenz zwischen dem Geltungscharakter eines Philosophems ... und seiner handlungssteuernden Funktion ... unterschieden werden« muß. Weit zurückhaltender aber bin ich in der Annahme eines spezifischen »Verkehrungspotentials«, das - in diesem Falle in Stoa und Gnosis - zu einem »Rollenwechsel« geführt haben soll.

Für die Stoa kann ich einen solchen grundsätzlichen Wechsel auch gar nicht erkennen. Im Gegenteil. Stoa und Neostoizismus teilen beide gleichermaßen die Herausforderung eines gravierenden gesellschaftlichen und politischen Umbruchs. Beide stehen in Auseinandersetzung mit Überkommenem; beide optieren für das Neue; beide liefern dem Neuen ein ideologisches Legitimationssystem; beide formulieren die Grundsätze für die Anpassung an eine geschichtlich unabweisbar gewordene Entwicklung. Von einem Paradigmenwechsel kann da doch eigentlich gar keine Rede sein - höchstens davon, daß natürlich ein Unterschied besteht und viele Unterschiede bestehen zwischen dem neuzeitlichen Bürgertum und den antiken Reichsherrschern. Aber welche sind in dem hier zu berücksichtigenden Zusammenhang wesentlich und von entscheidender Bedeutung? Das Frühbürgertum ist durchaus »progressiv«, aber auch die griechisch-römische Globalisierung kann sich so manchen »Fortschritts« rühmen - beide freilich immer nur gemessen an dem Vorangegangenen. Und schaut man in den historischen Verlauf von Fortschritt und Progreß, kann man sehen, daß auch die Verbrechen der einen denen der anderen nicht nachstehen.

Die Verhältnisbestimmung von Stoa und Neostoizismus läßt sich nicht ohne weiteres auf die Gnosis und ihre Rezeptionsgeschichte übertragen. Im Unterschied zum Neostoizismus, der, und ich stimme wieder völlig zu, »ein wesentliches ideologisches Element bei der Formierung der bürgerlichen Klasse als Klasse« gewesen ist, hat es einen der originären Gnosis wirklich adäquaten »Neognostizismus« nie gegeben - es sei denn, man versteht darunter z.B. die mittelalterliche »Ketzer«-Bewegung der Katharer. Sehr wohl gab es eine reaktionäre Wiederbelebung »gnostischer Motive«, aber an mehr als an Motiven konnte man auch gar nicht anknüpfen. Und dafür gibt es Gründe.

Im Unterschied zur Stoa setzt die Beschäftigung mit der Gnosis erst sehr spät ein; und zunächst sind es Theologen, die sich in der Entwicklung einer historisch-kritischen und dann auch einer religionsgeschichtlichen Methodik des Themas annehmen. In Tübingen ist es Ferdinand Christian Baur, der nach seinen Studien über das »manichäische Religionssystem« (1831) auch ein erstes Werk über die »christliche Gnosis« (1835) vorlegt; und die ersten exegetisch wirklich relevanten Arbeiten erscheinen erst nach der Jahrhundertwende - Richard Reitzensteins »Poimandres« 1904, Wilhelm Boussets »Hauptprobleme der Gnosis« 1907. Damit aber ist die Gnosis noch längst nicht historisch und gesellschaftlich und auch nicht in ihrer ihr eignenden Systematik so umfassend und eindeutig ausgeleuchtet, daß sich ein rezeptionssuffizientes ›Gnosis-Bild‹ erkennen ließe. Was tatsächlich rezipiert und ideologisch wirksam wird, das ist nicht die Gnosis, das sind Fragmente und Versatzstücke, die addiert und der sich archaisch, individualistisch, existentialistisch und irrationalistisch formierenden Ideologie des Imperialismus assimiliert werden.

Begünstigt wird die Möglichkeit zur Assimilation nicht zuletzt durch die Vorstellung, als religiöse Bewegung mit einer besonderer Vorliebe für Mythologeme müsse die Gnosis betont jenseits des Politischen gestanden haben, allein damit beschäftigt, die eigene Seele zu retten und den Weg der Erlösung zu erkennen. Auch Hans Jonas bleibt ja dieser Vorstellung verpflichtet, ohne die er, von Heidegger hoffnungslos fasziniert, seine existentialphilosophische Gnosis-Interpretation gar nicht hätte schreiben können.

Die Spätantike aber kennt noch keine Dichotomie zwischen Religion und Gesellschaft, zwischen Religiösem und Politischem; und auch zwischen Philosophie und Theologie lassen sich Grenzen nur schwer bestimmen. Wer von Gott und den Göttern spricht, der redet theologisch und philosophisch und politisch in einem. Und wer religiös rebelliert, der rebelliert damit natürlich auch politisch.

Bei strikter Beachtung dieses Zusammenhanges hätte ein authentischer »Neognostizismus« die Götter des Imperialismus zu böswilligen Demiurgen erklären müssen.

Das »Verkehrungspotential« sehe ich hier also an ganz anderer Stelle: nicht in der Gnosis, sondern in ihrer fragwürdigen Interpretation. Bei der ganz sicher notwendigen Unterscheidung zwischen dem »Geltungscharakter eines Philosophems« und seiner »handlungssteuernden Funktion« und bei der »Bestimmung der allgemeinen Konstitutionsbedingungen dieser Differenz« darf eine solche interpretatorische Verkehrung auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben.

Herzlich Ihr Dieter Kraft

 

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EIN SYMPOSION

»Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert?«

[in: Topos 22, Neapel 2003, S. 141-151. Der Vortrag wurde im Rahmen eines Symposions anläßlich des 75. Geburtstages von Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer am 11. Juli 2002 in der Berlin Rosa-Luxemburg-Stiftung gehalten. Das Symposion stand unter dem Thema »Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert? Wissenschaft - Hoffnung - Traum«.]

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Uwe-Jens Heuer,

ein Beitrag auf einem Jubiläums-Symposium darf mit einer eigenen biographischen Reminiszenz beginnen. Es ist noch keine 75 Jahre her, da nahm mich mein Staatsbürgerkundelehrer - ausnahmsweise einmal diskret - zur Seite, um mir - wieder einmal - in mein politisches Gewissen zu reden. Dieses hatte zu jener Zeit zwar schon eine gewisse Form, aber, wie er - und wohl auch zu Recht - meinte, einen völlig verkorksten katholischen Inhalt - was ich nun schon wieder einmal unter Beweis gestellt hätte, nämlich im Fach »Literatur«. Alle anderen hätten sich in dem Vortrag über ihren deutschen Lieblings-Dichter und -Denker auf progressive, auf fortschrittliche Traditionen eingelassen, nur ich hätte von diesem Rilke geschwärmt und völlig unkritisch ein völlig verstaubtes Diktum zum Thema gemacht. »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«

So endet Rilkes 1908 geschriebenes »Requiem« für den Grafen Wolf von Kalckreuth, einen Selbstmörder (†1906). Gelesen 1965, in der deutschen Arbeiter- und Bauern-Republik, klang dieser Satz tatsächlich höchst ambivalent, um hier auch noch das mildere Urteil meines Sportlehrers anzuführen, von dem ich allerdings wußte, daß er mich für seinen Prestigeachter als Steuermann brauchte.

Wie meistens, so hatte auch diese Ansprache meines Staatsbürgerkundelehrers Folgen für mich. Doch in diesem Falle waren sie positiv, jedenfalls die erste und unmittelbare, die darin bestand, daß ich mich jetzt genötigt sah, für Rilke einen Bonus zu finden, der ihn - etwa neben einem Thomas Mann - bestehen ließ. Das wurde mein Zugang zur Literatur, mit der ich alsbald auch auf die Wolke der Zeugen stieß, die zu berichten wußten, daß ihr Thomas Mann noch ein reaktionärer Monarchist war, als sich mein Rilke bereits für die Ziele der Novemberrevolution begeisterte. Und die wurden nicht erst 1918 formuliert.

Eine zweite und ganz andere Folge stellte sich erst viele Jahre später ein, als im November 1989 nun schon längst nicht mehr die Revolution, sondern die Konterrevolution ihre Ziele erreichte.

»Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.« Die subkutane Langzeitwirkung dieses Diktums, ins Politische konvertiert, setzte auf einmal eine unheimliche Dialektik frei: Alles Zuverlässige konnte nun nur noch in Negationen gedacht werden, ohne daß sich die Negation dieser neuen Negation zuverlässig denken ließ. Solange wir vom Siegen gesprochen hatten, um das Überstehen zu erlernen, und solange allein schon das bloße Überstehen ein glänzender Sieg war, solange war auf die Dialektik Verlaß. Jetzt aber wurde sie durchlässig, denn abhanden gekommen war ihr die Vorläufigkeit des nunmehr letzten Wortes. Während wir höchstens noch letzte Worte stammelten, wurde das letzte Wort von den anderen gesprochen.

Diesem Dilemma entgeht man selbst nach mehr als einem Jahrzehnt nicht, weder durch historische Konstrukte noch durch tapfere Hoffnungen oder mutige Träume. Wir haben nicht nur nicht gesiegt, wir haben nicht einmal überstanden.

Nun wäre das ja so dramatisch gar nicht, wenn wir uns gelassen auf den Gang der Geschichte mit dem Prinzip Hoffnung und also darauf einstellen dürften, daß uns zu gegebener Zeit die Möglichkeit zu einem neuen Aufbruch bereitgehalten werde. Aber diesem Prinzip Hoffnung ist kaum noch zu trauen, es dürfte höchstens noch als linderndes Therapeutikum gegen unheilbare politische Depressionen zu empfehlen sein. Nicht zufällig versandet ja auch in Michael Hardts und Antonio Negris »Empire. Die neue Weltordnung« (Campus-Verlag, Frankfurt a.M. 2002) die Analytik just an jener Stelle, an der die Frage nach den Akteuren eines neuen Aufbruchs aufgeworfen wird. Seitdem sind wir zwar um den Begriff der »autonomen Multitude« bereichert, doch mit ihm wird die Skepsis eher größer als geringer.

Dabei ist die Frage nach der Alternative tatsächlich, um bewußt einmal mit dem konfessorischen Pathos der Reformation zu reden, eine quaestio stantis et cadentis, nun nicht ecclesiae, wie zu Luthers Zeiten, sondern societatis et humanitatis. Denn es geht um nicht weniger als um die Frage nach den Überlebenschancen von Sozialität und Humanität. Zwei Begriffe, die den Rückzug ins Wörterbuch bereits angetreten haben und schon der Erklärung bedürfen, weil sie sich längst nicht mehr von selbst verstehen.

Und hier wird es nun doch dramatisch und die Niederlage des europäischen Sozialismus zur Ingredienz einer Entwicklung, die bereits in ihrer gegenwärtigen Phase die unheimlichen Konturen künftiger Verwerfungen erkennen läßt. Die aber scheinen nicht zufällig auf, denn natürlich ist die Dialektik nicht wirklich außer Kraft. Auch hat sie sich nicht transformiert in Adornos negative, wiewohl so manches dafür sprechen könnte. Was wir gegenwärtig tatsächlich erleben, das ist jene Negativität, die sich in der Dialektik historischer Prozesse einstellt, wenn der Antithese die These abhanden kommt und der Widerspruch nicht aufgehoben, sondern abgeschafft wird.

In eben dieser Situation befinden wir uns heute; und in Europa fällt es uns besonders schwer, mit ihr zurechtzukommen, denn das grandiose Schrittmaß der europäischen Geschichte hat uns reichlich verwöhnt. Vom Feudalismus über die frühbürgerlichen Revolutionen hinein in den alles revolutionierenden Kapitalismus, die Aufklärung als Zivilisierung des Denkens im Gefolge, demokratische Bewegung allerorten, Aufbrüche zu neuen Freiheiten und ganz neuen Lebensläufen - selbst die Krise dieses Systems, nicht einmal seine Kriege dämpften den historischen Optimismus, denn schon hatten neue Lokomotiven der Geschichte angezogen, eine neue Klasse an und dann sogar auch für sich, Sozialismus, real existierend, verstaatlicht, mit Weltmachtoptionen. So hätte es eigentlich immer weiter gehen können. Überzeugung gab es jedenfalls genug, zunächst. Und nun das Desaster, der historische Interruptus, das Ende einer Entwicklung, die auch als Zivilisationsgeschichte beschrieben werden könnte - Tendenz aufsteigend, scheinbar unaufhaltsam und unumkehrbar.

Hinter uns aber liegt gar keine Geschichte der Zivilisation, sondern eine Geschichte von Klassenkämpfen, in deren Folge, von Sieg zu Sieg, Zivilisation errungen werden konnte und mußte. Der lexikalische Eintrag in Langenscheidts Fremdwörterbuch ist noch immer korrekt: Zivilisation ist eine »Errungenschaft«. Natürlich steht da nichts vom Klassenkampf, aber immerhin, die Fährte ist schon richtig, auch wenn sie heutzutage, selbst unter Linken, immer seltener aufgenommen und verfolgt wird.

Doch die europäische Zivilisation ist ohne die erfolgreichen Klassenkämpfe des Bürgertums und des Proletariats undenkbar. Dabei geht es durchaus nicht nur um die datierbaren Revolutionen, sondern auch um die historische Kette permanenter Kollisionen zwischen Bürgertum und Adel, zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Sozialismus und Kapitalismus - getragen von den spezifischen Widersprüchen zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, zwischen Kapital und Arbeit, um es in der vertrauten Diktion meines Staatsbürgerkundelehrers zu sagen.

Dabei ist es gar nicht so einfach, immer auszumachen, wer hier wem was zu verdanken hat, denn nicht selten überlagern sich die Kollisionen, was zu neuen Widersprüchen führt - exemplarisch in der 48er Revolution, einer bürgerlichen, die ohne das Proletariat so jedenfalls nicht stattgefunden hätte. Und 100 Jahre später hätte es keinen Marshall-Plan gegeben, wenn er im nunmehr globalisierten Klassenkampf nicht von allergrößter Bedeutung gewesen wäre. Und natürlich hätten wir keine Bismarcksche Sozialgesetzgebung ohne die organisierte deutsche Arbeiterklasse. Ich will aber gar nicht aufrechnen, sondern nur ganz sparsam illustrieren, daß die europäische Zivilisation das Produkt permanenter Klassenauseinandersetzungen ist und gerade kein sich selbst entwickelndes, evolutionäres Projekt der Geschichte.

Aber streng genommen ist selbst diese Feststellung höchst problematisch, denn die Rede von der europäischen Zivilisation nivelliert und negiert - unfreiwillig oder auch mit Vorsatz - die z.T. ungeheuerlichen Unterschiede in der Partizipation an Zivilisation. Wer unter Brücken schlafen muß, lebt nicht in einem zivilisierten Land, auch wenn er von Banken umstellt ist. Selbstverständlich, in einer Klassengesellschaft unterliegt auch die Zivilisation der Klassifikation.

Ich rede in Abbreviationen; es ist mir aber wichtig, an diese fundamentalen Zusammenhänge wenigstens zu erinnern, weil anders gar nicht durchschaut werden kann, was sich gegenwärtig - und nicht nur in Europa - vollzieht, genauer: was vollzogen wird. Eric Hobsbawm hat das 20. Jh. ja durchaus lehrreich als »Das Zeitalter der Extreme« beschrieben (E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1999, 3. Aufl.). Und zu diesen Extremen gehört nun ganz sicher auch die für das Kapital seit Ende dieses Jahrhunderts einzigartige Situation, nahezu weltweit ohne einen ernstzunehmenden Klassenwiderspruch agieren zu können. Der Adel ist schon lange domestiziert, und nunmehr konnte auch die riskante Herausforderung durch den europäischen Sozialismus überwunden werden. Eine historisch extrem neue Situation, die es dem Kapital gestattet, seine bisher geltenden allgemeinen gesellschaftlichen Geschäftsbedingungen außer Kraft zu setzen und, wie es in der kryptischen Sprache seiner Politiker heißt, »alles auf den Prüfstand zu stellen«.

Die Bedrohlichkeit solcher Wendungen nimmt zu mit der steten Beschleunigung ihrer Umsetzung, die inzwischen nur noch lustlos als »Reform« deklariert wird, als »Standortsicherung« oder »Umbau«. Schon hat in den gleichgeschalteten Kommentaren das Wort vom »Rückbau« Einzug gehalten, und selbst das klare Bekenntnis zum »Abbau« ist kaum noch gewöhnungsbedürftig.

Bei alledem geht es nicht um sog. konjunkturbedingte Korrekturen, sondern um die vorsätzliche und planmäßige Vernichtung sozialer Standards und bürgerlich-demokratischer Rechte und also um nicht weniger als um die sukzessive Zerstörung zivilisatorischer Errungenschaften. Die nunmehr uneingeschränkte Herrschaft des Marktes erlaubt die Option auf eine uneingeschränkte Profitmaximierung, die kaum noch gesamtgesellschaftliche Rücksichten zu nehmen braucht - auch nicht auf den bleibenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Ihn tradeunionistisch zu versöhnen war nur solange erforderlich, wie eine sozialistische Alternative gefürchtet werden mußte.

Der über Jahrzehnte erzeugte Mangel an politischer Bildung hat dazu geführt, daß sich nur eine aufgeklärte Minorität dem Aberglauben verweigert, die »Segnungen« der »freien Marktwirtschaft« seien »Segnungen« der »freien Marktwirtschaft«. Wiewohl der zivilisatorische Fortschritt in Europa mit dem Sieg des Bürgertums verbunden ist, er ist keine Gabe der Bourgeoisie, auf die ein Erbrecht besteht.

Das gilt für Soziales und Politisches gleichermaßen, wie am europäischen Alt-Faschismus gezeigt werden könnte. Die bürgerliche Demokratie mit all ihren wirklichen und scheinbaren Attraktivitäten ist die reguläre nationalstaatliche Existenzform des Kapitalismus in seiner bürgerlichen und spätbürgerlichen Ära. Und eben diese Ära geht gegenwärtig zu Ende. Der spätbürgerliche Kapitalismus geht über, wie ich sagen würde, in einen nachbürgerlichen, mit allen nur denkbaren gesellschaftlichen Konsequenzen.

Vorbereitet durch die klassische Transnationalisierung des Kapitals, angetrieben von einer permanent revolutionierenden Entwicklung der Produktivkräfte, befreit von allen regulativen Prinzipien einer Systemauseinandersetzung und so auch befähigt zu einer globalen und alles dominierenden Kapitalverwertung, drängt ein alter Widerspruch erneut zur Aufhebung: der Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen. Doch auch dieser Widerspruch ist heute nur ein Segment innerhalb eines zunehmend übergreifenden Widerspruchs, nämlich dem zwischen der uneingeschränkt globalen Bewegungsform des Kapitals und den nationalen Existenzbedingungen der bürgerlichen Demokratie.

Es ist sicher kein Zufall, daß die Anti-Globalisierungs-Bewegung deshalb gerade auch von gutbürgerlich Engagierten geprägt wird und daß sich Protagonisten wie eine Vivian Forester dabei deskriptiv erstaunlich radikalisieren. Aber die hinreichenden Gründe sind auch radikal genug, wenn man nur an das sog. »Multilateralen Investitionsabkommen« denkt, in dem sich ja auch nur ein Vorschein des Künftigen spiegelt - wie ja auch in der Rede vom »Ende des Nationalstaates«. Diese könnte mit Gelassenheit vorgetragen werden, wenn es lediglich um Nationales ginge, und sogar mit Emphase, wenn sie auf Nationalistisches zielen würde. Doch im Fokus dieser Perspektive steht nicht die nationale Staatsmacht, sondern die spätbürgerlich-demokratische Ordnung des Kapitalismus. Sie zu überwinden und den politischen und gesellschaftlichen Erfordernissen der globalen Kapitalverwertung zu adaptieren, das ist gegenwärtig das Tagesgeschäft der europäischen Staatsmächte. Und wer sich heute, mit welchen Absichten auch immer, staats- und regierungspolitisch engagiert, der nimmt billigend in Kauf, daß er dazu einen Beitrag zu leisten hat. Und der wird ja denn auch geleistet.

Die Situation ist einigermaßen grotesk und unerhört widersprüchlich. Da feierten manche den Untergang des Sozialismus und machten sich auf, in jenem Kapitalismus anzukommen, den sie als Alternative meinten privilegieren zu müssen. Und nun gibt es den einen gar nicht mehr und den anderen jedenfalls nicht mehr so, wie man ihn eigentlich haben wollte. Das ist tragisch. Doch alles Tragische ist auch durchwoben vom Naiven. Wie sollte man denn den einen ohne den anderen bekommen?! In compensationem ist dafür inzwischen aber die Fähigkeit gewachsen, sich überall irgendwie einrichten und Grundsätze beliebig für obsolet erklären zu können. Eine Fähigkeit, die Politiker heute vermutlich schon in ihren Bewerbungsunterlagen ausweisen müssen.

Grotesk und unerhört widersprüchlich wird es nun aber wirklich für all jene, die einst vom Untergang der spätbürgerlichen Gesellschaft geträumt hatten und heute vor die Frage gestellt sind, ob und wie sie deren zivilisatorische Elemente vor dem globalen Laisses faire des nachbürgerlichen Kapitalismus retten sollen und wollen. Für manche dürfte allein schon eine solche Frage kaum zumutbar sein, zumal sie einigermaßen angewidert erleben müssen, wie andere darum kämpfen, sich in diesem Spätkapitalismus in letzter Minute noch häuslich einzurichten und dabei fast jede nur denkbare Peinlichkeit in Kauf nehmen.

Die Frage aber steht, so oder so. Und wahr bleibt auch, daß man nicht erst ein Hund zu werden braucht, um für den Erhalt des Tierschutzes eintreten zu können. Das Bild ist schief, aber der Grat, auf dem in dieser Frage gewandelt werden muß, ist auch unheimlich scharf. Der Absturz, der ideologische, moralische, politische, läßt sich nur vermeiden, wenn Zivilisation nicht als Entwicklung einer Idee a priori, sondern als das a posteriori einer klassengesellschaftlichen Auseinandersetzung begriffen wird. So wenig wie es eine »Zivilgesellschaft« an sich gibt, so wenig wird es eine gelungene Apologie zivilisierter Gesellschaftlichkeit geben ohne ein programmatisches Insistieren auf dem Klassencharakter aller Aktionen und Reaktionen. Denn wem heute nicht bewußt wird, daß er nicht einer fiktiven »Moderne« mit ihren modernen »Sachzwängen«, »Strukturanpassungen« und »Globalisierungskompatibilitäten« ausgesetzt ist, sondern, auf Gedeih und Verderb, den wohlorganisierten und staatspolitisch flankierten Interessen einer weltweit und gnadenlos operierenden Shareholder-society, dem wird es nicht gelingen, diesen Diktatoren des Profits organisiert gegenüberzutreten. Wer nicht die Systemfrage stellt, hat sich der notwendigen Systematik eines bündnisbreiten Widerstandes bereits entledigt.

Und zu dieser Systematik gehört es nun auch, nicht nur gegen das Laisses faire des sog. »Neoliberalismus« zu protestieren, sondern dabei zugleich auch zu deklarieren, daß es der Moder der Spätbürgerlichen Gesellschaft ist, der hier zum Humus des nachbürgerlichen Kapitalismus wird.

Die Einsicht in diesen konstitutiven Zusammenhang hat sich unter den bürgerlichen Globalisierungsgegnern noch längst nicht durchgesetzt. Aber es bleibt abzuwarten, wann auch ihr Blick mit wachsender Kritikfähigkeit nicht nur an den manifest werdenden globalen Deformationen, sondern auch an deren eigentlicher Genese haften wird. Auf jeden Fall aber konstituiert dieser Zusammenhang die politische Plattform, auf der der Widerstand der alten und uralten Linken mit dem Protest der neuen und jungen Antagonisten sachlich koinzidiert. Wer weiß, was sich daraus noch entwickelt. Ganz sicher gar nichts, wenn die einen nach den ersten europäischen Großdemonstrationen von der »Weltrevolution« munkeln würden. Und sicher auch solange nichts, solange die anderen nicht wenigstens stutzig werden, wenn vermeintliche Koalitionäre vor laufenden Kameras erklären, man solle doch den Kapitalismus nicht so schlecht reden.

Ganz ernsthaft muß nun aber auch damit gerechnet werden, daß sich weder so noch so irgend etwas entwickelt. »Wo Gefahr wächst, da wächst das Rettende auch«, konnte noch Hölderlin in sanfter Dialektik fabulieren. Doch solch schöne Gewißheiten tragen heute nicht mehr. Schon längst haben sich Entwicklungen verdichtet, die im Gefüge der kapitalistischen Gesellschaft mit den quantitativen Sprüngen auch qualitative Umkehrungen anzeigen.

Mit Sprüngen haben wir ja schon zu leben gelernt, auch wenn wir wissen, daß Hegels »Herr-Knecht-Verhältnis« eben kein prästabilierter Indikativ eines imperativen Naturverhältnisses ist, wiewohl sich reich und arm und oben und unten und Macht und Ohnmacht und Glanz und Elend und Paläste und Hütten natürlich immer reziprok verhalten, weil das eine sich vom andern nährt, wenn man die Welt als Ganze nimmt. Doch den Exzeß der neuen superlativen Sprünge werden viele nicht einmal überleben, jedenfalls nicht in kommoder Situierung.

In ihrem 1996 erschienenen Band »Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand«(Rowohlt, Reinbek, 1997, 15. Aufl.) hatten die beiden »Spiegel«-Redakteure Hans-Peter Martin und Harald Schumann nicht nur die soziale Dramatik der Absenkung einer Zwei-Drittel- auf eine Ein-Fünftel-Gesellschaft thematisiert, sondern mit ihrer Recherche auch dokumentiert, daß diesen Verwerfungen eine konzertierte Regie zugrunde liegt. Ihr Bericht über die elitäre Fairmont-Konferenz in San Francisco vom September 95 hatte denn auch nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß die Bewegung der Globalisierungsgegner sich auch in der BRD zu formieren begann. Ein »Wimpernzucken in der Geschichte der Ökonomie« (ebd., S. 14) nannte John Naisbitt in San Francisco die Zeit der sog. »Wohlstandgesellschaft«. Und mit ihm überlegten 500 führende Manager, Politiker und hochdotierte Wirtschaftler aus aller Welt, wie man künftig mit jenen Vier-Fünfteln verfahren müsse, um dieses Heer von Tagelöhnern und Arbeitslosen nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. An bewährte altrömische Praxis knüpfte im Fairmont-Hotel Zbigniew Brzezinski an, und seine Formel für panem et circenses, für Brot und Spiele lautete: »tittytainment« (ebd., S. 13). Das Volk muß gestillt und bespaßt werden. Ein durchaus komplementärer Ansatz zu dem von Wolfgang Schäuble, der ja schon 1993 und erst kürzlich wieder laut darüber nachdachte, wie man die Armee, wenn es denn sein muß, auch nach innen einsetzen kann.

Zwei-Drittel werden zu Vier-Fünftel, gemacht; die Differenz zwischen Zähler und Nenner ist progressiv, und das Wort von der »Bruchrechnung« verliert auf einmal seine mathematische Unschuld.

Aber ginge es nur um Zahlen, ein George Soros hätte uns niemals ein Buch über »Die Krise des globalen Kapitalismus« (G. Soros, Die Krise des globalen Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt a.M. 2000) geschrieben und an seinen Ängsten teilhaben lassen, an seinen Milliarden in einer kapitalistischen Welt, die sich qualitativ verändert, am Ende gar keine rechte Freude mehr haben zu können. Und Soros ist nun wirklich kein Populist und auch kein ungarischer Dramatiker. Seine Analyse gründet nicht auf externen Beobachtungen, sondern auf ureigensten Erfahrungen, mit denen er sich an Börse und Kapitalmarkt ein Vermögen erspekulierte. Und dieser Soros, der 1992 das britische Pfund zum Wanken brachte und allein dabei 1 Milliarde Dollar kassierte, sagt heute: »das kapitalistische Weltsystem« ist »krank und brüchig« (ebd., S. 9), und der zunehmend alles beherrschende »Marktfundamentalismus« zerstört die sozialen, moralischen, politischen, kulturellen und also die gesellschaftlichen Werte der bürgerlichen Zivilisation und selbst die persönlichsten Beziehungen (ebd., S. 257ff.).

Natürlich, Soros ist ein Bourgeois, der durch eben jene Mechanismen reich wurde, die ihn nun daran hindern, diesen Reichtum unbesorgt vermehren zu können. Aber er ist eben noch ein Bourgeois und nicht ein nachbürgerlicher Profiteur. Mutatis mutandis würde Thomas Mann ihn gar für literaturwürdig halten, wie einst den alten Buddenbrook, den er, viel weitsichtiger als ein Rilke, schon ahnen ließ, daß es mit seinem Bürgertum so fein und vornehm nicht bleiben würde.

Und jetzt verfault es wirklich und mit ihm eine Gesellschaft, die im Markttotalitarismus die Umwertung aller bürgerlichen Werte zu erleben beginnt. Nietzsche könnte zufrieden sein, wiewohl auch er nicht damit gerechnet haben dürfte, daß die Umwertung auf dem Marktplatz getrieben wird und nicht bloß als Wille zur Macht.

Aber auf dem Marktplatz funktioniert sie total und nahezu perfekt, denn hier steht alles bereit, nun auch in sein Gegenteil verkehrt zu werden.

Allem voran die mächtige Maschinerie der Medien, die mit Gutenberg einst so verheißungsvoll anlief und Kultur begründete, Hochzivilisation, Massenbildung. Heute steht sie im Dienst der Verblödung und ist dabei so effektiv wie nie zuvor - und unanfechtbar. Insider, die - wie ein Frédéric Beigbeder - ihre Betriebsgeheimnisse verraten, dürfen daraus sogar Bestseller machen, denn Appelle ändern heute nichts. Wenn es paßt, werden auch sie vermarktet (F. Beigbeder: Neununddreißigneunzig, Rowohlt, Reinbek 2001).

Und dem Markt paßt eigentlich alles. Warum nicht zugebe, daß heute jede Form von Rücksichtslosigkeit und Schamlosigkeit und Skrupellosigkeit zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen gehört - und eine gelungene Korruption zum Befähigungsnachweis avanciert. Warum nicht zugeben, daß alles wirklich so ist, wie es wirklich ist. Und wenn es noch irgendwelche Probleme geben sollte, dann ändert man halt die Gesetze und versetzt die unbequemen Staatsanwälte. Oder man schert sich auch darum nicht, auch nicht um Völkerrecht oder die UNO. Das Recht des Stärkeren diktiert die Welt, national und international, in der Wirtschaft und in der Politik. Tertium non datur.

Als spätberufener Protestant dürfte ich eigentlich nicht mehr unter Verdacht geraten, ein heimlicher Ministrant des Vatikans zu sein, wenn ich mir ein Papstwort zueigen mache, das Johannes Paul II. in seiner im März 1995 gegebenen Enzyklika »Evangelium vitae« geprägt und unter dem Titel »Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens« auch entfaltet hat.

12 mal ist in dieser Enzyklika die Rede von einer heute umsichgreifenden »Kultur des Todes«. Bezeichnenderweise wurde die Bedeutung dieses Wortes in den Medien eklatant verkürzt und reduziert auf die Bewahrung ungeborenen Lebens. In Wirklichkeit aber geht es viel weiter und zielt auf eine Gesellschaft, die der natürlich konservative Papst mit seiner natürlich konservativen Kurie in einer verhängnisvollen Auflösung begriffen sieht.

Ich zitiere nur wenige Sätze. In Kapitel 12 heißt es: »Mögen auch viele und ernste Aspekte der heutigen sozialen Problematik das Klima verbreiteter moralischer Unsicherheit irgendwie erklären und manchmal bei den einzelnen die subjektive Verantwortung schwächen, so trifft es tatsächlich nicht weniger zu, daß wir einer viel weiter reichenden Wirklichkeit gegenüberstehen, die man als wahre und ausgesprochene Struktur der Sünde betrachten kann, gekennzeichnet von der Durchsetzung einer Anti-Solidaritätskultur, die sich in vielen Fällen als wahre ›Kultur des Todes‹ herausstellt. Sie wird aktiv gefördert von starken kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen, die eine leistungsorientierte Auffassung der Gesellschaft vertreten.«

Und aus Kapitel 19 noch den Satz: Man kann »nicht bestreiten, daß eine solche Kultur des Todes in ihrer Gesamtheit eine ganz individualistische Freiheitsauffassung enthüllt, die schließlich die Freiheit der ›Stärkeren‹ gegen die zum Unterliegen bestimmten Schwachen ist.«

Das klingt fast radikal, jedenfalls ist es ex radice gesprochen, und mit der »Kultur des Todes« ist prägnant beschrieben, was andere als »Moderne« feiern, ohne wahrnehmen zu können oder zu wollen, daß uns diese »Moderne« selbst hinter die Aufklärung zurückwerfen wird und weithin auch schon geworfen hat. Wie weit, das läßt sich kaum absehen. Aber es spricht wenig dafür, daß der globalisierten »Kultur des Todes« Grenzen gesetzt werden können, abgesehen von jenen, die sie in sich trägt und die sie nicht überwinden kann. Denn auch der nachbürgerliche Kapitalismus unterliegt dem Gesetz der Anarchie und dem Gesetz der Konkurrenz.

Gianfranco Pala, auch ein Italiener, aber ein richtiger, hat in seinen Studien zur Globalisierung gerade dieses bleibende Ingredienz des nachbürgerlichen Kapitalismus besonders hervorgehoben. Ich verweise nur auf seinen Beitrag in Heft 16 der Zeitschrift TOPOS: G. Pala, Hundert Jahre Imperialismus. Produktionsnetze und Kontrollketten in der transnationalen Phase, TOPOS 16 (Imperialismus), Napoli 2000, S. 11-39. Weil Anarchie und Konkurrenz auch angesichts transnationaler Produktionsnetze und Kontrollketten nicht außer Kraft gesetzt sind, potenziert sich nun sogar das dem Kapitalismus geburtseigene bellum omnium contra omnes.

Es ist keine erbauliche Vorstellung, daß aus diesem nunmehr global vernetzten und verketteten Konflikt Rettendes erwachsen könnte. Aber wo Anarchie herrscht, da herrscht das Unberechenbare auch. Daraus leite ich für mich als Handlungsanweisung ab, bereit zu bleiben, mit allem rechnen zu können. Mag sein, daß die Enkelinen wieder begründete Träume und Hoffnungen haben dürfen. Für unsere Generationen aber gilt: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«

 

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DIETER KRAFT

Zu Hans Heinz Holz: »Weltentwurf und Reflexion«

[in: TOPOS 24, Neapel 2005, S. 149-152]

Lieber Herr Holz,

ich vermute, soweit ich das als Theologe überhaupt angemessen einzuschätzen vermag, daß die Resonanzen auf Ihr jüngstes großes Werk »Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik« (Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, ISBN 3-476-02071-1) durchaus kontrovers ausfallen werden. Wenn ein marxistischer Philosoph mit der These aufwartet, die Metaphysik dürfe nicht preisgegeben, sie müsse vielmehr essentiell beerbt werden, und wenn dann im Vollzug einer solchen Beerbung auch noch die Kategorie der Spekulation ihre Rehabilitierung erfährt, dann dürften im philosophischen Diskurs alle nur denkbaren Turbulenzen zu erwarten sein - bis hin zu jener ideologisch motivierten Rochade, die Materialismus und Idealismus in neuer Aufstellung wird konfigurieren wollen. Da ich kein Philosoph bin, werde ich an diesem Diskurs leider gar nicht teilnehmen können. Dennoch möchte ich wenigstens gestehen dürfen, daß ich von Ihrem »Versuch einer Grundlegung der Dialektik« fasziniert bin. Eine solche Grundlegung ist ja in der Philosophie eigentlich überfällig gewesen; und nun haben Sie mit ihr zudem ein systematisch so spannendes Opus vorgelegt, daß man der Verführung zum Nach-Denken kaum entgehen kann - und auch nicht der Ermutigung, wieder einmal die philosophischen idola fori resolut in Frage zu stellen.

Sie haben doch völlig Recht: Selbstverständlich muß die Metaphysik in einer materialistischen Dialektik beerbt und nicht einfach eliminiert werden. Und natürlich muß eine materialistische Dialektik auch die Kategorie der Spekulation dialektisch verifizieren - und selbstredend auch die der Apriorität. Ich hätte mir allerdings gewünscht, Sie wären mit allen philosophischen Kategorien so (wohltuend hermeneutisch) umgegangen. Dann jedenfalls hätte ich die Hoffnung haben können, meine alte Skepsis gegenüber einer philosophischen Denkfigur endlich ausgeräumt zu sehen, die im Idealismus wie im Materialismus eine offenbar axiomatische Bedeutung hat. Ich meine die immer und überall wiederkehrende und m.E. nirgends hinreichend dialektisch problematisierte Zuordnung von Subjekt und Objekt.

Unbestritten ist die Subjekt-Objekt-Beziehung, wie Sie selber betonen, »die Voraussetzung der ›modernen‹ Philosophie, die von Descartes ausgeht« (S. 51, Anm. 16). Und unbestritten hat sich in dieser »Voraussetzung« ein erheblicher philosophisch-methodologischer Erkenntnis­zuwachs verdichtet. Aber ebenso unbestreitbar handelt es sich, und Sie sagen es ja selber, um eine Voraussetzung, mithin also um einen philosophischen An- und Einsatz, der doch einer strikten Verifizierung bedarf.

Hegel hat sich um eine solche nicht sonderlich bemüht; statt dessen hat er uns die Aufhebung der Dichotomie von Subjekt und Objekt und also ihre absolute Vermittlung in der absoluten Idee vorgeführt. Seitdem könnte man - mit einigem Sinn für Ironie - das S-O-Problem eigentlich für obsolet erklären, wenn die Kategorie Objekt mit dem Begriff Sein wirklich auch hinreichend definiert wäre. Das aber ist sie nur in einem übergreifenden Sinne, der wiederum das Subjekt zur Voraussetzung behält. Denn der Begriff des Seins entzieht sich in seiner abstrakten Totalität ebenso wie in seiner totalen Abstraktheit allem Empirischen und sagt deshalb über die intelligible Kapazität des Subjekts mehr aus als über die materielle Realität des Objekts. Wer über das Sein spricht, der hat die Dinge bereits hinter sich gelassen und muß sich nicht mehr am Gegenständlichen abarbeiten.

Daß Sie in Ihrer »Grundlegung« dem Gegenständlichen wieder eine so erstrangige Plazierung eingeräumt haben, korrespondiert Ihrer entscheidenden Kritik an Hegel, der die Dialektik »nicht aus den materiellen Bedingungen selbst, nicht aus der Verfassung der Gegenstände abgeleitet« (S. 17) habe. Sie stellen Hegel die These entgegen: »Ist das Subjekt S - das cogito - durch nichts anderes bestimmt als durch die in seinem Bewußtsein sich darstellenden Inhalte, die die Gegenstände der Welt, die Objekte (O), repräsentieren, so läßt sich die zweigliedrige Beziehung S-O als ein geschlossenes System beschreiben ...« (S. 51).

Genau hieran habe ich meine Zweifel, und ich weiß jetzt noch immer nicht, wie ich das Objekt evaluieren soll. Sind es wirklich die »Gegenstände der Welt«, die die S-O-Beziehung konstituieren? Sie unterstreichen: »Indem das Denken Weltgehalte als seine Inhalte aufnimmt (oder reproduziert), erfährt es seine eigene logische Formbestimmtheit primär als die des Gegenstands - denn es erfährt sich selber primär nicht als Denkform, sondern als den Gegenstand denkend; denn nur indem ich einen Gegenstand denke, denke ich; mein Denken ist das Denken des Gegenstandes.« (S. 515f.)

Vielleicht liegt meinerseits auch nur ein Mißverständnis vor, aber in der hier vorliegenden Diktion kann ich diese These nicht nachvollziehen. Einen Gegenstand denkt man nicht. Als Gegenstand bleibt er immer nur Objekt einer sinnlichen Wahrnehmung. Die ist zwar Voraussetzung des Denkens, wie ja auch Sie mit Leibniz und Kant selbstverständlich konzedieren (S. 256f.), aber der Übergang zum Denken gründet nicht in der Gegenständlichkeit als solcher, sondern in der analytischen und synthetischen Reflexion der realen Beziehungen alles Gegenständlichen auf- und zueinander.

Sie sagen: »Gegenständlichkeit bedeutet Varietät, Mannigfaltigkeit und damit zugleich Identität des einen mit sich und Verschiedenheit des einen vom anderen.« (S. 257) Oder: Die »Gegenständlichkeit der Erfahrung« ist »nur evident, wenn Gegenstände sich als verschiedene (also in einer Mehrzahl) voneinander abheben lassen« (ebd.). Schon in der »Einleitung« zitieren Sie affirmativ Engels: Man dürfe nicht »über den einzelnen Dingen deren Zusammenhang, über ihrem Sein ihr Werden und Vergehen, über ihre Ruhe ihre Bewegung« vergessen. (S. 13) Und in dem Kapitel »Reflexion« bringen Sie es eigentlich auf den Punkt: »Nichts wäre so, wie es ist, würde es nicht vermittelt durch anderes, außer ihm Seiendes, zu sich selbst gebracht werden. Die Welt ist ein universelles Wechselwirkungsverhältnis, kein bloßes Sein, sondern eine Relation«. (S. 390)

Das unterschreibe ich Ihnen sofort, auch wenn ich Sein und Relation nicht unbedingt in Differenz bringen, sondern eher darauf abheben würde, daß das Sein selbst ein universelles Wechselwirkungsverhältnis ist, was Sie an vielen anderer Stelle (vgl. nur S. 392) eigentlich auch betonen. Aber dann »richtet« sich das Denken nicht auf einen »einzelne(n) dingliche(n) Gegenstand« (S. 514), sondern auf seine multiple Relationalität. Wir denken nicht Sachen, sondern Sachverhalte, und wir denken nicht Gegenstände, sondern gegenstandsbezogen. Das Denken hat immer Beziehungen zum Inhalt, nämlich die Beziehungen zwischen den Gegenständen; und sein Wahrheitsgehalt bleibt in der Erkenntnis dieser Beziehungen gebunden an die objektive Realität der konkreten Relationen.

Das Denken hat die Gegenständlichkeit zur Voraussetzung; aber zu seinem Inhalt hat es nicht die Gegenständlichkeit selbst, sondern deren Relationalität. Im Denken wird die sinnlich erfahrene bloße Gegenständlichkeit gerade »aufgehoben«. Und gerade in dieser Aufhebung widerspiegelt sich im Denken jene universale Relationalität, die alles Seiende bestimmt.

Daß diese »ideelle« Widerspiegelung kein intellektuelles Konstrukt ist, sondern sich »materialiter« eben dieser Relationalität selbst verdankt, hat Marx, und Sie führen es ja auch aus, unter Hinweis auf die in der menschlichen Arbeit sich entwickelnde Relationalität von Mensch und Natur begründet. Erst in der die Beziehung Mensch-Natur gestaltenden menschlichen Arbeit entwickelt sich das Bewußtsein für Relationalität, für Interdependenz und Abhängigkeit. Das heißt zugleich: das »Denken« steht der »Natur« nicht a priori »gegenüber« (im Sinne eines apriorischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses), es ist vielmehr selbst das Produkt (a posteriori) einer Relationalität, und nur als ein solches widerspiegelt es - selbst noch im Denken des Denkens und also in abstraktester Reflexion - einen realen und ebenso konkreten wie auch übergreifenden Sachverhalt.

Und das heißt eben auch: das cogito ist nicht dadurch bestimmt, daß es die Gegenstände der Welt, die Objekte  (O), repräsentiert, es ist vielmehr bestimmt dadurch, daß es die Relationalität alles Gegenständlichen und Objektiven repräsentiert. Erst darin erreicht ja auch der Begriff der Widerspiegelung seine eigentliche Bedeutung, denn die Subjekt-Objekt-Beziehung ist lediglich ein besonderer Fall der allgemeinen Objekt-Objekt-Beziehung alles Gegenständlichen. Aber gerade deshalb ist Widerspiegelung überhaupt möglich.

In diesem Zusammenhang würde ich ja sogar fragen wollen, ob es wirklich gerechtfertigt ist, die Kritik an Kants vermeintlichem Agnostizismus daran festzumachen, daß er ein Ding an sich unserer Erkenntnis entzogen sieht. Wenn alle »Dinge dieser Welt« relational existieren, dann ist doch bereits der Begriff des Dinges an sich in dialektischer Perspektive höchst problematisch. Und wenn es im cogito um die Widerspiegelung nicht der Gegenstände (Dinge) an sich, sondern um die Wirklichkeit des Beziehungssystems aller Gegenstände und Dinge geht, dann bleibt ein aus diesem Beziehungssystem herausgenommenes Ding an sich in der Tat der Erkenntnis unzugänglich. Oder anders gesagt - und nur zu gern knüpfe ich hier an Ihre Einführung des Metaphorischen in die Dialektik an: Wenn jedes Ding-Wort nicht nur einen Gegenstand bezeichnet, sondern zugleich und immer auch dessen Funktion(en) (S. 273), dann wäre ein Ding an sich im Sinne eines Gegenstands ohne Funktionsbestimmung und also ohne Relationalität namenlos.

Herzlich Ihr Dieter Kraft

 

HANS HEINZ HOLZ

Eine Replik

[in: TOPOS 24, Neapel 2005, S. 153-155]

Lieber Herr Kraft,

vielen Dank für Ihre Anmerkungen zu »Weltentwurf und Reflexion«. Ihre Erwartung, das Buch werde Turbulenzen auslösen, gilt mir als positives Echo (und war ja auch so gemeint). Windstille über glatter See hat mir nie behagt, und der quietistischen Parole »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« habe ich zeit meines Lebens zuwidergehandelt.

Doch zur Sache! Ihre Einwände gegen die Gegenstandskategorie kann ich nachvollziehen. Vielfach habe ich ja auch darauf hingewiesen, daß die Dialektizität des dialektischen Materialismus, durch die er sich von jedem vulgären Materialismus als verschieden (und nicht bloß unterschieden) erweist, darin liegt, daß nicht Gegenstände, sondern »gegenständliche Verhältnisse« die zu erkennende Wirklichkeit ausmachen (siehe S. 429ff.). Das hat Marx deutlich gesagt, und Hegel, der vom »substantiellen Verhältnis« spricht, hat diese Wendung von der Substanzontologie zur Relationsontologie vorbereitet. Daß in jeder Relation natürlich die substantiellen Glieder der Relation enthalten sind und mitgedacht werden müssen (allerdings eben als Glieder einer Relation, in der sie sich zugleich aktiv und passiv verhalten), versteht sich »von selbst«, ist aber durchaus ein Problem; denn es muß ja expliziert werden, was dann unter Substantialität zu verstehen ist, und ich meine, daß Leibniz in dem dialektischen Modell der vis als vis activa et simul passiva ein Muster dafür gegeben hat, wie man mit diesem Problem umgehen kann.

Die ontologische Priorität der Relationskategorie vor der Substanzkategorie macht aber die Gegenstandskategorie nicht obsolet. Ontologisch ist mit »Gegenstand« immer die res, die »Sache selbst« gemeint, die sich dem begreifenden Denken stets in »Sachverhalten« darstellt und »an sich« Moment des unendlichen Zusammenhangs aller Seienden und nur in dieser Verknüpfung real ist. Wenn wir überhaupt von Sein sprechen, können wir nur von »In-der-Welt-sein« sprechen, also von »In-Zusammen­hängen-stehend«. Das besagt der erste Grundzug der Dialektik. Aber erkennend stellen wir begrenzte, in der Begrenzung isolierte Sachverhalte als Einheit vor uns hin; das nennen wir dann »die Sache«, und mit dieser die Relation zum identischen Substrat verkürzenden Redeweise (die in unserer Grammatik angelegt ist, aber auch unserer Sinneswahrnehmung entspricht - denn schließlich sehen wir ja den Baum, den Stuhl, den anderen Menschen als dinglichen Gegenstand und nicht als Relationenkomplex!) habe ich keine Schwierigkeit. Sie ist sozusagen die logische Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit.

Auf jeden Sachverhalt kann ich meine Bewußtseinstätigkeit (von der Empfindung bis zur Erkenntnis) richten. Damit trete ich als Subjekt in einer durch meine point-de-vue bestimmten Limitation in solche gegenständlichen Beziehungen. Das Sein der Welt, also ihre Materialität in gegenständlichen materiellen Verhältnissen, ist mir in der Subjekt-Objekt-Relation gegeben, diese gegenständliche Beziehung ist die ontologische Urbeziehung. In ihr bin ich aber, als das Subjekt, ein materielles Glied, nämlich dieser leibliche Mensch, der Empfindungen, Vorstellungen, Begriffe usw. hat. Als dieses Glied bin ich ontisch eine »Sache« wie das Objekt auch, und wenn ich davon absehe, verfalle ich in die Illusion, die ontologische Stellung des Subjekts mit seiner ontischen zu verwechseln; das ist der Paralogismus des subjektiven Idealismus, aus dem der Schein entspringt, die richtige dialektische Auffassung der Subjekt-Objekt-Relation (in der das Subjekt unverzichtbarer Bezugspunkt ist) legitimiere einen metaphysischen Idealismus.

Eine Grundlegung materialistischer Dialektik wird den Vorrang der (ontischen) Dialektik der Natur entwickeln müssen. Medium dafür ist in meinem Modellansatz der universelle Gebrauch der Spiegel-Metapher, die die Struktur des Reflexionsverhältnisses zwischen Seienden einsichtig macht. Die (ontologische und Ontologie begründende) Subjekt-Objekt-Dialektik ist nur ein ausnehmend besonderer Fall der Naturdialektik, in der Subjektivität entspringt. Von diesem qualitativen Sprung an würde ich auch von Subjekten sprechen, um nicht der anthropomorphisierenden Äquivokation zu verfallen, in der natürlichen Objekt-Objekt-Dialektik schon eine Art Natursubjekt zu setzen. In der Arbeit enthüllt sich die vollentfaltete Struktur dieser Dialektik, aber Marx hat sie bereits im universalen Verhältnis von Naturseienden als gegenständliche Tätigkeit angelegt gesehen. Wo die neue Qualität Subjektivität entsteht, beginnt dann auch der Bereich der Erkenntnistheorie, weil Subjekte sich nicht nur in Wechselwirkung mit den Objekten befinden, sondern diese und ihr eigenes Verhältnis zu ihnen in allgemeinen Zeichensystemen (Begriffe, Sprache) abbilden.

Da kommen dann Ihre richtigen Bemerkungen zur Verfassung des Denkens - als Denken von Relationen - zum Zuge. Allerdings würde ich die Kantsche Entrückung des Dings an sich nicht für schlüssig halten, weil widerspiegelungstheoretisch die in der Erkenntnis von Gegenstandsrelationen (Sachverhalten) aufgefaßte Erscheinung der Gegenstände in einer spiegelstrukturell definierten Weise von den Sachen selbst (den »Dingen an sich«) abhängig ist. Den Terminus Gegenstand nutze ich daher im weiteren Sinne der Spiegelbeziehung. Die urbildliche Gestalt ist Gegenstand des Spiegels, sie steht dem Spiegel gegenüber. Die reflektierte Gestalt ist Inhalt des Spiegels, sie erscheint in ihm. Das Spiegelbild ist, gemäß genau angebbaren Abbildungsbedingungen, vom Urbild unterschieden (Bespiegeltes und Gespiegeltes). Dieser Unterschied macht den Charakter der Ontologie als Theorie des Reflexionsverhältnisses aus.

Wenn ich die im Schlußkapitel von »Weltentwurf und Reflexion« als Desiderat bezeichnete Kategorienlehre noch in Angriff nehmen kann, werde ich ausführlichere Erwägungen zu den von Ihnen aufgeworfenen Problemen anstellen. Im Augenblick bitte ich Sie, es bei den hier gegebenen Andeutungen belassen zu dürfen.

Herzlich Ihr Hans Heinz Holz

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