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Anmerkungen zu Hegels Idealismus der objektiven Realität [Vortrag auf dem von der Leibniz-Sozietät und der Internationalen Hegel-Marx-Gesellschaft für dialektisches Denken unter dem Thema »Die Lust am Widerspruch« am 1. und 2. März 2007 in Berlin durchgeführten Symposium anläßlich des 80. Geburtstages von Hans Heinz Holz] Meine Herren Präsidenten, meine sehr verehrten Damen und Herren, meravigliosa Silvia, hochverehrter, lieber Hans Heinz Holz! Die Lust am Widerspruch[1]. Meine Frau gab mir als Theologin den kollegial vermittelten, wohl aber auch seelsorgerlich gemeinten Rat, ein so wunderbares Thema am besten doch mit Peter Hacks zu bestreiten und seinem ‚Müller von Sanssouci’, der sich energisch vorgenommen hatte, seinem König unbotmäßig zu widersprechen, doch alsbald die Lust daran verlor, als ihm aufzugehen begann, daß des Königs Lust auf diesen Widerspruch weit größer ward als der Verdruß, der einst den Widerspruch des Müllers nährte. Lustvoller als bei Hacks kann man in die Dialektik Hegels gar nicht eingeführt werden - und auch belehrt, daß mit einem aufgehobenen Widerspruch ein so komisches Theater gemacht werden kann. Solange aber die Aufhebung noch aussteht, will sich oft kein rechtes Vergnügen einstellen, weil die Balance der Gegensätze in um sich greifender Konfrontation ausgehalten werden muß. Hier regiert die Sprache des reinen Konflikts, der zur konzentrierten Ernsthaftigkeit anhält, weil der Ausgang noch nicht fröhlich besungen werden kann. Ich weite mein Proömium nicht länger aus und komme gleich zur Sache selbst und also zu Hegel und zu meinem Widerspruch, der sich, nicht auf Hegel, wohl aber auf jene Hegel-Interpretation bezieht, die es nicht nur für möglich, sondern auch für geboten hält, Hegel „vom Kopf auf die Füße zu stellen“. Kaum eine andere Metapher hat in der Philosophiegeschichte so nachhaltige Wirkungen gezeitigt wie dieses von Engels geprägte Diktum[2], mit dem auch das entscheidende Verhältnis von Marx zu Hegel benannt werden konnte. Nun habe ich bei Holz sehr viel über die Evokation des Metaphorischen gelernt, aber einiges auch über das Verhältnis von Metapher und Begriff[3]. Und vor diesem Hintergrund ist mir meine alte Frage um so dringlicher geworden, wo eigentlich bei Marx und Engels, aber auch bei Lenin, diese „Umkehrung“ und „Umstülpung“ auf den Begriff gebracht worden ist[4]. Da ich als Theologe für Philosophen nicht wirklich satisfaktionsfähig bin, kann ich auch gleich etwas zugespitzter fragen, ob nicht gar diese griffige Umkehrungs-Metapher in der gesamten marxistischen Hegel-Diskussion zu einem Interpretationsansatz geführt hat, der das eigentliche Anliegen Hegels verstellt. Aber er ist opinio communis geworden. Auch die imponierenden Interpretationen von Lukács und Bloch sind von ihm geprägt[5]. Und er scheint wie ein Schibboleth zu wirken, das deutlich vernehmbar selbst dann ausgesprochen werden muß, wenn man aus guten Gründen daran zweifelt, daß sich bei Hegel System und Methode separat beerben ließen. Bekanntlich muß man gegen den Strom schwimmen, wenn man zur Quelle gelangen will. Das aber birgt Risiken und Nebenwirkungen, die erheblich sein können, wenn es um Autoritäten wie Marx und Engels geht - und auch um Lenin, wiewohl gerade dessen Hegel-Lektüre von beträchtlichem Gewinn für ein authentisches Hegel-Verständnis ist. Nun ist gegen dieses gigantische Dreigestirn grundsätzlich ja auch überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Aber wenn es um Hegel geht, dann zählen keine vorgesetzten Urteile, schließlich muß man ihn, wie Lenin so trefflich belehrt, wirklich verstanden haben, wenn man Marx verstehen will[6]. Ein Holz-Symposium eignet sich ganz vorzüglich dafür, gegen den Strom zu schwimmen, denn Holz selbst hat das in seinem philosophischen Werk in vielerlei Hinsicht getan. Und er gehört zudem, soweit ich sehe, zu den nicht gerade zahlreichen marxistischen Philosophen, die sich in ihrer Hegel-Rezeption dem System-Verdikt nicht bedingungslos angeschlossen haben. Dafür gibt es aber auch hinreichende Gründe - ebenso wie für die Frage, wie konsistent eigentlich der rationelle Kern der Umkehrungs-Metapher ist. Letzteres läßt sich so einfach gar nicht beantworten, zudem auch beachtet sein will, daß sich Marx und Engels bekanntlich recht unterschiedlich und auch in unterschiedlicher Intensität mit Hegel auseinandergesetzt haben. Während Marx diese Auseinandersetzung mit seiner 1843 verfaßten „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ und mit dem Schlußkapitel der ein Jahr später konzipierten „Ökonomisch-philosophische(n) Manuskripte“ inhaltlich eigentlich schon abgeschlossen hat[7], arbeitet sich Engels noch 30, 40 Jahre später und mit riesigem Aufwand an Hegel ab - gerade so, als wäre mit dem Marxschen Urteil doch noch nicht das allerletzte Wort gesprochen, jedenfalls mit einer anhaltenden Faszination, die ihm noch in unseren Tagen von Oldrini die Kritik einbrachte, er würde - im Unterschied zu Marx[8] - eigentlich nie aufgehört haben mit Hegel zu „kokettieren“ [9] und ihm „zuzuzwinkern“. Ich komme darauf zurück, doch zunächst zu Marx. Ich muß mir leider versagen, den wohlbekannten Passus aus „Die Heilige Familie“ von 1844/45 ausführlich zu zitieren. Er ist so kompakt, daß man ihn eigentlich gar nicht kürzen mag. Und er ist, trotz seiner dichten Diktion, von einer Leichtigkeit, die sich gewöhnlich erst einstellt, wenn ein Problem tatsächlich gelöst ist und eine Kritik pointiert formuliert werden kann. Ich rufe nur wenige Sätze in Erinnerung. Marx schreibt: „Weil Hegel ... Selbstbewußtsein an die Stelle des Menschen setzt, so erscheint die verschiedenartigste menschliche Wirklichkeit nur ... als eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. Eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins ist aber eine ‚reine Kategorie’, ein bloßer ‚Gedanke’, den ich daher auch im ‚reinen’ Denken aufheben und durch reines Denken überwinden kann. In Hegels ‚Phänomenologie’ werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat ... Die ‚Phänomenologie’ endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das ‚absolute Wissen’ zu setzen - Wissen, weil dies die einzige Daseinsweise des Selbstbewußtseins ist und weil das Selbstbewußtsein für die einzige Daseinsweise des Menschen gilt - absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewußtsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird. Hegel macht den Menschen zum Menschen des Selbstbewußtseins, statt das Selbstbewußtsein zum Selbstbewußtsein des Menschen ... Er stellt die Welt auf den Kopf und kann daher auch im Kopf alle Schranken auflösen ... Die ganze ‚Phänomenologie’ will beweisen, daß das Selbstbewußtsein die einzige und alle Realität ist.“[10] Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch mich geniert weniger die gegenständliche Welt, wohl aber, es so direkt sagen zu müssen: Wenn sich die Begeisterung etwas gelegt hat, die von dieser geistreichen Analytik ja ausgeht, dann wird man letzten Endes aber doch zu der ganz nüchternen Feststellung kommen müssen, daß Marx zwar brillant formuliert, aber Hegel nicht wirklich trifft. Die ‚Phänomenologie’ will nicht beweisen, „daß das Selbstbewußtsein die einzige und alle Realität ist“. Im Gegenteil, sie will den Nachweis darüber führen, daß im Selbstbewußtsein nicht weniger als „alle Realität“ versammelt ist, daß es Selbstbewußtsein gar nicht gäbe ohne jene alles umfassende Entwicklung in Natur und Geschichte, daß Selbstbewußtsein nicht einfach da ist - wie bei Kant -, sondern herkommt - und daß dieses Bewußtsein keinen anderen Inhalt hat als den, der ihm voraus ist. In Hegels ‚Phänomenologie’ entdeckt sich der Mensch als Spiegel des Ganzen, und er wird sich bewußt, nichts anderes zu sein als im Ganzen vorliegt. Selbst sein Denken ist nicht autonom und autark, sondern, als Prolongation aller Entwicklung, auf jenen Nomos bezogen, der das Ganze durchzieht. Natürlich ist das alles ganz abstrakt, aber wir werden noch sehen, warum man diese Abstraktion nicht gegen Hegel ins Feld führen darf, wie Marx das ganz massiv in den „Ökonomisch-philosophische(n) Manuskripten“ getan hat. Im letzten Abschnitt, „Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt“[11], fallen auf 20 Seiten 102 Mal die Worte „Abstraktion“, „abstrakt“ - dezidiert pejorativ und irgendwie einfach zu oft. Aber Hegel ist mit diesem Argument nicht beizukommen, wiewohl man Marx’ Kritik sehr wohl nachvollziehen kann, die ja der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz entspringt - ebenso wie seine Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie, mit der gewiß keine proletarische Revolution zu machen ist. Doch das ist ein im weitesten Sinne politisches Urteil. Und nur von dem her läßt sich überhaupt begreifen, warum Marx die ‚Phänomenologie’ als ein „destruktives Werk“ bezeichnen kann, das „die konservativste Philosophie zum Resultat“ habe. Und nur so läßt sich vielleicht auch verstehen, warum er - in der Sprache des reinen Konflikts - über Hegel so erstaunlich ungerechte Urteile fällen kann: für ihn sei „der Denkprozeß ... der Demiurg des Wirklichen“[12]. Und dabei ist es bei Hegel gerade umgekehrt: der Denkprozeß findet in der Wirklichkeit seinen Demiurgen, die Dialektik des Seins konstituiert das Bewußtsein des Dialektischen[13]. Und Hegel ringt in seinem gesamten philosophischen Werk um die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer Verifizierung dieser Identität, die ja nicht einfach vorausgesetzt oder behauptet werden kann, sondern gedacht werden muß, weil sie in ihrer Totalität empirisch nicht ausweisbar ist. Und die wirkliche Anstrengung des Denkens beginnt nun gerade dort, wo das sich selbst denkende Denken zugleich ein Denken des Ganzen ist, das als das Andere seine Vermittlung allein im Denken selbst findet. Marx hat sich auf dieses Denkmodell nie eingelassen. Dafür war wohl auch seine Infragestellung aller herkömmlichen Philosophie, die er mit Feuerbach letztlich als gedachte Religion ansieht[14], zu kategorisch. Und daß er auch Hegel hier ansiedelt, zeigt auch seine 1844 erschienene ‚Einleitung’ zur ‚Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie’, in der mit der Kritik der Religion zugleich auch die Philosophie aufgehoben wird[15]. Lediglich als Anmerkung sei notiert, daß die Apostrophierung der Philosophie als gedachte Religion ihre volle Wahrheit erst zu erkennen geben würde, wenn auch die Umkehrung zugelassen wird, daß nämlich die Religion immer auch eine Form des Philosophierens ist. Die Philosophie als „denkend ausgeführte Religion“, wie Marx sagt, ist nicht weniger als die Kehrseite der Religion als Bilderbuch der Philosophie. Und wenn ich richtig sehe, dann ist es gerade diese dialektische Beziehung, die jedenfalls für Hans Heinz Holz eben auch die Theologie zum Ort philosophischer Reflexion werden läßt[16]. Es formiert sich eben ein sehr eigenes Verständnis von Philosophie, wenn sie so exklusiv auf Religion bezogen wird und also, wie Marx sagt, als „andre Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens ... zu verurteilen ist“[17] - und die Umkehrung gar nicht erst in den Blick kommt, von der her das mit der Religion konnotierte Philosophische zur noetischen Initiation eines Ausbruch aus dieser Entfremdung wird. Wiewohl „das religiöse Elend ... in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“ ist[18], erst das mit der Religion assoziierte Philosophische greift über den bloßen Protest hinaus, indem es in der Anschauung auf Durchschaubarkeit zielt. Engels hat zwar auch recht apodiktisch über die „alte Philosophie“[19] geurteilt, sich aber immerhin mit der Frage auseinandergesetzt, was denn, von Marx her, überhaupt noch als Philosophie gelten könne[20]. Und bezeichnenderweise lautet sein Urteil über Feuerbach ja auch völlig anders: der habe die Philosophie in Religion „aufgehn“ lassen[21]. Ich denke gar nicht daran, Engels gegen Marx auszuspielen, aber wenn es um Hegel geht, dann bekommt die kleinste Differenz Gewicht. Und die ist unübersehbar, denn Engels ‚Dialektik der Natur’ ist doch nicht anderes als ein Kommentar zu Hegel, in dem der Versuch unternommen wird, die „kolossale Fehlgeburt“[22] mit Leben zu erfüllen, das sich nicht im reinen Denken erschöpfen soll. Engels’ zentrale These, in der er die entscheidende Korrektur an Hegel vornehmen will, lautet denn auch: „Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen“.[23] Das ist zwar sehr komprimiert gesagt, aber im wesentlichen richtig. Aber richtig ist nun auch, daß Hegel dem gar nicht widersprochen hätte. Im Gegenteil. Gleich am Anfang der Vorrede zur ‚Phänomenologie’ stellt er selber diesen Naturbezug her in dem trefflichen Bild von der Pflanze in ihrer dialektischen Entwicklung als Knospe und Blüte und Frucht, die sich gegenseitig aufheben in jener Notwendigkeit, die, wie Hegel sagt, „erst das Leben des Ganzen“ ausmacht[24]. Und dieses Paradigma gefiel ihm offensichtlich so gut, daß wir es auch in der „Wissenschaft der Logik“ wiederfinden[25]. Engels hat durchaus bemerkt und auch ausdrücklich angemerkt, daß Hegel, wie er schreibt, „an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht“[26], aber die Hegel in diesem Zusammenhang eigentlich bewegende Frage hat er nicht aufgenommen. Die aber lautet: Wie kann die sinnlich wahrnehmbare dialektische Bewegung in ihrer Verallgemeinerung gedacht werden, wenn mit dieser Verallgemeinerung eine Kategorie ins Spiel kommt, die als das „Ganze“ und also als Kategorie der Totalität und des Absoluten empirisch nicht verifizierbar ist, sondern lediglich als Gedankentotalität festgehalten werden kann. Weil die Dialektik auf den „Gesamtzusammenhang“[27] bezogen ist, die Kategorie des „Gesamtzusammenhangs“ aber immer und notwendigerweise eine Abstraktion bleiben wird und also nur eine dem Denken mögliche Vergewisserung, läßt sich auch die dialektische Logik des „Ganzen“ nur denkend bewältigen. Genau das meint Hegel, wenn er von „Idealismus“ spricht[28]. Aber dieses Idealismus-Verständnis ist zutiefst realistisch[29] und der herkömmlichen Antithetik von „Materialismus und Idealismus“ völlig enthoben. Engels hätte nicht von einem „auf den Kopf gestellten Materialismus“[30] sprechen können, und Lenin hätte Hegel nicht „materialistisch lesen“[31] können, wenn Hegel ein Platoniker gewesen wäre. Auch ein bekennender Materialist wird die Idee des Absoluten notwendigerweise als eine im Hegelschen Sinne „idealistische“ Kategorie verwenden müssen. Und deshalb ist für eine angemessene Hegel-Interpretation die Bezeichnung „objektiver Idealismus“ eigentlich unbrauchbar, es sei denn, wir verstehen darunter die objektive Notwendigkeit, die Kategorie des Absoluten niemals anders denn als Idee formulieren und in diesem Sinne begreifen und also auf den Begriff bringen zu können. Jetzt aber beginnt für Hegel erst das eigentliche Problem. Gerade weil er - im herkömmlichen Sinne - kein Idealist ist, weder einer „Theorie von der Präexistenz der schöpferischen Kategorien“ huldigt, wie ihm Marx unterstellt[32], noch „die Dinge und ihre Entwicklung“ nur für „die verwirklichten Abbilder der irgendwie schon vor der Welt existierenden ‚Idee’“ hält, wie Engels ihm irrtümlich nachsagt[33] - weil er in diesem Sinne gerade kein Idealist ist, kann er weder die Idee des Absoluten noch die absolute Gültigkeit des Dialektischen einfach voraussetzen, transzendental postulieren oder metaphysisch ableiten. Er muß vielmehr nachweisen, daß die absolute Dialektik nicht eine Erfindung des menschlichen Geistes ist, sondern daß der die Dialektik des Absoluten denkende Geist ein Entwicklungsprodukt eben dieser absoluten Dialektik selbst ist. Umfassender läßt sich das Denken gar nicht in den Gesamtzusammenhang von Natur und Geschichte stellen, und das ist gerade das Gegenteil dessen, was Engels bei Hegel meint ausmachen zu können, daß er nämlich die „Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert“[34] hätte. Das geht an Hegel wirklich vorbei; und mit einem solchen Idealismus hätte Hegel auch nie zu seiner Dialektik gefunden, die doch gerade eine Dialektik der Wirklichkeit sein will - einer Wirklichkeit freilich, die dem Subjekt nicht als Objekt gegenübersteht, sondern Objekt und Subjekt beziehungsvoll umgreift. »Das Wahre ist das Ganze.«[35] Und: »Es ist ... ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird.“[36] Nicht das Bewußtsein als solches ist für Hegel also das Entscheidende, entscheidend ist für ihn vielmehr die Frage nach jener werdenden Entsprechung von Sein und Denken, von der her dem Bewußtsein die Erkenntnis wird, daß das dem Sein entsprechende Denken ein dem Denken entsprechendes Sein ist. Von einem Primat des Bewußtseins kann bei Hegel gar nicht die Rede sein, wohl aber davon, daß der subjektive Begriff einen objektiven Gehalt bekommt, daß die Kategorien des Denkens identisch werden mit den Parametern des Seins - doch wohlgemerkt: daß die absolute Gültigkeit dieser Parameter eben allein in den Kategorien des Denkens festgehalten werden kann. Eigentlich hätte auch Marx dem zustimmen dürfen, denn bekanntlich stammt von ihm das schöne Wort von der „Gedankentotalität“[37], bezogen auf den „Gesamtzusammenhang“. Und auch Engels hat N(ota) B(ene) angemerkt, daß der Begriff der Materie eine „reine ... Abstraktion“ sei[38] - und damit in gewisser Weise Lenin vorweggenommen, der den Materie-Begriff von der physikalischen Engführung befreit hat, indem er - statt von „Materie“ - viel präziser und zugleich auch umfassender von der „objektiven Realität“ spricht[39]. Das hätte Hegel goutiert. Denn sein sog. Idealismus ist tatsächlich ein Idealismus der objektiven Realität. Die existiert natürlich auch für Hegel unabhängig vom Menschen, aber sie umfaßt eben auch das Bewußtsein - und ist ohne dieses ohnehin nicht denkbar. Wer Hegel vom Kopf auf die Füße stellt, muß sich damit abfinden, daß man mit den Füßen nicht denken kann. Was Marx den Hegelschen „Mystizismus“ nennt[40], ist so mystisch gar nicht, wenn das Hegelsche Verständnis von „Geist“ in einer Perspektive gesichtet wird, die diesen Begriff selbst dann rational übersetzbar macht, wenn man in der herkömmlichen dualen Konstellation von „Geist und Materie“ denken würde. Für Hegel ist „Geist“ ja keine von der objektiven Realität losgelöste, sondern eine sie bestimmende Kategorie. Eine Kategorie, die die allgemeingültigen Prinzipien des Seins in seiner dialektischen Bewegung und also in seiner Struktur und Organisationsform repräsentiert. Und so gesehen ließe sich - mutatis mutandis - sogar sagen: Für Hegel ist der Geist das Organisationsprinzip der Materie[41]. Daß dieses Organisationsprinzip des Seins schließlich auch das Bewußtsein und also die Struktur und Organisationsform des Denkens - oder wie Engels sagen würde: die „Denkgesetze“[42] - bestimmt und daß mit der dadurch gewordenen Identität von Sein und Denken nun vom Denken auf das Sein Rekurs genommen werden kann, genauer gesagt: auf das übergreifende Organisationsprinzip des Seins (oder wenn Sie so wollen: der Materie) - das ist nun tatsächlich eine apotheotische Erkenntnis, die sich durchaus den Satz leisten darf, in dieser erkannten Identität sei der absolute Geist zu sich selbst gekommen. Den oft wiederholten Vorwurf, Hegel hätte mit diesem grandiosen Finale die Geschichte eigentlich für beendet erklärt, widerlegt der Ausgang der ‚Wissenschaft der Logik’, die „die Idee des vollendeten Guten“ als ein „absolutes Postulat“ für eine Welt begreift, die, wie Hegel betont, „noch“ auseinanderfällt. „Es sind noch die zwei Welten im Gegensatze, die eine ein Reich der Subjektivität in den reinen Räumen des durchsichtigen Gedankens, die andere ein Reich der Objektivität in dem Elemente einer äußerlich mannigfaltigen Wirklichkeit, die ein unaufgeschlossenes Reich der Finsternis ist.“[43] Und Lenin hat in diesem Zusammenhang in seinen unglaublich spannenden Hegel-Konspekten wunderbar lapidare angemerkt, wie dieses Reich der Finsternis aufgeschlossen werden kann: 1. „Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.“[44] 2. Wenn der Mensch, wie Hegel sagt, „eine Gewißheit seiner Wirklichkeit und der Unwirklichkeit der Welt“[45] hat, dann heißt das, so Lenin, „daß die Welt den Menschen nicht befriedigt und der Mensch beschließt, sie durch sein Handeln zu verändern“[46] - und also, und damit möchte ich schließen und doch Marx das letzte Wort lassen: und also „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[47]. [1] Der nachfolgende Text ist identisch mit dem am 2. März 2007 gehaltenen Vortrag; lediglich in den Anmerkungen wurden einige Aspekte aus der Konferenz-Diskussion zusätzlich aufgenommen. [2] Vgl. MEW 21, S. 293 u.ö. [3] Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik, Stuttgart/Weimar 2005, S. 265 ff. [4] Vgl. Anm. 13. [5] Georg Lukács: Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Zürich 1948; Ernst Bloch: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1949. [6] LW 38, S. 94. [7] Es gibt keinen Anhalt dafür, daß das Urteil über Hegel beim „späten Marx“ anders ausfallen würde als beim „jungen“ der sog. Frühschriften; vgl. Anm. 13. [8] Vgl. MEW 23, S. 27. [9] Guido Oldrini, Die Beziehung Marx-Engels in Perspektive, in: Topos 5/1995 (Friedrich Engels), S. 66, 69. [10] MEW 2, S. 203 f. [11] MEW, Ergänzungsband, Teil 1, S. 568-588: [12] MEW 23, S., 27. [13] Marx’ Fehlurteil über Hegel im Nachwort zur 2. Auflage von ‚Das Kapital’ steht in völliger Kontinuität mit seinen früheren Äußerungen. Damit wird aber auch seine Behauptung problematisch, daß seine dialektische Methode „der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil“ sei (MEW 23, S. 27). Das wäre sie aber nur, wenn für Hegel tatsächlich der „Denkprozeß“ „der Demiurg des Wirklichen“ (ebd.) gewesen wäre. Gerade das aber trifft für Hegel in keiner Weise zu. Und so macht es auch gegenüber Hegel wenig Sinn zu betonen: „Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ (ebd.). Damit ist die „Umstülpung“ der Hegelschen Dialekt keineswegs auf den Begriff gebracht, denn Hegel selbst hätte dem, von Feinheiten einmal abgesehen, durchaus zugestimmt; und im Grunde ist die Marxsche Formulierung ja auch nur eine Paraphrase dessen, was Hegel „die Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt“ nennt (‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften’, § 24 = Hegel 8, S. 81 - zitiert wird Hegel nach der 20bändigen Werkausgabe des Suhrkamp Verlags, Frankfurt a.M. 1971). [14] Vgl. MEW, Ergänzungsband, Teil 1, S. 569, MEW 20, S. 481. [15] MEW 1, S. 384. [16] Vgl. Dieter Kraft: Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken von Hans Heinz Holz, in: Christoph Hubig/Jörg Zimmer (Hg.): Unterschied und Widerspruch. Perspektiven auf das Denken von Hans Heinz Holz, Köln 2007, S. 117-140. [17] MEW, Ergänzungsband, Teil 1, S. 569. [18] MEW 1, S. 378. [19] MEW, Ergänzungsband, Teil 1, S. 569. [20] Vgl. MEW 20, S. 24, 129, 480. Eigentlich hat Engels mit seiner Formulierung der philosophischen Grundfrage an die „alte Philosophie“ sogar unmittelbar angeknüpft - und zwar in Inhalt und Form. Jedenfalls fällt auf, daß er kein Problem damit hat, von einem völlig abstrakten „Verhältnis von Denken und Sein“, von „Geist“ und „Natur“ zu sprechen (MEW 21, S. 274 f.). Tatsächlich ist auch für Hegel die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein konstitutiv, aber keineswegs in dem Sinne, in dem Engels die Grundfrage fokussiert. Die „Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?“ (ebd., S. 274) steht außerhalb des subtilen Hegelschen Reflexionshorizontes. [21] MEW 21, S. 283. [22] MEW 19, S. 206; MEW 20, S. 23. [23] MEW 20, S. 481. [24] Hegel 3, S. 12. [25] Hegel 5, S. 146 (Anmerkung). [26] MEW 20, S. 349. [27] Vgl. MEW 19, S. 207. [28] Vgl. Hegel 8, S. 203. [29] Vgl. Hegel 9, S. 438. [30] MEW 21, S. 277. [31] LW 38, S. 94. [32] MEW 3, S. 89. [33] MEW 19, S. 206. [34] MEW 20, S. 348. [35] Hegel 3, S. 24. [36] Ebd., S. 25. [37] K. Marx, Grundriß der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 22. [38] MEW 20, S. 519. [39] LW 14, S. 124. [40] MEW 23, S. 27 [41] Friedrich Kumpf hat kürzlich noch einmal und zu Recht betont (jungeWelt vom 20.02.2007, S. 10): „die These von der Materialität der Welt ... schließt die dialektische Natur der materiellen Welt mit ein. Ihre Einheit ist dialektische Einheit und als solche Einheit von Gegensätzen.“ Problematisch wird es allerdings, wenn Kumpf darüber hinausgeht und schlußfolgert: „Das heißt nichts anderes, als daß Materie ihre eigene Negation, das Geistige, sei es potentiell als Möglichkeit oder aktuell als Wirklichkeit selbstbewußter Lebewesen, in sich einschließt“ (ebd.). Damit wird der Begriff der Materie wieder „materialisiert“ und nicht als jene „objektive Realität“ gefaßt, zu der natürlich auch alles „Geistige“ gehört - und durchaus nicht als „Negation“. Aber wichtiger noch: Als Organisationsprinzip verstanden, ist das „Geistige“ gerade nicht der negierende Gegensatz der „Materie“, sondern das alles Materielle mit- und gegeneinander Strukturierende und Formierende. Materie als objektive Realität schließt kraft der dialektischen Natur der materiellen Welt auch den Widerspruch des „Geistigen“ mit ein. [42] MEW 20, S. 493. [43] Hegel 6, S. 544. [44] LW 38, S. 203. [45] Hegel 6, S. 542. [46] LW 38, S. 204. [47] MEW 1, S. 385. |
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