Barth

Zurück Home Nach oben Weiter

Israel in der Theologie Karl Barths

Ist auch Barth unter den Philosophen?

 

ISRAEL IN DER THEOLOGIE KARL BARTHS

[in: Weißenseer Blätter 3/1982, S. 9-21; leicht veränderte und gekürzte Fassung eines Textes vom Dezember 1972]

Daß unsere Kirchen sich erst so spät, zögernd und moderat zum Völkermord im Libanon geäußert haben - so eilig sie sonst zu allem „ein Wort“ verfassen -, hängt wohl nicht nur mit einer Unsicherheit bei der Überwindung eines ehemaligen Antisemitismus zusammen, sondern auch damit, daß man in der Bekennenden Kirche dem DC-Antisemitismus weniger die Bereitschaft zur Judenemanzipation als vielmehr einen Philosemitismus entgegensetzte, der am Grundübel festhielt: „der Jude“ sei ein Mensch besonderer, außergewöhnlicher Art.

An dieser Weichenstellung war Karl Barth nicht unbeteiligt. Gerade in dieser Frage knüpfte man sehr bewußt an ihn an.

Im Jahre 1967 eröffnete Friedrich-Wilhelm Marquardt die von Helmut Gollwitzer herausgegebenen „Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog“ mit seiner Studie „Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths“. Das Thema „Israel in der Theologie Karl Barths“ greife ich heute noch einmal auf, und zwar durchaus auch im Blick auf diesen sogenannten „Christlich-jüdischen Dialog“, weil er ja wohl spätestens seit den gegenwärtigen Ereignissen im Nahen Osten, also angesichts des durch die herrschenden Kreise in Israel eingeleiteten Genozids an dem palästinensischen Volk und der geplanten Liquidierung der PLO als der einzigen und rechtmäßigen Vertreterin der Palästinenser, in ein Stadium gekommen sein dürfte, das die Fragwürdigkeit so mancher seiner Voraussetzungen drastisch zutage treten läßt. Denn schließlich war eine dieser Voraussetzungen für das Zustandekommen dieses Dialogs die weitgehend beidseitige Bejahung zionistischer Ambitionen, die bei den christlichen Dialogpartnern zumeist von einem nachdrücklichen Philosemitismus getragen waren und in der Konsequenz dazu führten, daß nicht wenige von ihnen sich schon 1967 verteidigend und rechtfertigend vor die Aggression des Staates Israel stellten (vgl. u.a.: H. Gollwitzer, Vietnam, Israel und die Christenheit, München 1967, S. 82 ff.).

Um diesen Philosemitismus auch theologisch zu erhärten und abzusichern, bemühte man sich, sich solcher Autoritäten zu versichern, deren Theologie ebenso wie ihre Biographie bereits als solche entsprechende Beweiskraft zu versprechen schienen. Dabei lag es natürlich nahe, auf Namen zurückzugreifen, die auch hinsichtlich der Judenfrage im „Dritten Reich“ eine außergewöhnlich positive Rolle gespielt hatten. Daß Karl Barth in diesem Zusammenhang alsbald zum Kronzeugen eines theologischen Philosemitismus gemacht wurde, ist also nicht sonderlich verwunderlich. Verwunderlich ist eher, daß Barths Theologie die Argumente für diesen Philosemitismus tatsächlich auch liefert, Doch wie so oft und allenthalben rezipiert man auch hier und heute aus Karl Barths Theologie weniger seine theologischen Erleuchtungen als vielmehr gewisse „Irrlichter“, die mehr dazu angetan sind, vom rechten Wege abzulenken, als wirklich Licht ins Dunkel zu bringen. Und wehe dem Theologen, der dann nicht wie Karl Barth selbst über einen solchen Orientierungssinn verfügt, daß er sich trotzdem nicht im Moor verirrt.

Ich weise nur ungern auf einige neuralgische Punkte in Barths theologischer Verarbeitung der „Israel-Frage“ hin. Denn Barth-Kritik ist heute so billig, daß sogar die theologia naturalis scheinbar unangefochten in mancherlei Spielart fröhliche Urstände feiern kann. Wenn ich dennoch Barths Israel-Konzeption einer kritischen Analyse unterziehe, dann also selbstredend nicht mit der Mentalität der Schadenfrohen oder Beckmesser, die immer schon gewußt haben wollen, daß es Barths Theologie ihrer vorgeblichen christologischen Engführung wegen an christlicher Kulturfreudigkeit gebricht. Ich kritisiere vielmehr in dem Bewußtsein, daß es Karl Barth war, der evangelisch-reformatorische Erkenntnis mitten in der Zeit kulturprotestantischen Abfalls erneuert hat. Dieser Konsens im Entscheidenden erlaubt nicht nur, sondern gebietet geradezu die Auseinandersetzung mit Barth, allerdings im Rahmen dessen, was er selber als evangelisch-reformatorische Erkenntnis unter den Trümmern zusammengestürzter Idealismen gerettet, bewahrt und in die Kirche Jesu Christi weitergegeben hat.

 

I. DIE SYNONYMITÄT VON ISRAEL UND KIRCHE UND DIE IDENTITÄT VON ALTEM UNO NEUEM TESTAMENT

Die Reaktionen auf Barths Kommentar zum Römerbrief von 1919[1] sind bekannt. Sie reichen von begeisterter Zustimmung bis zu feindseliger Ablehnung. Die herrschende protestantische Theologie sah sich kompromittiert und angegriffen. Allen voran zogen die Exegeten gegen Barths theologische Auslegung zu Felde und überschütteten den Systematiker mit textkritischen Vorhaltungen. Nicht zuletzt spielte in diesem Zusammenhang auch die Barth’sche Behandlung der Israel-Frage eine Rolle, gegen die etwa Adolf Jülicher polemisch anmerkte, daß der, „der da im Römerbrief Kirche liest, wo jener (Paulus) Israel schreibt, dem Geist des Paulus stracks zuwiderläuft, zeigt ein Blick auf Röm. 9, 1-5“.[2] Und Adolf Schlatter assistierte dieser Kritik mit dem Vorwurf: „ohne Bedenken wird in Kap. 9 - 11 von der ‚Kirche’ gesprochen. Bleibt das Wort des Paulus noch unverletzt?“[3]

Was war geschehen? Bereits in der 1. Auflage des „Römerbriefes“ egalisiert Barth durchgehend die Begriffe „Israel“ und „Kirche“, und mit dieser Synonymisierung widerspricht er nun auch der Ansicht, das AT gehöre nicht in den Kanon der Kirche, die Kirche habe nichts mit Israel zu tun. Sowohl Vorkämpfer der Judenemanzipation als auch Antisemiten hatten diese These vertreten: Einerseits Schleiermacher und Adolf v. Harnack („das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat: es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte: es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“)[4], andererseits z. B. Paul de Lagarde.

Indem Barth den Römerbrief theologisch und nicht historisch liest, indem er also mit der Wirklichkeit des Wortes Gottes und also auch mit der Wirklichkeit des Volkes Gottes als eines von Gott berufenen wirklich rechnet, kann und muß er sowohl Israel als auch die Kirche in ihrer von Gott her berufenen Wirklichkeit aufeinander beziehen: Israel hat keinen anderen Gott als die Kirche. „Christus ... ist der Christus Israels, der Kirche.“ „Israel ... hat sich außer und neben Christus gestellt. Die Kirche hat den Christus gekreuzigt.“[5] Die Kirche, das ist Israel, Israel, das ist die Kirche. Die theologia crucis befreit Barth dazu, in besonderer Weise sowohl die Unbedingtheit der Berufung des Volkes Gottes wie eben auch dessen ständigen Widerspruch gegen die es ins Leben rufende Gnade zur Sprache zu bringen: Israel kata pneuma und Israel kata sarka gehören zusammen wie das simul iustus et peccator. Dann aber gehören auch die ekklesia kata pneuma und die ekklesia keta sarka zueinander. Und weil dem so ist, verbietet sich die Gleichung: Israel = kata sarka / Kirche = kata pneuma. Israel und Kirche gehören zuhauf. [Anm. der WBl: kata pneuma = dem Geiste gemäß, kata sarka = dem Fleische gemäß; simul iustus et peccator = zugleich gerecht und Sünder; ekklesia = Kirche. Also: Wie jeder Christ im Widerspruch zwischen Gottes Willen („gemäß dem Geist“) und menschlichen Wünschen („gemäß dem Fleisch“) existiert und also „zugleich gerecht und Sünder“ ist, so auch die Kirche ebenso wie Israel. Keineswegs kommt der Kirche allein die Gerechtigkeit und Israel allein die Sünde zu.]

Gerade diese reformatorische Erkenntnis war in der nachreformatorischen Entwicklung weitgehend wieder verlorengegangen und damit zugleich auch das Wissen um die eigentliche und ursprüngliche Not der Kirche: eben nicht Gott und den Menschen dienende, sondern Gott und die Menschen beherrschende Kirche, nicht ecclesia crucis, sondern ecclesia triumphans sein zu wollen. Diese Not der Kirche nun beschreibt Barth im „Römerbrief“ exemplarisch als die Not Israels. In dem Abfall Israels erkennt er den Fall der Kirche - ein Gedanke, der der herrschenden Theologie seiner Zeit zur Provokation werden mußte, denn von vielem wußte diese Theologie - und durchaus auch kritisch - zu sagen, aber daß die Kirche eine „israelitische Not-Kirche“ sein sollte, dieser Einsicht konnte sie sich nicht erschließen - womit sie freilich auf ihre Weise Barths Erkenntnis der Not dieser Kirche nun doch wieder bestätigte.

Die beiden Auflagen des „Römerbriefes“ bedeuten für die Reflexion Israels in der protestantischen Theologie einen Neuanfang. Indem Barth sowohl die Kirche als eben auch Israel konsequent theologisch zu verstehen versucht, zerschlägt er den gordischen Knoten eines historistischen Kirchenverständnisses und integriert so Israel in die Gesamtheit evangelischer Ekklesiologie.

Völlig konsequent übernimmt Barth diesen Ansatz auch in dem ersten Entwurf seiner Dogmatik von 1927[6]. Der Synonymisierung von Israel und Kirche folgt hier die Identifizierung von AT und NT: „Nicht nur von similitudo, sondern von unitas des Alten und Nauen Testamentes ist zu reden“. „Macht man mit dem Begriff der Offenbarung Gottes in Jesus Christus Ernst, dann ist eigentlich nicht einzusehen, wie man dieser Auffassung der alten Kirche, wie man der, um vom Neuen Testament ganz abzusehen, schon im 2. Jahrhundert von Irenäus in vollem Umfang vertretenen Lehre von der Identität der beiden Testamente ausweichen will. Das Alte Testament ist im Unterschied von der ganzen antiken Religionswelt ausgesprochenerweise Zeugnis vom verborgenen Gott, der als solcher der in Israel offenbare ist. Wer dieses Zeugnis nicht gern hört, wer im Neuen Testament einen direkt offenbaren Gott vor sich zu haben meint, wer verkennt, daß der in Christus offenbare Gott kein anderer ist und als kein anderer sich offenbart als eben jener verborgene Gott Israels ..., der wird immer dazu neigen, die Geltung des Alten Testamentes mit Marcion, Sozini, Schleiermacher, Harnack zu bestreiten oder doch irgendwie zu mindern. Die alte Kirche hat dem Zeugnis des Mose und der Propheten die Würde des Offenbarungszeugnisses in aller Form und ungeschmälert zugesprochen, sie hat es als Weissagung auf Christus gedeutet, weil sie jenen Zusammenhang von Offenbarsein und Verborgensein Gottes noch gesehen hat.“[7]

II. DIE „JUDENFRAGE“

Nach dieser theologischen Grundsatzentscheidung ist es nur konsequent, daß Barth sich 1933 kompromißlos gegen die Einführung des sog. „Arierparagraphen“ in die Kirche stellt. Bereits in der ersten Nummer der „Theologischen Existenz heute“ meldet er sich denn auch in dieser Angelegenheit zu Wort: „Die Gemeinschaft der zur Kirche Gehörigen wird nicht durch das Blut und also auch nicht durch die Rasse, sondern durch den heiligen Geist und durch die Taufe bestimmt. Wenn die deutsche evangelische Kirche die Judenchristen ausschließen oder als Christen zweiter Klasse behandeln würde, würde sie aufgehört haben, christliche Kirche zu sein.“[8]

Am 13. November 1933 fand in Berlin die makabre „Sportpalast-Kundgebung“ der „Deutschen Christen“ statt, die Spaltung der Kirche, die Trennung der Juden- und Heidenchristen gleichsam ratifizierend. Und man wird es eben dieser Situation zuschreiben müssen, wenn Barth in einer Predigt vom 10. Dezember 1933 im Universitätsgottesdienst der Bonner Schloßkirche über Röm. 15. 5-13 den Begriff Israel erstmalig enttheologisiert - bzw. mit einem historischen Israel-Begriff die theologische Auseinandersetzung mit den DC aufnimmt und dabei nun betont: „Es ist nicht selbstverständlich, daß wir zu Jesus Christus gehören und er zu uns.“ „Christus gehört zum Volk Israels. Dieses Volkes Blut war in seinen Adern das Blut des Sohnes Gottes. Dieses Volkes Art hat er angenommen, indem er das Menschsein annahm ..., weil Gott mit diesem und nur mit diesem Volk ... einen Bund geschlossen hatte“. „Wir“ sind Mitbürger der Heiligen „nicht von Hause aus“. „Das Heil kommt von den Juden (Joh. 4,22). Jesus Christus war ein Jude. Aber indem er in der Sünde der Juden die Sünde der ganzen Welt, auch die unsrige, getragen und hinweggetragen hat, ist das Heil von den Juden auch zu uns gekommen.“ „Wie sollten wir nicht jedesmal, wenn wir darüber nachdenken, vor Allem an die Juden denken müssen?“ Zwar sagt er noch, die Begriffe ganz theologisch wie bisher füllend: Christus „sieht uns als Juden“. Als Juden „im Streit mit dem wahren Gott und als Heiden im Frieden mit den falschen Göttern, aber er sieht uns auch beide vereint als ‚Kinder des lebendigen Gottes’“. Aber andererseits unterläuft ihm die historisch-ethnische Begriffsfüllung, es gilt: „Der Jude erinnert uns mit seiner Existenz daran, daß wir keine Juden sind.“[9]

Es ist offensichtlich, daß Barth in dieser Predigt die DC mit ihren eigenen Waffen schlagen wollte und deshalb dem faschistischen Gerede vom „deutschen Blut“ und von der „deutschen Art“ die „jüdische Art“ und das „jüdische Blut“ entgegensetzt - und dies mit dem Gewicht einer ihnen eignenden Heilsbedeutung. Und Barth hier den Vorwurf machen zu wollen, in dieser Auseinandersetzung in etwas fragwürdiger oder vielleicht auch nur vorschneller Weise auf das sprachliche Waffenarsenal faschistischer Demagogie zurückgegriffen zu heben, könnte nur demjenigen erlaubt werden, der wie Barth bereits 1933 dem Nazismus - und gerade auch in der sog. „Judenfrage“ - den Kampf angesagt hätte. Die wirkliche Bedeutung der Barth’schen Polemik wäre vielmehr mit dem Hinweis darauf festgehalten, daß sich Barth gegen die Diskriminierung der Juden nachgerade „mit allen Mitteln“ wendet. Dies sollte zuerst und vor allem betont werden, wenn andererseits nun allerdings doch auch gesehen werden muß, daß Barths Israel-Verständnis mit dem Jahre 1933 eine entscheidende Wandlung durchzumachen beginnt: angesichts der Eskalation des Antisemitismus argumentiert Barth zunehmend philosemitisch. Indem er diesen Philosemitismus jedoch zugleich auch in eine theologische Gestalt zu bringen versucht, verfällt sein theologischer Philosemitismus einer objektiven Dialektik, die ihn letztlich vom Zynismus des Antisemitismus kaum noch unterscheiden läßt. 1933 ist dies nur in Ansätzen spürbar, vornehmlich dort, wo Barth völlig unkommentiert eben von „dem Juden“ spricht und damit die entscheidende Prämisse der Antisemiten teilt.

 

III. ISRAEL POST CHRISTUM NATUM

In der „Kirchlichen Dogmatik“ (1932 ff.) widerspiegelt sich die Wandlung des Barth’schen Israel-Verständnisses besonders nachhaltig in KD II,2 (1942). In den vorangehenden Bänden geht Barth auf die Israel-Frage nur am Rande ein. KD I,2 (1938) streift die Israel-Problematik im Zusammenhang der Abhandlung über das AT (S. 77-111): Als „Zeit der Erwartung“ entspricht das AT dem NT als der „Zeit der Erinnerung“; und beide Testamente bleiben bezogen auf die Offenbarung als die „Zeit der Erfüllung“. Diese nur scheinbar formale Bestimmung von AT und NT erfährt bei Barth dann sogleich eine kirchenpolitische Zuspitzung, auf die hin sie geradezu entworfen zu sein scheint. Denn gewiß nicht zufällig schließt Barth das Kapitel über das AT mit der als Schlußfolgerung formulierten Sentenz: „Gerade das Geheimnis der Offenbarung ... schließt die Kirche des Neuen Testamentes unzerreißbar mit dem Volk zusammen, dessen Begnadigung uns im Alten Testament bezeugt ist als Erwartung Jesu Christi. Und eben dieses Geheimnis steht nicht nur trennend, sondern auch verbindend zwischen der Kirche und der Synagoge“. (S. 111) Daß AT und NT zusammengehören, das hatte Barth bereits in der „Christlichen Dogmatik“ mit Nachdruck vertreten. Daß aber auch die Synagoge - also: Israel post Christum natum - und die Kirche in einer spezifischen Verbindung gesehen werden müssen, diese Aussage liegt nunmehr ganz in dem Gefälle der 1933 provozierten Überlegungen. Eine systematische Durchführung dieses Ansatzes findet sich in KD I,2 noch nicht. Auch in KD II,1 (1940) bleibt es diesbezüglich bei teilweise zwar recht pointierten, letztlich aber doch marginalen Äußerungen: so etwa, wenn Barth davon spricht, daß Israel durch das Gericht Gottes nicht völlig vernichtet worden sei, „sondern in irgend einem Restbestand immer wieder erhalten bleibt“. (S. 445)

In KD II,2 (1942) endlich wird das Verhältnis Israel/Kirche thematisiert, und zwar im Rahmen der Erwählungslehre - als erster(!) Abschnitt des § 34: „Die Erwählung der Gemeinde“ (S. 215-336). Bereits diese Oberschrift läßt aufhorchen: Erwählung der Gemeinde . Bisher hatte Barth vom Volke Gottes nie anders als von „Kirche“ bzw. „Israel“ gesprochen, im „Römerbrief“ noch konsequent synonym, später dann zunehmend differenzierend und profilierend. Doch während Barth so, letztlich um der Einheit von Israel und der Kirche willen - historisch gesprochen: um der Abwehr des Antisemitismus willen - differenzierte, blieb die Frage offen, in welcher Weise denn nun Israel ante und post Christum natum zusammenzudenken wären und in welcher Weise denn nun welches Israel (ante? ante et post?) in Beziehung zur Zeit des NT und also auch zur Kirche gesetzt werden müßte. In KD II,2 bietet Barth seine Antwort, und zwar dergestalt, daß er wohl noch die im „Römerbrief“ durchgehaltene Synonymisierung von Israel und Kirche, aber nun auch ihre Differenzierung zur Sprache kommen lassen will. Zu diesem Unternehmen bedarf er freilich eines neuen Oberbegriffes: ihn findet er in dem Begriff „Gemeinde“.

„Gemeinde“, das ist jetzt nicht etwa die Kirchgemeinde, auch nicht die aus Juden und Heiden bestehende Kirchengemeinde, sondern „Gemeinde“ existiert - entsprechend der Einheit und Doppelgestalt Jesu Christi als gekreuzigter Messias Israels und auferstandener Herr der Kirche - „als das Volk Israel (in der ganzen Ausdehnung seiner Geschichte in Vergangenheit und Zukunft, ante und post Christum natum!) und zugleich als die Kirche aus Juden und Heiden (von ihrer Offenbarung an Pfingsten bis zu ihrer Vollendung durch die Wiederkunft Christi)“. (S. 218) „Israel und die Kirche“ sind die beiden Gestalten der erwählten Gemeinde: die beiden Pole, zwischen denen sich ihre Geschichte (in einseitiger Richtung! von hier nach dort!) bewegt, in der Weise, daß sich der Bogen des einen Bundes über das Ganze wölbt.“ (S. 220) Mit diesem Gemeindebegriff gelingt es Barth, sein im „Römerbrief“ expliziertes Israel-Verständnis wieder aufzunehmen und neu zur Geltung zu bringen und zugleich der Existenz Israels - sprich: der Juden - post Christum natum Rechnung zu tragen. Die Konsequenzen dieser föderativen Zuordnung von Israel und Kirche liegen nahe, - schließlich schreibt Barth noch in der Zeit der grausamsten Judenverfolgung: wer auch nur einen dieser Israeliten schmäht oder gar tötet, der schmäht und tötet Gottes ureigenste Kinder; die Kirche, die der Judenvernichtung nicht mit allen Mitteln entgegentritt, sie gar noch  fördert und faktisch selber übt, verübt letztlich Selbstmord!

Es gelingt Barth mit dieser Konzeption, einen theologischen Schutzwall gegen die faschistische und klerikal-nazistische Ausrottungspolitik zu errichten, aber es gelingt ihm nicht, die Erkenntnis des „Römerbriefes“ theologisch festzuhalten, daß nämlich die Einheit von Israel und Kirche die Gleichung „Gericht und Erbarmen“ verbietet. Gerade diese Gleichung aber macht Barth nun in KD II,2 auf: „Diese eine Gemeinde Gottes hat in ihrer Gestalt als Israel der Darstellung des göttlichen Gerichts, in ihrer Gestalt als Kirche der Darstellung des göttlichen Erbarmens zu dienen.“ (S. 215) Der „besondere Dienst, zu dem Israel innerhalb des Ganzen der erwählten Gemeinde bestimmt ist, besteht darin, der Spiegel des Gerichts zu sein“. (S. 227) Weil die Kirche die „vollkommene Gestalt der erwählten Gemeinde“ darstellt (S. 233), weiß sie „nur insofern um des Menschen Elend, als auch Israel - als Spiegel des göttlichen Gerichtes - in ihr lebt“ (S. 227). Im Gegensatz zur Kirche als dem „Spiegel des Erbarmens“ Gottes (S. 231) muß Israel „die der Sünde folgende menschliche Not: des Menschen Schranke und Leid, sein Vergehen und den Tod ... in der Abstraktion exemplarisch darstellen und verkörpern“. „Es muß nun das Dasein einer halb ehrwürdigen, halb grausigen Reliquie, einer wunderlich konservativen Antiquität, der menschlichen Schrulle personifizieren.“ „So straft es sich selbst“ (S. 289).

Verständlicherweise ist gerade gegen diese Passagen heftiger Einspruch laut geworden. F.-W. Marquardt etwa wirft Barth vor, „offenbar ohne Gedanken daran“ gewesen zu sein, „daß er hier von lebendigen Menschen spricht“[10]. Und Th. C. Vriezen wendet gegen Barth ein, eine völlig unzutreffende Gegenüberstellung vollzogen und nicht das „realgeschichtliche Israel“ mit der „realgeschichtlichen Kirche“ verglichen zu haben[11]. Beide Einwände aber treffen nicht wirklich die von Barth gemeinte Sache. Denn natürlich weiß Barth - und er besonders und vor allem nur zu gut - um die realgeschichtliche Not der realgeschichtlichen Kirche. Gerade deshalb aber hält er eben dieser Kirche, die unter der Herrschaft des Faschismus nahezu auf ganzer Linie versagt und sich allzu nachgiebig und weithin sogar bereitwillig dem Diktat des Bösen beugt, das Bild der von Gott gewollten Kirche entgegen: Wenn die Kirche der „Spiegel des Erbarmens“ Gottes ist, dann kann sie nur unter Preisgabe ihres Kircheseins die Juden erbarmungslos aus ihrer Mitte verstoßen! Und natürlich weiß Barth auch, daß er hier von lebendigen Menschen spricht, gerade deshalb spricht er so und nicht anders. Denn ihm liegt ja nun alles daran, dieses geschmähte und verfolgte Israel post Christum natum gerade in seiner angeblichen „Wunderlichkeit“ und „Schrulligkeit“ ins Recht zu setzen: Wer an dieser „Antiquität“ Anstoß nimmt, dem ist das eigentliche Ärgernis nicht der Jude, sondern Gottes „Spiegel des Gerichts“!

Wirklich und in hohem Grade problematisch sind vielmehr die Konsequenzen, die sich aus der Barth’schen Apologie ergeben. Und es scheint, als würde Barth eben diese Konsequenzen selber fürchten, wenn er an einer Stelle abwehrend betont: „Man dürfte also nicht etwa das Volk der Juden die ‚verworfene’, die Kirche die ‚erwählte’ Gemeinde nennen“ (S. 219 f.). Aber wenngleich auch „Gegenstand der Erwählung ... weder Israel für sich, noch auch die Kirche für sich, sondern beide in ihrer Einheit“ sind (S. 220), „Spiegel des Gerichts“: exemplarische Verkörperung und Personifizierung des menschlichen Elends, der Not und des Todes bleibt Israel - „in der ganzen Ausdehnung seiner Geschichte in Vergangenheit und Zukunft“ (ebd.). Und wen sollte es dann eigentlich noch verwundern, wenn dieses Israel - in gewissem Sinne ja durchaus auch exemplarisch! - in den Gaskammern von Auschwitz zum wiederholten Male seinen Tod findet?!

Es ist wohl keine Frage, daß Barth diese Logik nicht zugelassen hätte. Er hat sie aber auch nicht widerlegt. Im Gegenteil. Seine spätere Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus bestätigt die Plausibilität dieser Logik vielmehr in einer durchaus fatal zu nennenden Weise.

 

IV. DER EWIGE JUDE

Führt Barth die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der KD zunächst indirekt und theologisch, so widmet er in KD III,3 (1950) diesem Problem ein spezielles Kapitel: „Die Geschichte der Juden“ (S. 238-256).

Die „eigentliche Geschichte der Juden“ setzt für Barth mit dem Jahre 70, mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels ein, gleichsam als die „negative Seite des Heilsereignisses des Todes Jesu“, „nachdem in merkwürdiger Bedeutsamkeit rund 40 Jahre - wie eine letzte Gnaden frist ... - seit dem Tode Jesu vergangen waren“ (S .239). Diese „negative Seite des Heilsereignisses habe nun aber gerade nicht das Ende der jüdischen Geschichte bedeutet, sondern: „Die Juden ... sind aller Zerstreuung, aller Verfolgung und vor allem aller Assimilation ... zum Trotz immer noch, immer wieder da gewesen. Und wie wirksam und wie sichtbar! Ein geschichtliches Sonderelement, ein unter den anderen geschichtlichen Elementen sich behauptendes und in seiner Art sich durchsetzendes Ferment ...! Es fehlte wirklich nur noch, was wir in unseren Tagen erlebt haben: daß die Juden ... nun auch wieder in Palästina leben“ (S. 239f.). „Aber ... da redet man ... von ‚den Juden’ und kann, genaugenommen, in keiner Weise sicher angeben, wer und was damit eigentlich gemeint ist. Daß sie eine Menschenrasse für sich bilden, ist, selbst wenn man diesen zweifelhaften Begriff überhaupt zulassen will, bestimmt nicht zu beweisen.“ „Es gibt aber auch keine den Juden als Juden kennzeichnende Sprache“ (S. 241). Das Judentum ist ... auch längst nicht mehr durch eine gemeinsame Religion als Judentum gekennzeichnet.“ „Es ist aber schließlich auch der Begriff einer Geschichte der Juden ... ein sehr problematischer“. „Was sich seit dem Jahre 70 ereignet hat, das sind sehr verschiedene und unter sich nicht zusammenhängende Geschichten von Juden“ (S. 242). Dessen eingedenk „ist die scheinbar abwegige Frage: ob die Juden überhaupt ein Volk seien ... nicht unberechtigt, jedenfalls nicht unmöglich.“ Aber dennoch: die „Juden sind da, wirklich und erkennbar, und daß sie ein Volk sind, ist angesichts dieser Tatsache sicher nicht einfach zu bestreiten.“ „Es scheint der im Jahre 70 festgelegte Charakter der Geschichte dieses Volkes gerade darin zu bestehen, daß es ... nun gerade so - vom allgemein bekannten Sinn des Begriffes Volk her: gerade als Nicht-Volk - in einer beispiellosen Weise weiter existieren, eine streng genommen geschichtslose Geschichte haben muß - die Geschichte eines Gastes, eines Fremdlings, eines Unbekannten, eines Sonderfalles unter allen Völkern, der ‚ewige Jude’ vielleicht doch sein sagenhaftes Urphänomen“ (S. 243).

Der „ewige Jude“! Barth kann durchaus - wie nicht zu übersehen ist - leider auch geschichtsphilosophisch und spekulativ reden, obgleich er aus dieser Quelle keine Antworten erwartet, sondern theologisch argumentiert, wenn es darum geht, den Grund dieser scheinbar unbegreiflichen Fortexistenz der Juden namhaft zu machen. Und dieser Grund besteht nach Barth nun darin, „daß Gottes Ratschluß in der Erwählung gerade dieses Volkes, in seiner Verbindung gerade mit ihm ein ewiger, ein unbeweglicher Ratschluß ist“, „in Jesus Christus nicht aufgehoben, sondern erfüllt“ (S. 246 f.). Diese für Barth nicht gerade typische Verquickung von geschichtsphilosophischer Spekulation und theologischer Reflexion erfährt prompt eine Verdichtung, die sich der Grenze einer für Barth nun ganz gewiß untypischen geschichtstheologischen Perspektive auffallend nähert und sie vielleicht sogar überschreitet. Denn nun fährt Barth fort: „Was soll eigentlich der ‚Antisemitismus’ - nur und gerade gegen diese ‚Semiten’ gerichtet - diese seltsame Krankheit, die so ziemlich jeder Nicht-Jude in irgend einer Form in sich zu tragen scheint, die plötzlich ganze Massen in Bewegung setzen und so scheußlich zum Ausbruch kommen kann, ... die dann wieder unterdrückt und vergessen werden mag, um irgend einmal, wie einst die Pest, doch wieder aufzubrechen?“ „Warum reagieren alle anderen Menschen auf die Eigenschaften dieses Volkes, als ob sie etwas Besonderes wären? Ist es nicht, wie wenn die Rätselhaftigkeit des jüdischen Wesens an dieser Stelle gewissermaßen auch auf die anderen Völker abfärbt, ein völlig rätselhaftes Verhalten nun auch ihnen aufnötigte?“ (S. 249) „Man kann ... den Antisemitismus schon nur als eine Krankheit verstehen. Man kann ... nicht leugnen, daß die Menschheit an dieser Krankheit tatsächlich leidet und man muß wohl feststellen, daß man sie mit all den vernünftigen und moralischen Argumenten ... nicht beseitigen kann“ (S. 249 f.). Denn: „uns verdrießt es - ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, tut nichts zur Sache... - daß wir in ihnen (sc. den Juden), in ihrer Art, unsere eigene Art vorgehalten bekommen und nur zu gut wiedererkennen.“ Im „Juden kommt es an den Tag und wird es allen anderen Menschen wie im Spiegel vorgehalten, ... wie schlimm wir alle sind“ S. 250).

Das also ist - nach Barth - der Grund der „ursprünglichen unüberwindlichen Abneigung“, die alle Menschen, alle Völker dem Juden entgegenzubringen scheinen. „Der Jude steht vor unser Aller Augen da als das, was jeder Mensch im Grunde ist. Im Juden ist der Ur-Aufruhr, der Unglaube, der Ungehorsam, in dem wir alle begriffen sind“, offenbar. „Und darum freut er uns nicht. Darum möchten wir ihn aus den Augen haben.“ Darum macht man ihn „immer noch schlimmer“, als er ist (S. 251). Doch weil die Juden „Gottes erwähltes Volk sind, müssen sie vor aller Augen so dastehen, und weil ihre Erwählung des Urbild der Erwählung aller Völker, der der ganzen Menschheit ist, darum kann und wird dieser Spiegel nicht weggenommen werden, darum müssen alle Menschen immer wieder in diesen Spiegel blicken „und sehen, wie sie selbst dastehen...“ (S. 252).

Diese hier von Barth abgegebene Diagnose des Antisemitismus nimmt sich, gelinde gesagt, höchst änigmatisch aus - und dies um so mehr, als Barth sie doch gerade gegen den Antisemitismus ins Feld führen will. Doch kann man sich - nun gerade euch eingedenk des Barth’schen Philosemitismus - kaum des Eindrucks erwehren, daß mit einer solchen Definition des Antisemitismus - das Bild sei an dieser Stelle einmal erlaubt - der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden soll. Denn wenn der Antisemitismus eine solche „ursprüngliche unüberwindliche Abneigung“ des Menschen gegenüber dem „jüdischen Wesen“ ist, wenn er ein für allemal und unausrottbar eine „Krankheit“ zum Tode ist, wenn in ihm das Wesen des Nicht-Juden (= des Menschen?) zum Ausbruch kommt, zwangsläufig, unaufhaltsam, notwendig... - wenn dem wirklich so wäre, dann wehe den Juden, die Auschwitz überlebt haben, denn irgendwann wird diese Krankheit zum Tode auch sie heimsuchen - wie eine Pest. Verständlicherweise sogar! Denn ist es nicht nur recht und billig, wenn der Mensch den Spiegel zerschlägt, indem er seinen eigenen „Ur-Aufruhr“ erblicken muß?! Muß nicht der Mensch den Juden hassen, wenn er doch in diesem Juden gerade das haßt, was er an sich selber verabscheut?! Und so weiter. Doch besser nicht!

Man wird Barth hier kaum den Vorwurf ersparen können, gegen seinen Willen mit seiner Interpretation des Antisemitismus mehr zu dessen Verewigung beigetragen zu haben als zu seiner Überwindung. Und man wird zugleich auch fragen müssen, ob sich Barth in dieser seiner Exegese mehr von biblisch-theologischen Erkenntnissen hat bestimmen lassen oder von spekulativen anthropologischen und existentialistischen Vorgaben. Die strukturelle Verwandtschaft zur Existentialphilosophie ist jedenfalls handgreiflich: bei Barth wird der „Jude“ zu einer Art „existentiellem Erlebnis“, durch das der Mensch auf seine „Eigentlichkeit“ gewiesen wird, auf das, wie Barth sagt, was er „im Grunde ist“ (S. 251). Das Kompendium existentieller Erlebnisse (Heidegger: der Vorlauf zum Tode: Sartre: der Ekel: Marcel: das Mysterium; Jaspers: die Grenzsituationen: Bollnow: die Ungeborgenheit etc.) erfährt durch Barth solchermaßen eine fragwürdige Bereicherung. Die auffälligste Affinität dürfte dabei zu Sartres „Ekel“ bestehen, denn auch der „Jude“ wirkt ja - wie Barth ihn darstellt - in einer ganz bestimmten existentiellen Weise ekelerregend - mit dem Unterschied vielleicht, daß zu der rein subjektiv verstandenen Kategorie Sartres bei Barth nun noch eine geschichtstheologische Komponente hinzutritt und eben in dieser Gestalt Anlaß zur Reflexion des „Ich“ wird. An Camus „Sisyphos“ hingegen erinnert die „Unausweichlichkeit“ dieser Begegnung, das ‚Nichtsandersübrigbleiben’. Die Menschen „müssen immer wieder an diese Stelle zurückkommen, wie ein Verbrecher an den Ort seines Verbrechens“ (S. 252). Wie für Sisyphos. so gibt es auch für Barths Menschen Augenblicke, in denen diese Unausweichlichkeit „vergessen werden mag“ (S. 249), um jedoch in zyklischer Kontinuität dann um so gewaltiger wieder aufzubrechen. Meinte Barth in KD III,2 (1948) Jaspers Lehre von den „Grenzsituationen“ bescheinigen zu können, „der genuin christlichen Erfassung und Beurteilung des Menschen ... mindestens nahe zu kommen.“(S. 133), so könnte jetzt ihm bescheinigt werden, der existenzphilosophischen Erfassung und Beurteilung des Menschen einen gewagt hohen Tribut gezahlt zu haben.

Die Barth’sche Konfrontation des Menschen mit dem Juden (welch merkwürdige Gegenüberstellung!) müßte zwangsläufig immer wieder nach Auschwitz führen. Und es scheint wirklich Barths Angst vor dieser Konsequenz zu sein, die ihn in einer besonderen Weise nun auch für den Zionismus einnimmt. Denn natürlich muß Barth ja nun befürchten, daß der Antisemitismus auch nach der Zerschlagung des Faschismus irgend einmal wieder aufbricht. Und wehe dem Juden, der dann nicht hinter der schützenden Grenze eines Staates Israel lebt, im Schutz eines Staates, der seinen Existenzbeweis „heute in einer so unheimlichen Ähnlichkeit mit den im Alten Testament bezeugten Situationen“ (KD III,3 S. 247 f.) angetreten hat!

Über den Staat Israel kann Barth denn auch begeistert und nahezu euphorisch schreiben: „Er hatte in kürzester Zeit schon höchst beachtliche kulturelle, diplomatische und wider alles Erwarten auch militärische Leistungen aufzuweisen. Er scheint, was man gewiß nicht von allen Staaten sagen kann, eine begeisterte und aufopferungsfähige Jugend hinter sich zu heben. Man kann seine Existenz von keiner Seite her mehr ignorieren oder bagatellisieren. Und das alles, indem seine Träger in auffallender Weise eben die Eigenschaften aufweisen, die die Juden schon zur Zeit Jeremias und dann wieder in der des Judas Makkabäus, die schon die Verteidiger Jerusalems gegen Titus, die einen Bar-Kochba und ähnliche Gestalten ferner, jüdischer Vergangenheit ausgezeichnet haben. Da sind sie wieder, da sind sie noch: sie, dieser merkwürdige, repräsentierende Rest von Israel“ (S. 240).

Zwar spricht Barth nicht ausdrücklich von der Verheißung einer „zweiten Landnahme“, aber von eben solchen zionistischen Ansprüchen unterscheidet sich seine Sicht des Staates Israel offensichtlich nur wenig. Jedenfalls kommt dem Staat Israel bei ihm eine religiöse Dimension zu (um bewußt einmal diesen unscharfen Begriff für eine letztlich eben auch unklare Sache zu nehmen), die so nur nach Maßgabe einer bestimmten geschichtstheologischen Metaphysik möglich wird. Daß Barth in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Tat von seinem offenbarungstheologisch geprägten Christozentrismus weitgehend abrückt, wird vor allem auch an der von ihm vorgenommenen theologischen Qualifizierung der Juden offenkundig. In seiner Erwählungslehre wurde Barth nicht müde, immer wieder zu betonen, daß die Erwählung des Menschen seine Erwählung in Jesus Christus ist, daß die Erwählungslehre „in der Erkenntnis Jesu Christi begründet ist, weil dieser der erwählende Gott und der erwählte Mensch in Einem ist“ (KD II,2, S.1). Jetzt aber kann Barth auf einmal von den Juden, dem „Urbild der Erwählung aller Völker, der ganzen Menschheit“ (sic!) (KD III,3, S.252) sagen „was die Menschheit ist im Lichte göttlicher Erwählung und Berufung, wie der Mensch dasteht als Gegenstand von Gottes freier Gnade, ... diesen ganzen Schatten der Bundes- und Heilsgeschichte und ihrer Vollendung verkörpern und offenbaren eben die Juden“ (S. 248). Und keine Rede mehr davon, daß der „Gegenstand der Erwählung ... weder Israel für sich, noch auch die Kirche für sich, sondern beide in ihrer Einheit“ seien (KD II,2, S. 220). Gewiß, die Juden haben sich ihrer „Erwählung von Anfang an als unwürdig erwiese“ (KD II,3, S.248), doch als Spiegel dieser Unwürdigkeit widerspiegeln sie nun aller Menschen Unwürdigkeit, und „alle Menschen“ müssen „immer wieder in diesen Spiegel blicken“ (S. 252). Wohin diese heimliche Selbstbespiegelung nach Barth schließlich führt, ist wohl hinlänglich genug deutlich geworden. Aber es ist Barth selbst, der hier noch einmal betont: „Es kostet etwas, das erwählte Volk zu sein, die Juden bezahlen, was es kostet“ (S. 248). Wohin eine solche Vermischung von Theologie und spekulativer Geschichtsontologie (oder wie sollte man dieses ganze Unternehmen bezeichnen?) schließlich führen muß, dürfte ebenfalls erkennbar sein - und nicht nur daran, daß sich nunmehr unter Berufung auf Barth der Satz von der Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz mutatis mutandis umkehren ließe in den Satz von der Erkenntnis der Sünde beim Anblick eines Juden. Und das ist nicht nur komisch. Und nachgerade tragisch ist es, beobachten zu müssen, wie aus Barths theologischem Philosemitismus unter der Hand - aber durchaus eben nicht zufällig! - dem Antisemitismus sogar eine gewisse Rechtfertigung erwächst.

Den Antisemitismus zu bekämpfen, das sollte sich heute von selbst verstehen, Den Philosemitismus als den freundlichen Doppelgänger des Antisemitismus zu enthüllen, das dürfte auch für die theologische Diskussion noch eine Aufgabe bleiben. Den vom Philosemitismus begünstigten Zionismus radikal zu verwerfen, das aber ist angesichts der israelischen Massaker im Libanon ein Gebot der Stunde.


 

[1] K. Barth, Der Römerbrief, Bern 1919, München 1922 (2. Aufl.).

[2] A. Jülicher: Ein moderner Paulus-Ausleger. In: Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I, hrsg. von J. Moltmann, München 1962, S. 96.

[3] A. Schlatter: Karl Barths „Römerbrief“. In: ebd. S.144.

[4] A. von Harnack: Marcion, Leipzig 1924 (2. Aufl.), S. 217.

[5] Der Römerbrief, 1919, S. 267 und 269.

[6] Die christliche Dogmatik im Entwurf. Bd. l: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur Dogmatik, München 1927.

[7] Ebd., S. 240f.

[8] In: Gottes Freiheit für den Menschen. Eine Auswahl, hrsg. von G. Kulicke, K. Matthiae, P.-P. Sänger, Berlin 1970, S. 164.

[9] Theologische Existenz heute. H.5, München 1933, S.13f., 16f., 14.

[10] F.-W. Marquardt, Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths, München 1967, S. 334.

[11] Th.C. Vriezen, Die Erwählung Israels nach dem Alten Testament, Zürich 1953, S. 111, Anm. 1.

 

 

IST AUCH BARTH UNTER DEN PHILOSOPHEN?

[in: Weißenseer Blätter 3/1983, S.16-18]

Wie Saul unter die Propheten geriet, ist bekannt. Bekannt wurde auch die Reaktion seiner Freunde und Bekannten: Verwunderung.

Wie Karl Barth in das 1982 Im Berliner Dietz Verlag erschienene Philosophenlexikon geraten konnte, das bleibt (vorerst) ein Geheimnis seiner Herausgeber. Verwunderung aber könnte auch hier eine der möglichen Reaktionen sein, es sei denn, die Definition von „Philosophie“ braucht nicht so eng gefaßt zu worden, daß nicht auch Karl Barth und seiner „Weisheitsliebe“ ein Plätzchen eingeräumt werden könnte. Jedenfalls findet er sich mit Anselm, Augustin, Thomas, Hus, Luther, Komenský, Schleiermacher und anderen unter durchaus approbierten Kollegen, deren Runde freilich recht willkürlich zusammengestellt erscheint.

Denn warum hier Calvin fehlt (oder auch Zwingli) ist wenig einsichtig. Und die Erwähnung Rudolf Bultmanns kann wohl kaum für das Arkanum über Wyclif entschädigen. Und wenn man auch - aus guten reformatorischen Gründen - Melanchthon nicht höher schätzt als Luther, in einem Philosophenlexikon ist jener doch weit authentischer als dieser... Die Kriterien der Auswahl werden nicht deutlich. Doch soviel kann dem Philosophenlexikon entnommen werden: für die Aufnahme von Theologen hat nicht primär die Tragfähigkeit ihres theologischen Erbes für verantwortliche Weltgestaltung im Heute den Ausschlag gegeben. Sonst nämlich dürfte der Name Dietrich Bonhoeffer keinesfalls fehlen. Der Verfasser des Barth-Artikels (S.71-74) ist sogar ausdrücklich darum bemüht, jedweden inneren Zusammenhang zwischen Theologie und Weltverantwortung in Abrede zu stellen. So habe sich Barth zwar gegen die „christliche Rechtfertigung gesellschaftlicher Zustände das Imperialismus“, mithin auch gegen „Monarchie, Kapitalismus, Militarismus und Nationalismus“ gewandt und sich dabei „auf die Seite der Linken“ gestellt (S.72), doch: „Diese Haltung folgt nicht aus seiner Theologie, und so waren tatsächlich viele theologische Anhänger B(arth)s Vertreter der Rechten (z.B. Gogarten).“ (S.72 f.)

Diese These ist überraschend - und dies gleich in mehrfacher Hinsicht.

ERSTENS: In der Tat, Gogarten war ein Vertreter der Rechten, der den deutschen Faschismus theologisch sanktionierte. Aber: Zum Faschisten wurde er doch, indem er sich zugleich auch theologisch von Barth entfernte! (Vgl. den interessanten Aufsatz von Christian Stappenbeck: Dialektische Theologie und Nachkriegskrise. Unterschiede beim Aufbruch Karl Barths und Friedrich Gogartens, In: Die Zeichen der Zeit 1/1980, S. 10-15). Gogartens Verrat an der Humanität korrespondierte ja gerade seinem theologischen Dissidententum, womit sich - vice versa - für Karl Barth doch wenigstens die Frage nahelegen sollte, ob nicht sein konsequenter Antifaschismus seinem konsequenten Festhalten an der Offenbarungstheologie entsprochen haben könnte?! (Leider fehlt in dem Literaturhinweis des Barth-Artikels das - im Gegensatz zur angeführten Barth-Monographie von G. Casalis auch in der DDR erschienene - wirklich wichtige Buch von Eberhard Busch „Karl Barths Lebenslauf“, das u.a. auch Barths Auseinandersetzung mit Gogarten umfassend reflektiert; und es fehlt allerdings auch ein Hinweis auf die von Barth begründete Reihe „Theologische Existenz heute“, deren theologisch-politische Brisanz den Blick für die Interdependenz von Barthscher Theologie und Weltverantwortung beträchtlich weitet.)

ZWEITENS: Der Verfasser das Barth-Artikels hebt hervor, daß Barth „zum Vater der Bekennenden Kirche in Deutschland“ wurde (S. 72). Das ist richtig. Und es stellt sich damit erneut die Frage, was Barth denn nun zu dieser Vaterschaft qualifizierte. Wenn der Kampf gegen den Faschismus „nur aus B(arth)s persönlicher politischer Entscheidung zu verstehen“ wäre (S. 72), dann wäre eigentlich nicht mehr zu verstehen, wie die an Barth orientierte Bekennende Kirche gerade in ihren theologischen Entscheidungen (Barmen) in einem Maße objektiv antifaschistisch wirksam werden konnte, das dem subjektiven politischen Widerstandsbewußtsein ihrer einzelnen Vertreter in der Regel voraus war. Sicher wirkte auf die BK auch Barths „persönliche politische Entscheidung“ gegen den Faschismus, aber mit dieser allein hätte er nicht zum „Vater der BK“ werden können, wenn nicht seine Theologie zur „Mutter der BK“ geworden wäre. Und die Geschichte der BK belegt, daß sich auch das (subjektive) Widerstandsbewußtsein gerade bei denjenigen Vertretern der BK am deutlichsten profilierte, die am konsequentesten an der dialektischen Theologie Barths festhielten.

DRITTENS: Der Verfasser des Barth-Artikels schreibt über Barth von der Position des historischen und dialektischen Materialismus her. Vom historischen und dialektischen Materialismus kann man u.a. lernen, daß der sogenannte ideologische Überbau einer gesellschaftlichen Basis entspricht und daß die Konkretionen jener Basis ihre Widerspiegelung in diesem Überbau finden. Die Theologie (Religion) gehört nach marxistischer Erkenntnis ebenso zu diesem Überbau wie die Politik, die Kultur und das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein überhaupt. Die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Basis in den verschiedenen Bewußtseinskategorien des Überbaus erfolgt mit unterschiedlicher Intensität und Transparenz. (In ihrer staatlichen Friedenspolitik widerspiegelt sich der Charakter der sozialistischen Gesellschaft natürlich authentischer als z.B. in Ihrer Schlagerindustrie.) Der dialektische Prozeß der Widerspiegelung der Basis im Überbau ist deshalb zugleich auch ein dialektischer Prozeß der Widerspiegelungs-Vermittlung innerhalb der Einheit unterschiedlicher Überbaufaktoren. In welcher Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit Eingang in die theologische Reflexion findet, dürfte vornehmlich von dem gesellschaftspolitischen Bewußtsein abhängen. Damit aber besteht ein innerer Zusammenhang zwischen Theologie und gesellschaftlichem Bewußtsein, und es wäre nun - von hierher! - zu fragen, ob nicht aus Barths Theologie deshalb „notwendig“ die Ablehnung einer antihumanistischen Politik folgt, weil sich diese Theologie selber gerade auch der Vermittlung politischer Humanität verdankt.

Barth reflektierte diesen Zusammenhang im Blick auf das „ethische Versagen“ seiner theologischen Lehrer beim Ausbruch das ersten Weltkrieges, das ihm zeigte, „daß auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten“. Angesichts des „schrecklichen Manifeste der 93 deutschen Intellektuellen“, unter dem auch die Namen bekannter deutscher Theologen standen, „kam damit und mit dem, was man damals von den deutschen Theologen sonst zu lesen bekam“, „eine ganze Welt von Exegese, Ethik, Dogmatik und Predigt, die ich bis dahin für grundsätzlich glaubwürdig gehalten, … hatte, ... bis auf die Grundlagen ins Schwanken“ (zitiert nach E. Busch, a.a.O., S. 81f.)

Nach dieser politischen Erfahrung entwickelte Barth seine theologischen Konzeptionen, mit denen er freilich nicht eben zum „Begründer“ der Offenbarungstheologie wurde - wie der Verfasser des Barth-Artikels meint (S. 72) -, die er aber auf die evangelisch-reformatorische Offenbarungstheologie zurückführte.

VIERTENS: Bestreitet der Verfasser des Barth-Artikels einerseits den inneren Zusammenhang zwischen Barths theologischer und politischer Existenz, so könnte der Leser nun allerdings doch den Eindruck gewinnen, es wäre für diesen Verfasser durchaus eine Theologie denkbar, die einen solchen Konnex herzustellen in der Lage ist. Denn schließlich wird über Barth gesagt: „Einerseits lehnte er Imperialismus, Militarismus und Nationalismus ab, wies aber andererseits von seiner Theologie aus keinen Weg zum wissenschaftlichen Kommunismus.“ (S. 72) Ganz abgesehen davon, ob dieser Satz wirklich völlig richtig ist (der Verfasser betont schließlich selbst sehr nachdrücklich die von ihm bei Barth gesehene Trennung von Gott und Welt, die ja immerhin doch auch zu einer Bejahung eines wissenschaftlichen Weltbildes führen könnte!), irritierend ist er schon deshalb, weil der sachunkundige Leser auf den Gedanken gebracht werden könnte, es sei halt nur B a r t h s Theologie nicht in der Lage gewesen, diese gewünschte Leistung zu erbringen.

Und so zeigt sich nach und nach und alles in allem, daß es vielleicht doch stimmiger gewesen wäre, Barth eben nur dort vorzustellen, wo es auch für ihn authentischer geblieben wäre: in einem Theologenlexikon.