Krieg&Frieden

Zurück Home Weiter

IV. KALTER WELTKRIEG UND DEUTSCHER NATIONALFRIEDE

DIE MUTATION DER FRIEDENSFORSCHUNG

Friedensforschung oder Kriegsvorbereitung

NATION IN GESCHICHTE UND GEGENWART

Über alte Ansprüche und »neue Rechte«

OB MIT ODER OHNE NATION

In jedem Falle aber für die PDS

LEGENDENSCHREIBUNG

Der 9. November im Zerrspiegel bundesdeutscher Historiographie

KALTER KRIEG UND EISKALTE KRIEGSLIST

Das Trojanische Pferd der »Entspannungspolitik«

FRIEDENSBEWEGUNG IN DER KRISE?

Der Punkt, an dem die Beliebigkeit aufhört

FRIEDENSPOLITISCHER RATSCHALG

»Deutschlands Großmachtambitione und die Lage der Friedensbewegung«

DIE MUTATION DER FRIEDENSFORSCHUNG

Friedensforschung oder Kriegsvorbereitung

[in: Neues Deutschland, 5. bis 10. 10. 1994 (Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1994), S. 12]

Dieter Senghaas: Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1994, edition suhrkamp 1916 NF 916

Mit seinem jüngsten Buch hat der Bremer Friedensforscher D. Senghaas wieder einmal mehr gezeigt, wie dringend notwendig eine analytische Gesamtsicht globaler Prozesse und internationaler Entwicklungen am Ausgang des 20. Jh.s geworden ist. Und eben darin besteht denn wohl auch das eigentliche Verdienst dieser Publikation, die darüber hinaus mehr Fragen aufwirft als sie beantworten kann. Letzteres wahrscheinlich auch deshalb, weil S. seine »Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung« methodologischen Prämissen unterwirft, die zwar den Blick auf das Ganze schärfen, zugleich aber jene Unschärfe fördern, die sich einstellt, wenn das Ganze eben nur noch als allgemeine Struktur begriffen wird, ohne zu begreifen, daß sich Strukturen nicht unter Ausblendung ihrer strukturprägenden Inhalte bestimmen lassen. Die Frage nach den Perspektiven einer friedlichen Koexistenz zwischen den Staaten der kapitalistischen Welt läßt sich eben nicht allein im Blick auf das Maß ihrer wirtschaftlichen Verflechtung beantworten. Maßgeblicher als diese dürfte wohl sein, ob der Kapitalismus überhaupt friedensfähig ist.

Auch S. hat hier offensichtlich einige Zweifel, auch wenn er sie nicht ausdrücklich thematisiert. Jedenfalls hält er es nicht für prinzipiell ausgeschlossen, daß selbst die westeuropäische Integration in eine neue Konfrontation umschlagen könnte, ganz abgesehen von den Unwägbarkeiten der weltmachtpolitischen »Triade« USA-Westeuropa-Japan und dem Kampf um die als »Neuordnung« etikettierte Neuaufteilung der Welt in entsprechende Interessengebiete. Im Grunde müsse man mit allem rechnen, denn die widerspruchsvolle Entwicklung berge ein vielfältiges Konfliktpotential, das nach dem Untergang des europäischen Sozialismus noch unübersichtlicher geworden sei. Dem Prozeß »komplexer Interdependenzen« stünde eine wachsende »Fragmentierung« nicht zuletzt auch in der Gestalt neuer Nationalismen und Fundamentalismen entgegen, überlagert durch den »Zerfall bisheriger politischer Strukturen« und eingebettet in eine höchst disparate Entwicklung der ökonomischen Leistungsfähigkeit.

Doch eigentlich entwickelt sich die Welt nicht mehr, sie driftet. Wohin, das hängt nach S. auch davon ab, ob es gelingen wird, die »strukturellen Dilemmata« zu überwinden. Aber gerade in dieser Frage zeichnet sich Verheerendes ab: Selbst wenn das nach dem Ende des sog. Ost-West-Konflikts keineswegs aus der Welt geschaffene »Sicherheitsdilemma« eingedämmt werden könnte, und S. denkt dabei tatsächlich auch an eine globale »Hegemonialordnung« (sic! S. 124), dem »Entwicklungsdilemma« sei auf absehbare Zeit ebenso wenig beizukommen wie dem »Ökologiedilemma«. Der Widerspruch ist perfekt, denn eine Entwicklung der »Dritten Welt« auf den industriellen Standard der OECD-Staaten würde die ökologische Katastrophe unausweichlich machen (S. 158).

Da weiß auch die »Friedensforschung« nicht mehr weiter. Ebenso wenig wie in der Frage, wie die nach S. für eine Friedensordnung konstitutive »soziale Gerechtigkeit« hergestellt werden kann, wenn der Kapitalismus permanent und »systembedingt eher Ungleichheit als Gleichheit« produziert (S. 25). Auch das Dilemma der »Friedensforschung« ist perfekt. Und bezeichnenderweise hebt sie sich bei dem Versuch, dieses Dilemma zu überwinden, als Friedensforschung auf und mutiert zur Apologetin des out of area. Denn auch für S. ist es nun eine ausgemachte Sache, daß die Welt eben militärisch befriedet werden muß, wenn es anders gar nicht gehen will. Und die BRD dürfe da natürlich nicht abseits stehen (S. 182ff.)!

Bezeichnend auch dieses: noch bevor man in der Bonner CDU-Zentrale öffentlich über ein »Kerneuropa« als neueste Variante einer europäischen »Neuordnung« im Sinne eines internationalen Dreiklassensystems nachdachte, hatte S. diese Konzeption im Schlußkapitel seines Buch bereits antizipiert und eine »Kernzone aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten« vorgeschlagen (S. 228) und damit zugleich auch seine eingangs vorgetragene These von der hohen Bedeutung der europäischen Integration für den Frieden Europas ad absurdum geführt. Wenn es um »deutsche Interessen« geht, dann geht eben auch das. Und dann darf auch die »Friedensforschung« ruhig einmal sagen: »es könnte durchaus opportun werden, nach dem Ende der Blockkonfrontation in Europa die Karten neu zu mischen« (S. 129).

Zurück zum Anfang

NATION IN GESCHICHTE UND GEGENWART

Über alte Ansprüche und »neue Rechte«

[in: Neues Deutschland, 10./11. 12. 1994, S. 10]

Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte, Verlag C.H. Beck München 1994;Heimo Schwilk/ Ulrich Schacht: Die selbstbewußte Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Ullstein-Verlag Frankfurt/M.; Berlin 1994

Zwei Bücher sind anzuzeigen, die - je auf ihre Weise - zur Pflichtlektüre gehören sollten, wenigstens für solche ND-Autoren, die sich der »Nation« verschrieben haben, ohne hinlänglich belesen zu sein, dafür aber freimütig zu erkennen geben, daß es darauf ebensowenig ankomme wie auf präzise Historik oder gar auf politische Hermeneutik. Das erste stammt von dem Westberliner Historiker Hagen Schulze und ragt allein schon durch seine glänzende Diktion aus dem Wust der neudeutschen »Nationalpublikationen« hervor. Schulze ist beileibe kein Linker, und sein Buch ist auch nicht frei von gravierenden Fehlurteilen und diversen Verkürzungen. Doch die Dialektik der Geschichte kommt bei seiner Darstellung von »Staat und Nation in der europäischen Geschichte« sehr wohl in den Blick und neben den großen Entwicklungslinien zugleich eine Fülle von historischen Details, die die Genese des Nationalstaates in seiner ganzen Ambivalenz ebenso anschaulich illustrieren wie sie den genetischen Code des Nationalgedankens höchst aktuell dechiffrieren. Letzterer setzt sich für Schulze aus den Bausteinen einer alles überwölbenden staatlichen Legitimationsidee zusammen, zu deren Kern Feinbilder gehören, an denen eigene Identität gewonnen und gemessen wird. So wird denn auch der Krieg gegen die »Feinde« geradezu zum »Vater der Nation« und die »Nation« zur massenwirksamen Rechtfertigung des Krieges. Dessen propagandistische und ideologische Vorbereitung geht in eins mit der Konstruktion eines Geschichtsbildes, das den Ursprung der »Nation« in möglichst ferne Vergangenheiten verlegt, um das »geschichtlich Gewachsene« zum rechtfertigenden Argument für traditionsbegründeten Anspruch machen zu können, für Überlegenheit und Größe. Sinnfälligstes Beispiel: die Neogotik des 19. Jh.s, mit der die Nationalideologie ihre Geburtsurkunde zu fälschen versuchte. Zuletzt lag auch sie in den Trümmern eines Nationalreiches, dessen Ende die ins Totalitäre gesteigerte Charakteristik seiner Anfänge trug. Aber auch dieses gilt von der »Nation«: als Herrschaftsideologie wird sie in der Ablösung der Stände- durch die Klassengesellschaft zum Vehikel politischer Emanzipation und Partizipation, mithin also zu jenem Ort, an dem die Machtfrage gestellt werden konnte. Im »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« kommt die »Nation« lediglich auf dem »Reichstag« zusammen, dessen Fürsten an Macht verlieren, als sich das Bürgertum zur »Nation« erklärt, um - vor allem in den deutschen Ländern - wiederum jene nicht zur »Nation« zu rechnen, die nun der Bourgeoisie die Machtfrage stellen.

Die »Nation« als »gegebene Ordnung«, gar als »naturgegeben« - mit dieser Legende räumt Schulze ebenso gründlich auf wie mit der ahistorischen These von der Unüberlebbarkeit des »Nationalstaates«, wiewohl er durchaus dessen entwicklungsgeschichtliche Bedeutung zu schätzen weiß und auch darum weiß, daß sich die »Nation« weder per Dekret abschaffen noch durch Indoktrination allein restituieren läßt.

Wie letztere heutzutage ausschaut, das haben Heimo Schwilk und Ulrich Schacht von der »Welt am Sonntag« mit dem Band »Die selbstbewußte Nation« vorgeführt: 29 Autoren, vereinigt in einem literarischen Gruselkabinett, das (bis auf wenige Ausnahmen) als »neue Rechte« die »alten Rechte« auf die »Nation« wieder zur Geltung gebracht wissen will und dabei vor keiner intellektuellen Sodomie zurückscheut. Angeführt von Botho Strauß’ Pamphlet »Anschwellender Bocksgesang« präsentieren Kameraden wie Ernst Nolte, Ansgar Graw, Jochen Thies... ein deutschnationales Szenarium, das zur Kenntnis nehmen sollte, wer noch immer nicht erkannt hat, in welcher deutschen Nachbarschaft man sich bewegt, wenn man den publizistischen Stellplatz der »Nation« betritt.

Die Kameraden, an deren Seite auch Frau Seebacher-Brandt mitschreitet, bestätigen jedenfalls, was Schulze schon aus der Geschichte wußte: Ein tüchtiges Nationalbewußtsein braucht ein ordentliches Feindbild. Und das muß man nicht lange suchen, denn: »Die Germanen, die einst das degenerierte ‘ewige’ Rom überrannten, warten heute in der dritten Welt.« (Graw, S. 285) Deshalb ist »Kampf« angesagt und auch ein »Krieg« »nach innen« (Strauß, S.22) auch gegen jene, die sich »Heerscharen von Hungerleidern und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten« gedenken (ebd.) - die die Verantwortung dafür tragen, daß unter der »Masse« »jeder Gedanke an eine Struktur innerhalb der Gesellschaft, an das Vorhandensein oder die Notwendigkeit von Eliten abhanden gekommen ist« (Thies, S. 227) - die nicht mehr zu sagen wagen, »daß die Österreicher Deutsche sind« oder »unablässig den Nonsens verkünde(n), Gewalt sei kein Mittel der Politik« (P. Meier-Bergfeld, S. 195 u. 204) - die mit ihrem »sogenannten ‘Multikulturalismus’« »den Vorrang der westlichen Welt zu beseitigen« versuchen (Nolte, S. 159) und den »deutsche(n) Mensch(en) ... systematisch seiner nationalen Identität entkleidet« haben (Schwilk, S. 394) - die »die pluralistische Demokratie durch eine antifaschistisch-demokratische Ordnung ersetzen...wollen« und den »Feminismus« in den Rang einer »antikapitalistischen Theorie« erhoben haben (R. Zitelmann, S. 165 u. 180) - die »Deutschlands...’Schuld’« »aufbauschen« (M.J. Inacker, S. 366), den »Selbsthaß der Deutschen« (sic!) schüren (K.R. Röhl, S. 85ff.) und sie bei ihrer »Vergangenheitsbewältigung« hindern (R. Maurer, S. 69ff.) - die sich »in die Scharen der Dämonen« einreihen, welche »seit Jahrzehnten daran arbeiten, den Deutschen ihre nationale Eigenart auszutreiben, zu der insbesondere ihre angestammte Heimatliebe gehört«. Und das ist ein ganz besonderes Sakrileg, denn: »Heimat« ist »ein deutsches Urwort«, das sich - siehe oben - »bis zum Gotischen (!) zurückverfolgen läßt« (G. Bergfleth, S. 105 u. 107).

Und so immer weiter in einem neudeutschen Amoklauf, dessen dumpf-dreiste Verwerfungsformeln heute weithin noch als »Übersteigerungen« eines »rechten Randes« abgetan werden, obwohl sie morgen schon das erneuerte »Nationalbewußtsein« einer »neutralen Mitte« erobern könnten, die dann ebenfalls mit einstimmen wird in den Ruf: »Wir brauchen dringend eine neue Rechte« (H. Lange, S. 442). Wie Walter von Goldendach und Hans-Rüdiger Minow in ihrer Dokumentation über das »Innenleben des staatlichen Pangermanismus« gezeigt haben (vgl. ND v. 7.12.94, S. 3), hat dieser Ruf in den bundesdeutschen Ministerien schon längst sein Echo gefunden.

Schon heute dürfte sich in der Bundesrepublik kein Gericht finden, das den Band von Schwilk und Schacht wegen »Volksverhetzung« einstampfen läßt. Ein Grund mehr, ihn wenigstens im ND anzuzeigen.
Zurück zum Anfang

OB MIT ODER OHNE NATION

In jedem Falle aber für die PDS

[in: Neues Deutschland,15./16.10.1994, S. 10]

Die »Deutsche Nation« ist wieder im Gespräch, und alle wissen, wer es begonnen hat. Doch auch Gespräche führen ein Eigenleben, zumal dann, wenn sie politisch subventioniert und medienstrategisch lanciert werden. Und so fragt spätestens nach der ersten Runde schon kaum noch jemand nach dem Grund des Geredes. Je länger und intensiver es stattfindet, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß die anfänglich vielleicht noch kritisch gestellte Frage nach dem Grund einem wachsenden Interesse an dem Gegenstand weicht. Und nach der zweiten Runde scheint der dann tatsächlich auch festzustehen: es ist eben die »Deutsche Nation« mit ihrem »Nationalen Deutschen«, der sich auch schon wieder als »Deutsch-Nationaler« oder als »National-Deutscher« bezeichnen darf.

»Wer kein Pferd kaufen will, verhandeln nicht darüber, ob er sich lieber einen Rappen oder einen Schimmel vorführen lassen soll.« Makler aller Couleur kennen diesen Spruch und machen trotzdem ihre Geschäfte, indem sie einfach alles vorführen. Und in Sachen »Deutscher Nation« wird gegenwärtig weit mehr vorgeführt als überhaupt vorhanden ist. Unabgesprochen (natürlich), doch irgendwie stimmt alles zusammen, und immer mehr stimmen ein. Die einen in die »Nation«, die anderen in ihre Negation. Kompositionen leben von Gegenstimmen. Und sie leben von der sog. Durchführung, die als gelungen gilt, wenn sich Harmonie einstellt und jede Stimme irgendwie zur anderen paßt.

Und es paßt vorzüglich, wenn man sich im Wahlkampf rechts außen und links hinten im Ergebnis einig ist: keine Stimme für die PDS, denn a): sie habe keinerlei Sinn und Geschmack für das Nationale - oder eben b): sie sei viel zu nationalbewußt. Trefflicher können gut durchgeführte Gegenstimmen gar nicht ausfallen. Wer braucht da noch zu prüfen, ob er es lieber mit Herrn Schäuble hält oder eher mit KONKRET. Auf die Gegenstimmung kommt es an. Und die wird gemacht, so oder eben so.

Nun hat Ludwig Elm als Kandidat auf der offenen Liste der PDS im ND-Forum vom 8./9. Oktober 94, S. 10 versucht, zur Lage der Nation ein klärendes Wort zu sprechen und die Vorwürfe der einen ebenso zu parieren wie die Unterstellungen der anderen. Dabei hat er im Blick auf den Nationalismus der neuen völkischen Beobachter ein durchaus treffendes Fazit gezogen und als »barbarischen Trend« eben jene Entwicklung zutreffend charakterisiert, die schon längst nicht mehr in ihren bloßen Anfängen steckt. Wenn der Bonner Fraktionschef der CDU/CSU im »nationalen Gefühl der Zusammengehörigkeit« eine »zukunftsstiftende Kraft« entdeckt haben will, dann ist Gefahr im Verzug, denn solche Entdeckungen machte man auch schon 1914 und 1933.

Bedauerlicherweise ist es Elm aber nicht gelungen, die Kritik der hinteren Linken zu entkräften, die da vorgibt, die PDS für unwählbar halten zu müssen, weil in ihr das Nationale eine viel zu große Rolle spielen würde. In dieser Frage leitet sein Beitrag eher Wasser auf die Mühlen jener, die noch am 15. Oktober versuchen werden, der PDS Wählerstimmen zu entführen. Deutlich wird dies vor allem an folgenden Punkten:

1. Man kann nicht ernsthaft von einer »linkssektiererischen Ignoranz gegenüber Nationalität, Nation und Nationalstaat« sprechen, wenn man sich daran erinnert, daß seit Bismarks Nationalstaatsgründung die Linke damit bekämpft und abgestraft wurde, nicht zur Nation gerechnet zu werden.

2. Das bis heute nicht revidierte Verdikt über die »vaterlandslosen Gesellen« zeigt, daß sich im Begriff des »Nationalen« ein politischer Herrschaftsanspruch artikuliert, dem die »Nationalität« völlig gleichgültig wird, wenn es um den Erhalt eben dieser Herrschaft geht.

3. Die »alten und neuen nationalistischen Mythen« lassen sich nicht »entzaubern«, solange die Kategorien des »geschichtlich Gewachsenen« und »Gegebenen« ihren Zauber behalten dürfen. Auch das von Gott »gegebene« Königtum ist »geschichtlich gewachsen«. Aber nur eingefleischte Monarchisten werden behaupten, daß es sich niemals überlebt.

4. Der (naiven) Vorstellung, die »Nation« konstituiere sich durch eine gemeinsame »Geschichte sowie durch Sprache, Bräuche, Lebensweise«, steht die Erfahrung entgegen, daß die herrschende Klasse einer Gesellschaft eine andere Geschichte, eine andere Lebensweise und auch andere Bräuche hat als die von ihr Beherrschten. Ganz abgesehen davon, daß in kapitalistischen Industriegesellschaften Differenzierungen weit »wirkungsmächtiger« sind als postulierte Gemeinsamkeiten. Selbst die Gemeinsamkeit der Sprache ist da kein Argument, denn der Volksmund weiß sehr wohl, was es heißt, wenn man eben nicht dieselbe Sprache spricht.

5. Wenn überhaupt, dann müßte »Nationalbewußtsein« heute nicht von den Linken eingefordert werden, sondern von jenen, die ihr Kapital der Nationalökonomie schon längst entzogen haben und als die eigentlichen »vaterlandslosen Gesellen« auf Arbeitslosenzahlen pfeifen, wenn sie in Billiglohnländern auch nur 5% mehr Profit machen können.

6. Rechter Neo-Nationalismus läßt sich nicht dadurch bekämpfen, daß die Linken die besseren »Nationalen« sein wollen. Aber auch dieses ist zu bedenken: die herrschende Klasse würde eher auf den Begriff des »Nationalen« verzichten, als sich mit der Linken eine gemeinsame »Nation« zu teilen. Ein Grund mehr, morgen PDS zu wählen - selbst wenn man gar kein Linker sein möchte. Heute reicht es schon, ein Ostdeutscher zu sein.
Zurück zum Anfang

LEGENDENSCHREIBUNG

Der 9. November im Zerrspiegel bundesdeutscher Historiographie

[in: Neues Deutschland, 5./.6. 10. 1994, S. 1]

Johannes Willms (Hrsg.): Der 9. November. Fünf Essays zur deutschen Geschichte von P. Bender, W. Benz, H. Mommsen, F. Stern u. H.A. Winkler, Verlag C.H. Beck, München 1994

Während die deutschen Banker am 9. November 1989 fasziniert an ihre künftigen Ostfilialen denken durften, hatten die bundesbürgerlichen Historiker am Tag des »Mauerfalls« eher Anlaß, konsterniert zu sein. Wenn sie künftig über diesen 9. November referieren würden, dann ließe es sich kaum vermeiden, auch an den 9. November 1918 und 1938 zu erinnern. Zwei Daten, die auf je ihre Weise zu den Brennpunkten deutscher Geschichte gehören und die, hintergründig betrachtet, durchaus auch zusammengehören. Die Aufdeckung von Hintergründen aber war noch nie Sache der herrschenden bundesdeutschen Geschichtsschreibung. Herrschaft legitimiert sich immer vordergründig, weshalb denn ja auch bundesdeutsche Wahlkämpfe in der Regel nicht mit Programmen, sondern mit Plakaten geführt werden, die im Vordergrund (irgend)einen Po. zeigen.

So überrascht es kaum, daß auch die von dem Feuilltonchef der Süddeutschen Zeitung, Johannes Willms, herausgegebenen Essays Zusammenhänge weitgehend aussparen, dafür aber überwiegend auf die Wirkung einer Historiographie setzen, die Details nur dort bietet, wo sie das verordnete Geschichtsbild nicht entmythologisieren. Sage mir, was du wegläßt, und ich sage dir, für wen du schreibst.

Das gilt vor allem für den Beitrag zur Novemberrevolution von Heinrich August Winkler, dem Chefabwickler der Berliner Humboldt-Historiker. Seine Darstellung verdient mit jener Feststellung konfrontiert zu werden, die Sebastian Haffner in seinem berühmten Buch von 1969 über »Die verratene Revolution« treffen mußte und die da lautet: »Wohl über keinen historischen Vorgang ist so viel gelogen worden wie über die deutsche Revolution von 1918.« Die Legenden, die Haffner zerstörte, haben bei W. wieder Konjunktur. Daß die Revolution von den Führern der Mehrheitssozialdemokraten verraten wurde, sucht man bei ihm ebenso vergeblich wie den Namen des kaiserlichen Generalquartiermeisters Ludendorff, der die vor der Niederlage stehende Armee zu retten versuchte, indem er (ausgerechnet er!) die SPD in die Regierung brachte, um sein Waffenstillstandsangebot militärisch kaschieren und politisch lancieren zu können. Ein Vorgang, der für alle nachfolgenden Entwicklungen von entscheidender Bedeutung wurde. Für W. aber existiert er gar nicht. Statt dessen bedient er fast durchgängig Klischees wie etwa dieses, daß Eberts Haß auf die Revolution eigentlich doch nur dem (verständlichen) Haß auf den Bürgerkrieg entsprungen sei - als wäre nicht der Bürgerkrieg gerade von ihm und den Noskes ins Land getragen worden und als hätte nicht die sozialdemokratisch geführte Konterrevolution mit den von Ebert und Noske rekrutierten Freikorps die ungeheuerlichen Blutbäder angerichtet.

Aber offenbar sind W. diese historischen Fakten auch gar nicht so sehr wichtig, denn bezeichnenderweise zielt sein Essay nur vordergründig auf eine historische Bilanz. Seine eigentliche Botschaft ist politischer Natur und will uns lehren: »Einen radikalen gesellschaftlichen Bruch mit dem Kaiserreich hat es 1918/19... nicht geben können.« Denn: »Der Grad der Industrialisierung und der Grad der Demokratisierung (sic!) setzten... einer Revolution in Deutschland von vornherein Grenzen.« (S.28f.) Damit ist alles gesagt, und man hat sich nun nicht nur damit abzufinden, daß nach Maßgabe dieser Konditionen Revolutionen in Deutschland halt nicht mehr stattfinden können, sondern eben auch damit, daß die politische und gesellschaftliche Verfassung der BRD auch dem deutschen Kaiserreich genetisch verbunden bleibt.

Auch der Marburger Historiker Hans Mommsen bewegt sich in seinem Beitrag »Adolf Hitler und der 9. November 1923« zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Das belegt jedenfalls seine These: »Der Hitler-Putsch zielte darauf ab, die deutsche Revolution von 1918/19 rückgängig zu machen.« (S. 33) Eine klassische Halbwahrheit, denn die Revolution war ja schon längst erdrosselt worden, und die Restitution der Monarchie hatte Hitler gewiß nicht im Sinn. Dennoch ging es durchaus um 1918/19, denn es ging auch 1923 schon längst wieder und beileibe nicht nur für Hitler darum, auch die Verweser der verratenen Revolution zu liquidieren, um die Weltkriegsniederlage rückgängig machen zu können. Von einer »vernichtenden Niederlage der nationalsozialistischen Politik am 9. November« 1923 (S. 34) kann deshalb gar keine Rede sein. Die Weimarer Republik hat den Faschismus nicht vernichtet, sondern weitgehend begünstigt, was M. widersprüchlicherweise auch einräumt (S. 35), um schließlich doch noch zu behaupten, daß der 30. Januar 1933 nicht das Ergebnis von »Interessenbündnissen« gewesen sei (S. 48).

Verbiegungen wie bei Winkler und Mommsen finden sich in dem Aufsatz des Direktors des Berliner Instituts für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, über die sog. »Kristallnacht« vom 9. November 1938 nicht. Und doch hätte man sich gerade bei diesem Beitrag einen breiteren Kontext gewünscht, als dem Autor darzustellen in diesem Rahmen wahrscheinlich möglich war. Denn das »NS-Regime« hatte nicht erst »in dieser Nacht... seine wahre Natur enthüllt« (S. 49). Die hatte Hitler schon in »Mein Kampf« demonstrativ zur Schau getragen. Und wer da noch immer Zweifel hatte, der konnte sich spätestens mit dem Erlaß der »Nürnberger Gesetze« im September 1935 davon überzeugen, daß seit dem 30. Januar 1933 Regierungspolitik war, was 1925 noch als Pamphlet gelten konnte.

Einen Beitrag ganz eigener Art bietet der Journalist Peter Bender. Seine Ausführungen über den 9. November 1989 haben einen geradezu lehrhaften Charakter, denn sie zeigen exemplarisch, was Geschichtsfälschung ist und wie Legendenbildung politisch gezielt eingesetzt wird. Und es grenzt fast schon wieder an Realsatire, wenn B. vorträgt: »Da die Ostdeutschen in ihrer großen Mehrheit die Vereinigung wollten, mußten die Westdeutschen sie ebenfalls wollen« (S. 78). Nicht »die Regierungen gingen die entscheidenden Schritte, aber das Volk«. »Was sich seit dem Herbst 1989 in Deutschland vollzog, war ein demokratischer Prozeß par excellence«. »Die Deutschen haben sich vereinigt, bevor Deutschland vereinigt wurde. ‘Unten’ hatte sich vollzogen, was ‘oben’ nur noch vollendet und in eine Form gebracht werden konnte.« (S. 80ff.) So einfach ist die Geschichte.

Und wer solche Geschichtchenschreibung für blanken Unsinn halten sollte, der wird in einem Nachwort von Fritz Stern, einem Berater der USA-Botschaft in Bonn, belehrt, daß auch Benders Beitrag »ein Musterbeispiel für profunde Gelehrsamkeit« (S. 83f.) sei.
Zurück zum Anfang

KALTER KRIEG UND EISKALTE KRIEGSLIST

Das Trojanische Pferd der »Entspannungspolitik«

[in: Neues Deutschland, 13. 1. 1995, S. 13]

Sahra Wagenknecht: Antisozialistische Strategie im Zeitalter der Systemauseinandersetzung. Zwei Taktiken im Kampf gegen die sozialistische Welt, Pahl-Rugenstein-Verlag, Bonn 1995

Nicht jeder Verlag kann es sich leisten, seine Autoren in die Schlagzeilen zu bringen, bevor deren Bücher überhaupt erschienen sind. Grund genug für Pahl - Rugenstein, den Kollegen vom Wuppertaler Hauptzollamt dankbar zu sein für die uneigennützige PR-Arbeit, die sie mit der Freigabeverweigerung für das z.T. in Ungarn gedruckte Buch von Sahra Wagenknecht geleistet haben. Eine historische Studie, der bundesdeutsche Beamte einen »strafrechtlich« relevanten Inhalt nachsagen, muß man natürlich gelesen haben, zumal es inzwischen völlig unwahrscheinlich geworden ist, daß es sich dabei etwa um ein nationalistisches Pamphlet handeln könnte.

Abgesehen davon, daß die hauptzollamtliche Repression wohl vor allem das prominente Mitglied des Vorstandes der PDS und ihrer Kommunistischen Plattform treffen sollte, »triftige Gründe« für die versuchte Abstrafung lassen sich auch anderweitig erkennen. Denn schließlich beschreibt Wagenknecht in ihrem Buch jene kalte Kriegslist, mit der es dem Imperialismus gelang, sich der sozialistischen Herausforderung zu entledigen und die Welt wieder in die unbeschränkte Herrschaft des Kapitals zurückzuwerfen. Und das paßt nun so gar nicht zu der oktroyierten und selbst unter Linken gern geglaubten These von der »Implosion« des Sozialismus, die die vorsätzlich entmutigende Lehre zu verbreiten hat, daß »sozialistische Experimente« in Zukunft schon gar nicht mehr lohnen und auch »linke Politik« sich für immer und ewig nur noch vom »Markt« her zu definieren hat.

Die westeuropäischen und us-amerikanischen Dokumente, die Wagenknecht für ihre Analyse der »roll-back«-Strategie heranzieht, belehren dagegen eines ganz anderen. Allesamt gehen sie davon aus, daß der Sozialismus nur durch eine konzertierte Strategie der imperialistischen Länder liquidiert werden könne. Und entsprechend sah denn auch schon die erste Phase des Kalten Krieges aus. Doch die konzertierte Strategie der totalen Konfrontation führte nicht zum Ziel. Im Gegenteil. Sie führte zur politischen Konsolidierung des Warschauer Vertrages. Und diese konnte erst mit dem in den 60er Jahren einsetzenden Strategiewandel gestoppt und umgekehrt werden. An die Stelle allgemeiner Konfrontation trat nun die partielle und selektive Kooperation. »Wandel durch Annäherung« lautete die neue strategische Formel, »Erosion durch Entspannungspolitik«. Und das Konzept ging auf. Als 1975 die KSZE-Schlußakte unterzeichnet wurde, lag die Politik der sozialistischen Länder bereits im Sog jenes Opportunismus, der friedliche Koexistenz mit der Preisgabe revolutionärer Prinzipien verwechselte und nicht nur in der UdSSR schließlich zum reinen Renegatentum verkam. Ein Prozeß, der vom Westen genauestens observiert und - so die Dokumente - maßgeblich gesteuert wurde.

Während Wagenknecht diesen entscheidenden Paradigmenwechsel nachzeichnet, tangiert sie zugleich eine Fülle von historischen und politischen Details, die ihrem Buch eine breite Perspektive geben. In den Blick kommen nicht nur die spezifischen Auseinandersetzungen innerhalb des imperialistischen Lagers, in dem die USA eine Abkoppelung der westeuropäischen Ostpolitik, wie sie vor allem von Frankreich angestrebt wurde, zu unterbinden versuchten und dabei durchaus auch das Kalkül des amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus nutzte. Zur Sprache kommen auch jene Entwicklungen, die gegenwärtig mit Brachialgewalt wieder rückgängig gemacht werden. Denn nach der Beseitigung des europäischen Sozialismus ist das strategische Interesse an der Propagierung des »Sozialstaates« ebenso hinfällig geworden, wie der unter den Bedingungen des Kalten Krieges gewachsene Staatsdirigismus überflüssig geworden ist und nun in einer beispiellosen Privatisierungskampagne zurückgenommen wird.

Obwohl die Autorin ihr Thema mit einer geradezu nüchternen Objektivität behandelt, liest sich ihre hochinteressante Studie wie ein spannendes Drehbuch zu einem Film, der sich tatsächlich abgespielt hat. Und daß die Staatsschutzabteilung der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft die hauptzollamtliche Zensur wieder aufhob, könnte ja auch ein Indiz dafür sein, daß es den eigentlichen Verfassern dieses Drehbuches wiederum auch ganz recht ist, wenn man über ihre gelungene Kriegslist kluge Bücher schreibt.
Zurück zum Anfang

FRIEDENSBEWEGUNG IN DER KRISE?

Der Punkt, an dem die Beliebigkeit aufhört

[Norbert Alt vom Deutschen Friedensrat im Gespräch mit Dieter Kraft, in: PAX REPORT Nr.11/November 1994, S. 3f.]

Dr.sc.theol. Dieter Kraft, Jg. 1949, war bis zu seiner Kündigung »wegen mangelnden Bedarfs« zum September 1993 Dozent für Systematische Theologie an der Sektion Theologie und späteren Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Bereits im Sommer 1992 wurde er mit einem Vorlesungsverbot belegt. Erfahrungen in und mit der Friedensbewegung sammelte er als Mitglied der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) in der DDR und von 1980 bis 1984 als Studiensekretär des Prager Stabes der internationalen CFK. Ein Teil seiner Beiträge zur Friedensfrage wurde in den »Weißenseer Blättern« veröffentlicht.

N.A.: Das Ende der globalen Konfrontation hat den Ausbruch lokaler Kriege bisher eher begünstigt als vermindert. Wo müßten Ihrer Meinung nach die Ansätze liegen, dieser Herausforderung zu begegnen?

D.K.: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es zutreffend ist, vom »Ende der globalen Konfrontation« zu sprechen, denn alles sieht danach aus, als würden wir erst am Anfang einer wirklich globale Konfrontation stehen. Der sog. Ost-West-Konflikt, der präziser ja wenigstens als West-Ost-Konflikt bezeichnet werden müßte, hatte zwar ein globales Ausmaß, aber er war keine »globale Konfrontation« in dem Sinne, daß auf unserem Globus jeder gegen jeden zu Felde zog. Genau damit aber könnten wir künftig zu rechnen haben. Und Sie haben völlig recht, die Eliminierung des Sozialismus in den europäischen Ländern begünstigt nicht nur den Ausbruch lokaler Kriege, sie provoziert diese geradezu. Bis 1989 hatten wir, aufs Ganze gesehen, eine duale Kapitalismus-Sozialismus-Konfrontation. Aber das Wesentliche an dieser Epoche war nicht der »kalte Krieg«, sondern der »kalte Frieden«, den wir, auch wenn das heute vergessen werden soll, dem »Staatssozialismus« zu verdanken hatten. Jetzt stehen wir erneut in den Anfängen einer weltweiten pluralen Auseinandersetzung, denn Imperialismus und Nationalismus können sich wieder ungehemmt entfalten. Selbst Protagonisten der vor vier Jahren noch Verwirrung und Verirrung stiftenden These, der Kapitalismus würde sich zu einer »reform- und friedensfähigen Ordnung« wandeln, haben ihre Manuskripte inzwischen eingemottet. Und es wäre tatsächlich ein Trugschluß, davon auszugehen, daß sich die gerade auch in der Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus gründende Friedensordnung der Nachkriegszeit ohne die weltpolitische Relevanz eines sozialistischen Lagers kontinuieren ließe. Das wissen übrigens auch die Militärs aller imperialistischen Länder, und sie stellen sich darauf ein. Schließlich ist ihnen mit dem gemeinsamen Gegner ihre entscheidende Gemeinsamkeit abhanden gekommen. Und so können die Alliierten von gestern morgen schon Kombattanten sein. Rivalen sind sie jedenfalls schon heute, denn an der »neuen Weltordnung« wollen sie alle beteiligt sein und dabei möglichst alle anderen dominieren. Auf wirtschaftlichem Gebiet gab es diese Rivalität sogar zu Zeiten engster Waffenbrüderschaft. Jetzt aber geht es um die Frage nach der »Weltgeltung« und also darum, ob die USA die nunmehr einzige Weltmacht bleiben wird - oder ob sie sich diesen Anspruch mit Japan und Europa zu teilen hat. Und weil man im Kapitalismus nicht freiwillig teilt, stellen sich auch die Militärs auf alle nur denkbaren Varianten ein. Selbst in der bürgerlichen Konfliktforschung wird das so gesehen. Das Fazit in dem jüngsten Buch von Dieter Senghaas mit dem bezeichnenden Titel »Wohin driftet die Welt?« lautet denn auch ganz lapidar: Wohin sie »driftet« könne man nicht genau sagen, denn alles sei möglich und nichts undenkbar. Ich befürchte, daß sich vor dem Hintergrund einer solchen Entwicklung eine Antwort auf die Frage, von welchen Ansätzen her man den Herausforderungen begegnen müßte, kaum geben läßt, denn die lokalen Kriege sind kein isoliertes Phänomen. Sie gehören vielmehr in den Kontext der gegenwärtigen weltpolitischen Gesamtentwicklung.

N.A.: Militärische Interventionen der USA und anderer NATO-Staaten in Krisengebieten wurden und werden häufig mit dem Anspruch begründet, die Menschenrechte zu verteidigen. Waltet nicht auch hier jenes »Opportunitätsprinzip«, von dem Sie unlängst bei einem Kolloquium über Menschenrechtspolitik in Deutschland sprachen?

D.K.: Das ist wohl wahr und hat sich inzwischen wohl auch allgemein herumgesprochen. Selbst die Bundesregierung hat in ihrem 2. »Menschenrechtsbericht« von 1993 die außenpolitische Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage im Kampf gegen den Sozialismus ganz offen zugegeben. Nachdem sich der Sozialismus für sie erledigt hat, kann man das ja auch ohne weiteres einräumen. Und wer redet nicht gern über eine gelungene Kriegslist?! Aber es ist schon absurd: Millionen Amerikaner wissen buchstäblich nicht einmal, wie man »Menschenrechte« schreibt, aber über der militarisierten Außenpolitik der USA weht die Menschenrechtsflagge. Die NATO gibt sich verbündet im Kampf gegen die Verletzung der Menschenrechte - und hat die Türkei zum Bündnispartner. Das ist doch blanker Zynismus. Ich gehe allerdings davon aus, daß man sich zur Legitimierung militärischer Interventionen der Galionsfigur »Menschenrechte« nur noch vorübergehend bedienen wird. Erstens beginnt schon heute das Wort von den »vitalen Interessen« zu einer privilegierten Vokabel zu werden. Und wenn jeder weiß, daß man an Erdöl denkt, wenn man von Menschenrechten spricht, kann man das in der Tat auch gleich so sagen. Zweitens ist es auch höchst ambivalent, ständig von Menschenrechten zu reden, denn die Bevölkerung der eigenen Länder wird dadurch ja geradezu aufgefordert, endlich auch die ihnen vorenthaltenen Menschenrechte einzufordern. Ein Gedanke übrigens, der bei der dramatischen Entwicklung der Zwei-Drittel-Gesellschaft zur Ein-Drittel-Gesellschaft durchaus Hoffnung machen könnte.

N.A.: Wir beobachten mit Sorge, daß der Gedanke an den Krieg als legitimes Mittel von Politik wieder »salonfähig« gemacht werden könnte. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die »out-of-area«-Ambitionen der Bundeswehrführung?

D.K.: Eine Beurteilung ist da nicht ohne eine Verurteilung zu haben. Es ist wie mit den Menschenrechten. In der Sprache der Propaganda ist von »humanitären« Einsätzen die Rede. Aber wer fällt schon auf seine eigene Propaganda rein? Verteidigungsminister Rühe hat ja denn auch in einem Anfall von Aufrichtigkeit erklärt, daß es eigentlich um die »vitalen Sicherheitsinteressen« der BRD gehe und also um die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« (vgl. ND vom 28.12.93, S. 10). Und worum sonst sollte es im Kapitalismus auch gehen? Natürlich, solange es den Warschauer Pakt gab, ging das eben alles nicht so ohne weiteres. Aber jetzt hat das Kapital wieder freie Hand, und wann immer es in der Geschichte freie Hand hatte, galt auch der Krieg als »salonfähig«, schließlich kam man ohne ihn auch gar nicht aus. Warum sollte sich das geändert haben, nachdem sich die Waffentechnik so rasant verändert hat, daß Kriege, aus der Sicht der Militärs, wieder »führbar« geworden sind. Und der Golf-Krieg, den auch die Bundesregierung mitfinanziert hat, hatte ja wohl auch die Funktion, dieses endlich unter Beweis stellen und demonstrieren zu können.

N.A.: Das Eröffnungsplenum des Kasseler Treffens steht unter dem Motto: »Die Friedensbewegung in der Krise«. Stimmen Sie dieser Ausgangsthese zu und worin sehen Sie Ursachen einer ja tatsächlich verminderten Resonanz von Friedensarbeit auch in unserem Land?

D.K.: Ich stimme der These zu, meine aber, daß der Begriff der Krise im Blick auf die Friedensbewegung sehr weit gefaßt werden muß. Denn eigentlich steckt eine Friedensbewegung immer in der Krise, solange es ihr nicht gelingt, Aufrüstung und Krieg tatsächlich zu verhindern. Das ist also nicht nur eine Frage der Mitgliederzahl, der Organisation und der Mobilisation. Es ist wirklich auch eine Frage des Erfolgs. Die großen und großartigen Friedensdemonstrationen Anfang der 80er Jahre in der BRD und auch in anderen Ländern haben den sog. NATO-Nachrüstungsbeschluß nicht kippen können. Aber niemand sprach von Krise, obwohl sie in dieser Erfolglosigkeit ihren Ausdruck fand Heute ist die Situation noch schwieriger geworden. Ich weiß, daß ich mich wiederhole, aber es gibt eben kein sozialistisches Lager mehr, was auch zur Folge hat, daß die nun tatsächlich eingetretene »neue Unübersichtlichkeit« nicht nur Resignation hervorruft, sondern z.T. auch die wahnwitzige Bereitschaft, dem Militärischen neue Aspekte abzugewinnen. Und die herrschende Politik hat durch die Medien, und flankiert nicht zuletzt auch von der Evangelischen Kirche in Deutschland, diese Bereitschaft genährt und gefördert mit dem sich heute geradezu zum nationalen Konsens auswachsenden demagogischen Argument: weil eben alles so unberechenbar geworden sei, müsse es halt eine »Weltpolizei« geben, die den Frieden notfalls mit kriegerischen Mitteln herstellt. Auch in der bürgerlichen »Friedensforschung« hat man sich bereits auf diese Ebene begeben. Und nicht zu vergessen: der Krieg gegen Bagdad fand sogar unter Linken Beifall. Wenn es weithin wieder als ausgemacht gilt, daß der Frieden den Krieg rechtfertigt, dann ist es kaum verwunderlich, wenn die Friedensbewegung an Resonanz verliert.

N.A.: Ist die Vielfalt der Anliegen von Friedensgruppen und -initiativen in unserem Land Ihrer Ansicht nach eine Chance zu größerer Wirksamkeit oder liegt darin nicht vielleicht auch die Gefahr einer Zersplitterung der Kräfte?

D.K.: Beides ist natürlich möglich, aber es kommt auf die gesamtgesellschaftliche Situation an. Und unter den gegebenen innen- und außenpolitischen Bedingungen würde ich mich über jeden Geflügelzüchterverein freuen, der Wert darauf legt, sich als Teil der Friedensbewegung zu verstehen. Es zählt heute schon, überhaupt noch Friedensbewegung zu wollen, denn darin artikuliert sich doch auch ein Veto gegen die herrschende Politik. Man muß nur aufpassen, daß sich in der Vielfalt nicht jene Einfalt breitmacht, die es auch der Bundeswehr gestattet, sich als Friedensbewegung zu firmieren. Genau das möchte sie natürlich gern, denn es paßt zu der Kampagne, die imperialistische Politik des out-of-area als »Friedensmission« kaschieren zu wollen. Und genau an diesem Punkt hört in der Friedensbewegung die Beliebigkeit auf.
Zurück zum Anfang

FRIEDENSPOLITISCHER RATSCHLAG

»Deutschlands Großmachtsambitionen und die Lage der Friedensbewegung«

[Vortrag auf dem Friedenspolitischen Ratschlag, Kassel, 19./20. November 1994; in: Weißenseer Blätter 5/1994, S. 19-27; Nachdruck in: Heuer, U.-J./Nick, H./Richter, W. (Hrsg.): In großer Sorge. Was ist, was denkt, was will das Marxistische Forum?, GNN-Verlag Köln 1996, S. 87-99]

Es ist beschwerlich genug, über »Großmachtambitionen« zu reden, aber über »Deutschlands« Großmachtambitionen sprechen zu müssen, das nähert sich der Grenze des Zuträglichen - weil allein schon das Wort »Deutschland« wieder dabei ist, zu einem Begriff werden zu wollen. Und durchaus nicht nur für den sog. rechten Rand der Gesellschaft, der sich in dieser Frage bereits ganz einig wissen darf mit dem rechten Rand der sog. Mitte und wohl selbst mit jenen Linken, die in einem Deutschland nicht nur für eine Randrolle zugelassen sein wollen und deshalb vorsorglich ihren rhetorischen Beitritt erklären. Noch ist Deutschland nicht endgültig auf den Begriff gebracht, doch der »anschwellende Bocksgesang« beginnt zu dröhnen, und ein Botho Strauss wird wissen, gegen wen dann er den Krieg zu führen hat, der sich bei ihm literarisch bereits erklären ließ[1].

Der Kampf um Sinn und Verstand ist jedenfalls schon lange im Gange, und »Deutschland« ist zur Parole geworden, vor der sich das Wort von der »Bundesrepublik« zunehmend verflüchtigt und zu einem Schibboleth wird. Und wer gar im politischen Dialekt ostdeutscher Provenienz von der »BRD« spricht, verwirkt hierzulande zumindest sein ideologisches Bürgerrecht. Sprachlich hat die Bundesrepublik Deutschland fast aufgehört zu existieren. Sie steht nur noch im Grundgesetz, dessen Verbindlichkeit auch schon zur Fiktion geworden ist, nachdem es unter Verstoß gegen Artikel 79 zur beliebigen Interpretation und Änderung freigegeben wurde. Ein Grundgesetz aber, das sich der herrschenden Politik grundsätzlich akkommodieren läßt, hat eben auch aufgehört, als Grundgesetz zu existieren, zumal das Verfassungsgericht wohl kaum eine Feststellungsklage entgegennehmen dürfte, die die Promotoren dieser Änderungen als Grundgesetz-Gegner definiert.

Diese Vorbemerkung ist mir wichtig. Nicht weil ich die Formulierung des Themas unserer Veranstaltung beanstanden möchte. Im Gegenteil. Der Zusammenhang wird ja deutlich: wer politisch auf Großmachtambitionen setzt, der wird auch rhetorisch dort ansetzen, wo allein schon mit dem Begriff »Deutschland« assoziativ weit mehr beansprucht ist, als die Bundesrepublik in den Grenzen von 1994. Als Hoffmann von Fallersleben 1841 sein »Deutschlandlied« schrieb, da gab es noch nicht einmal ein »Deutsches Reich«, wohl aber schon die Überzeugung, daß der »deutsche Nationalstaat« wenigstens jene Gebiete umfassen müßte, in denen das wie auch immer artikulierte Deutsch Heimatrecht reklamieren konnte. Eine Vorstellung, die nach 1933 noch weit umfassender eingelöst werden sollte und seit dem 3. Oktober 1990 schon wieder die Signatur des »Realpolitischen« trägt. Eben deshalb halte ich es nicht für läßlich, abbreviativ von »Deutschland« zu reden und bin ganz entschieden der Überzeugung, daß es die Sprache des Friedens gerade auch und vor allem der Friedensbewegung gebietet, selbst in dieser für viele womöglich ganz nebensächlichen Frage Reflexion und Sorgfalt walten zu lassen. Der Kampf um den Frieden ist auch ein Kampf um Worte, zumal mit einem Gegner, der Schillers Diktum über die Sprache, »die für mich dichtet und denkt«, verinnerlicht hat und massenpsychologisch umzusetzen versteht.

Vielleicht aber geht es hierbei schon gar nicht mehr nur um Präliminares. Denn wenn wir nach Indizien für bundesdeutsche Großmachtambitionen suchen, dann werden wir jene neo-nationale Debatte nicht aussparen können, deren anfänglicher Nebel sich sehr schnell verzogen hat, um die Konturen eines »National-Deutschland« erkennen zu geben, in dem selbst das deformierte Grundgesetz der Bundesrepublik nur Makulatur wäre. Was bei einem Schäuble noch nach ideologischem Krisenmanagement klingen sollte, das hat inzwischen Dimensionen angenommen, in denen die Wiederentdeckung des Nationalen identisch wird mit dem Postulat einer »geistig-moralischen Wende« als Abwendung von dem Politik- und Gesellschaftsverständnis, das sich in der Bundesrepublik nach 1945 wenigstens verbal artikulierte. Und diese »Wende« geht aufs Ganze und macht, wie wir hautnah erleben, selbst vor dem Begriff des »Sozialstaats« nicht halt.

In der Sprache der offiziellen Politik klingt es zwar noch etwas verschämt und verlogen, wenn das bedrohliche Wort von der »Verschlankung« des Staates fällt und von seinem »Umbau«. Doch die »geistig-moralische Wende« greift bereits, wenn auf solche Kaschierungen zunehmend verzichtet und statt dessen Klartext geredet wird, in dem dann eben nicht »Umbau«, sondern ganz einfach »Abbau« steht. Jüngst haben ja in Berlin Politiker der F.D.P. demonstriert, was unter diesem »neuen Realismus« zu verstehen ist: Der Staat habe eigentlich nur die Aufgabe, im Innern für Ruhe und Ordnung zu sorgen und nach außen für eine schlagkräftige Armee. Alles andere gehört auf den Markt oder eben auf den Müll. Eine Reduzierung des Staatsapparates auf Militär und Polizei, offensichtlich inspiriert von amerikanischen Verhältnissen und weder irritiert durch den abschreckenden Pejorativ dieses Begriffs noch dadurch, daß in den USA gerade diese Verhältnisse in wachsendem Maße als Handikap einer weltmachtpolitischen Dominanz gesehen werden.

Doch was sind schon solche Widersprüche in einer Gesellschaft, die in einem gesamtgesellschaftlichen Widerspruch gründet und nach der Beseitigung ihrer Alternative auf dem Wege ist, Wesen und Erscheinung wieder zur Identität zu bringen. Denn der Vortrag der Berliner Genossen von der F.D.P. fällt nur rhetorisch ein wenig aus dem Rahmen der großen Koalition von Politik und Kapital. In der Sache besteht hier weitgehend Einigkeit, wie die grundsätzliche Übereinstimmung des Murmann-Papiers mit der antisozialen Politik der sog. christlich-sozialen Parteien zeigt. Und dabei befinden wir uns erst in den Anfängen einer Entwicklung, die im Kontext der umwälzenden Strukturkrise kapitalistischer Warenproduktion Ausmaße annehmen wird, die im Pauperismus des 19. Jh.s durchaus Analogien finden dürften.

Herrn Schäubles bemerkenswert laut vorgetragene Erwägung, die Bundeswehr gegebenenfalls auch nach innen einsetzen zu lassen, gibt da schon einen eindrücklichen Vorgeschmack auf das zu Erwartende und offenkundig auch von ihm Erwartete. Der Knoten jedenfalls wird längst geschürzt. Und der künftige Gleichschritt von BND und Polizei, dem - wieder einmal - auch die SPD zugestimmt hat, ist da nur eine Seite in einem staatsverfaßten Drehbuch, in dem man über den »Rechtsstaat« am Ende nicht einmal mehr viel wird lesen können. Natürlich ist damit zu rechnen, daß die organisierte Kriminalität wächst. Wie sollte sie auch nicht wachsen, wenn doch der Unterschied zum organisierten Kapital oft nur noch darin besteht, daß sich dieses seine Verbrechen legalisieren läßt. Aber es wird eben auch damit gerechnet, daß nach der »Verschlankung« der Zwei-Drittel-Gesellschaft zur Ein-Drittel-Gesellschaft auch das Potential eines organisierten Widerstandes erwächst. Wahrscheinlich weniger noch unter jenen, die dann ohnehin nichts mehr zu verlieren haben und nicht einmal mehr ordentliche Ketten tragen dürfen, sondern von denen, die jederzeit alles verlieren können. Und nicht auszudenken, wenn dann auch hier große Koalitionen entstünden.

Wenn wir in der Friedensbewegung programmatisch und perspektivisch denken wollen, dann werden wir nicht umhin kommen, uns auf die bereits anhebenden sozialen Verwerfungen einzustellen. Denn der Zusammenhang zwischen der zu erwartenden sozialen Misere und der Friedensfrage ist evident. Wenn der Begriff der »Verelendung« aus der sog. Dritten Welt zurückkehrt in die Welt der schwindenden Sozialstaatlichkeit und wachsenden Obdach- und Massenarbeitslosigkeit, dann wird die Friedensfrage endgültig zu einem gesellschaftlichen Randthema ausbleichen. In einem Staat, dessen sozialer Zerfall nicht aufgehalten, sondern generalplanmäßig befördert wird, verliert das Wort vom »Frieden« seinen Sitz im Leben. Es weicht dem Wort vom »Kampf«, der sich zur Grunderfahrung sozialen Überlebens verdichtet.

Die ersten »Straßenkämpfer« haben sich ja auch schon formiert, und die Ideologie dieses »Kampfes« ist auch schon längst formuliert. Ich zitiere nur Ansgar Graw, seit 1993 Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Sender Freies Berlin. In dem in diesem Jahr von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht im Ullstein-Verlag herausgegebenen Band über die »Selbstbewußte Nation« schreibt er unter dem Titel »Dekadenz und Kampf. Über den Irrtum der Gewaltlosigkeit« - ich zitiere: »Längst stuft die Gesellschaft mehrheitlich den Dienst an der Waffe irgendwo zwischen ›lästigem Anachronismus‹ und ›potentiellem Killertum‹ ein. Kämpfen ist ›mega-out‹. Hierzulande kuschelt man lieber. Kuscheln ist nicht nur schöner als Kämpfen. Sondern auch wichtiger: Dies ist ein Indiz für das Stadium der Dekadenz, in dem es nichts mehr zu geben scheint, um das es sich zu kämpfen lohnt, und in dem es nur den Hedonismus zu befriedigen gilt, der als alleinige Richtschnur blieb.« »Seinen Untergang hat das Abendland noch nicht erlebt, aber seinen Zenit scheint es überschritten zu haben.« »Die Germanen, die einst das degenerierte ›ewige‹ Rom überrannten, warten heute in der dritten Welt. Den Heroismus von Ernst Jüngers ›Stahlgewitter‹ haben wir getauscht gegen das andere Extrem, das nur noch ›weichen Themen‹ huldigt und Inferiorität zur Maxime persönlichen wie politischen Handelns macht.« »Eine ›Trendwende‹ ist nur möglich, wenn Werte wiederentdeckt werden, um die zu kämpfen zum Bedürfnis wird, wenn es wieder religiöse und emotionale Klammern gibt, die Opferbereitschaft, Staatsbewußtsein, Nationalbewußtsein erzeugen, wenn neben das aufgeklärte Wissen mit seinen Desillusionierungen auch wieder der demütige Glaube mit seinen Hoffnungen getreten ist. Der Kampf wäre dann kein ständiger, aber die Kampfbereitschaft immer existent. Wer andere Vokabeln vorzieht: Es geht um wehrhafte Demokratie.« Denn: »das Sichwehren ist und bleibt eine ewige Notwendigkeit«.[2]

Es hat nur 8 Jahre gedauert, bis das Pamphlet »Mein Kampf« in den Rang einer offiziellen Regierungserklärung aufsteigen konnte. Und unsere Zeit ist schnellebiger geworden. Nichts erlaubt uns, nicht mit allem rechnen zu müssen, nachdem schon jetzt evident ist, daß das Problem der bürgerlich Demokratie mehr noch als im Aufmarsch neofaschistischer Parteien vor allem darin besteht, daß die unter der Brutkappe des Konservativen keimende Ideologie des Neofaschismus gar nicht mehr nur an eine spezifische Partei gebunden ist. Und es ist gerade dieser wuchernde Konsens, der die Friedensbewegung nötigt, Antifaschismus als Synonym für Friedensarbeit zu definieren. Denn darüber dürfte wenig Zweifel bestehen: was sich heute noch als »demokratische Rechte« firmiert, wird mit der bürgerlichen Demokratie auch die Nachkriegszeit konvertieren in eine neue Vorkriegszeit - so man ihr dazu die Macht überträgt. Letzteres aber könnte ein wenig auch davon abhängen, wie stark und wie breit der Widerstand gegen diese Rechte wird. Und die Friedensbewegung sollte sich nicht nachsagen lassen müssen, in dieser Frage nicht bündnisfähig gewesen zu sein.

Ich betone das, weil ich mir durchaus darüber im klaren bin, in welch widersprüchlicher Situation wir uns hierbei befinden. Denn während wir gegen die junge Freiheit der neuen völkischen Beobachter gegenwärtig durchaus noch Bündnispartner finden, finden wir unter eben diesen kaum noch Verbündete, wenn es um »Deutschlands« Großmachtambitionen geht. Als würde es keinen Zusammenhang geben zwischen den politischen und sozialen Brüchen im Innern und jener Orientierung nach außen, die unter der Ägide einer »Neuen Weltordnung« nun auch Soldaten der Bundesrepublik auf die künftigen Schlachtfelder schickt. Und derer wird es viele geben, weil es sie geben soll. Denn der Krieg gehört in dieser »Ordnung« der Welt nach den Herrschaftsprinzipien des internationalen Kapitals wieder zu dem öffentlich-rechtlich anerkannten Instrumentarium der Politik. Und was für die USA nie ein Problem war, das hat sich inzwischen ja auch für die BRD gelöst, in der demnächst höchstens noch Sanitäter von »humanitären Einsätzen« reden werden.

Out of area ist in in dieser Gesellschaft. Von der CSU bis zu Teilen der Grünen weiß man sich einig darin, daß das, wie man gerne sagt, »größer gewordene Deutschland« endlich mehr, wie man auch gerne sagt, »Verantwortung« zu übernehmen habe. Im Bundestag war es in der vergangenen Legislaturperiode lediglich die PDS, die sich dieser imperialistischen Politik nicht unterwarf. Und auch dafür natürlich bestraft wird mit dem von der CSU bis zu den Grünen einmütig verhängten Verdikt des out of political consent.

Daß es bei der Offensive des out of area tatsächlich um Imperialismus geht und nicht etwa um Menschenrechte, das hat bekanntlich selbst Herr Rühe in einem Anfall von Aufrichtigkeit bestätigt, die sehr wohl schon die Züge jenes »neuen Realismus« trägt, der für die »geistig-moralische Wende« bestimmend werden soll. Es gehe, so Rühe im Klartext, um Deutschlands »vitale Sicherheitsinteressen«, um die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«. Vielfach zitiert, von mir nach der Ausgabe des ND vom 28.12.93, S. 10.

Seit es in dieser Welt keine Kraft mehr gibt, die diesem klassischen Imperialismus Einhalt gebieten könnte, hat sich die Doktrin dieser »Neuen Weltordnung« zur neuen Geschäftsgrundlage des internationalen Kapitals entwickelt. Und das in einem atemberaubenden Tempo, als müßte nun so schnell wie möglich nachgeholt werden, woran man über 40 Jahre gehindert war, jedenfalls nicht ungehindert. Und der »Golfkrieg«, bei dem selbst amerikanische Kommentatoren vom »vitalen Interesse« an »unserem« Erdöl sprachen war die Besiegelung dieser neuen Geschäftsgrundlage, ein martialischer Initiationsritus, mit dem zugleich demonstriert werden konnte, daß Kriege politisch und militärisch wieder führbar geworden sind und in Zukunft auch wieder geführt werden würden, so es »unsere vitalen Interessen« erfordern.

Der »Golfkrieg« hatte die Friedensbewegung noch einmal zu beeindruckendem Protest auf die Straße getrieben. Aber schon 1990 konnte man selbst unter Linken hören, daß dem Irak eigentlich ganz recht geschehe und daß man Leuten wie Saddam Hussein halt nicht anders beikommen könne. Das Wort vom »Diktator« machte die Runde und suggerierte das Recht zum Tyrannenmord - vorbehaltlich der Einschränkung, daß es natürlich nur den USA zustünde, Tyrannen zu ernennen und im Terminplan der Militärs festzulegen, wann ein Diktator ein Diktator ist. Selbst der tapfere Hermann Gremliza siedelte vorsichtshalber schon einmal um - in die Nähe von Jan Philipp Reemtsmas Kapitulationsphilosophie, nach der es immerhin noch erträglicher sei, von Bush als von Hussein dominiert zu werden, was Oliver Tolmein füglich als »Vorbereitung« einer intellektuellen Kriegskreditierung las[3]. Und obgleich Hussein schließlich doch kein Haar gekrümmt wurde, wiewohl die USA für Militär und Industrie die hervorragende Gelegenheit geschaffen hatte, die punktuelle Zielgenauigkeit der letzten waffentechnischen Entwicklungen unter Gefechtsfeldbedingungen erproben und der Weltöffentlichkeit via gleichgeschaltetem TV demonstrieren zu können, und obgleich statt des einen wahrscheinlich eine halbe Million Iraker zusammengebombt wurde, z.T. sogar mit verstrahltem Material, und obgleich das erste Mal in der Geschichte des Terrorismus ein in Betrieb befindlicher Reaktor zerstört wurde und obgleich alle Welt wußte, daß es den USA ausschließlich um die Durchsetzung ihres Hegemonialanspruchs ging, konnte auch in der BRD für die Politik der militärischen Intervention inzwischen eine immer breiter werdende Zustimmung hergestellt werden.

Eine besonders unrühmlich Rolle spielte dabei wieder einmal der Rat der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der es bisher noch nie verabsäumt hat, die jeweils geltende Militärdoktrin zu sanktionieren. So also auch jetzt wieder in der im Januar dieses Jahres herausgegebenen »Denkschrift« unter dem irreführenden Titel »Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik«. Irreführend deshalb, weil diese »Denkschrift« nicht einer Ethik des Friedens das Wort führt, sondern einer Rechtfertigung des Interventionskrieges als - Zitat: »ein prinzipiell nötiges Mittel der Politik«[4]. Und weiter im Text: »Der Einsatz militärischer Gewalt, der im Prinzip verwerflich ist«, ist »gleichwohl ethisch und rechtlich als Ausnahmefall, als Grenzfall gerechtfertigt.«[5]

Auch in der bürgerlichen »Friedens- und Konfliktforschung« wird dem Einsatz »schneller Eingreiftruppen« inzwischen applaudiert. In seinem in diesem Jahr im Suhrkamp-Verlag erschienene Buch mit dem Titel »Wohin driftet die Welt?« spricht Dieter Senghaas sogar schon von einer »politischen Kultur legitimer Intervention«[6], bei der selbstredend auch die Bundesrepublik nicht abseits stehen dürfe, wenn sie ihre weltpolitischen Interessen gewahrt wissen möchte. Zitat: »Wenn die Interdependenzen in der Welt zunehmen, dann findet faktisch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker statt. Zugespitzt kann sich nur die Frage stellen, welche bewußten und gezielten Einmischungen von außen - ungeachtet des alten völkerrechtlichen Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer - rechtens sind.«[7] Solche Sätze muß man nicht zweimal lesen, um über ihre Ungeheuerlichkeit zu erschrecken. Und erschreckend auch die Fortsetzung im Blick auf die Frage, wer denn hier nun dekretiert, was da an Völkerrechtsbruch »rechtens« sei. Senghaas Antwort lautet u.a.: »der Hegemon«, »eine ordnungsstiftende Macht« im »Rahmen einer Hegemonialordnung«[8].

Das ist Imperialismus pur, vorgetragen von einem deutschen »Friedensforscher«, dessen Problem aber ganz offensichtlich darin besteht, kein US-Amerikaner zu sein. Dann nämlich müßte er nicht so nebulös von »dem Hegemon« reden, sondern könnte ganz einfach von den Vereinigten Staaten sprechen. Doch genau das geht - mutatis mutandis - in der Bundesrepublik heute noch nicht, auch wenn man noch so kräftig »Deutschland« ruft.

Und damit stehen wir eigentlich vor dem gravierendsten Thema der gegenwärtigen und zukünftigen weltpolitischen Entwicklung. Daß der sog. Dritten Welt nun sogar das Völkerrecht offiziell aberkannt wird, ist nur eine Folge der Entfesselung des Imperialismus, der auch die ehemals »Zweite Welt« nicht privilegierter zu behandeln gedenkt, wie das interessengeleitete Kräftespiel um das ehemalige Jugoslawien bereits zu erkennen gibt. Die »Neuordnung« der Welt nach den Herrschaftsgrundsätzen eines neuen Marktkolonialismus dürfte als ausgemachte Sache gelten. Aber es ist eben noch längst nicht ausgemacht, welcher Partei dabei die führende Rolle zukommt.

Solange es mit dem sozialistischen Lager einen gemeinsamen Gegner gab, den es um jeden Preis zu liquidieren galt, zwang diese Interessengemeinschaft zu einem Burgfrieden, bei dem nicht nur der Dollar als Leitwährung anerkannt werden mußte, sondern die USA auch als Burgherr. Doch die Zeit dieser »friedlichen Koexistenz« ist vorüber, und heute werden, um noch einmal Senghaas zu zitieren, »die Karten neu gemischt«[9]. Und wer da keine Großmachtambitionen anzumelden hat, der wird gar nicht erst zur Partie zugelassen. Die Bundesrepublik jedenfalls ist offensichtlich fest entschlossen, ihr Spiel zu machen, auch wenn es dazu erst noch sehr aufwendiger Vorbereitungen bedarf. Aber die sind in vollem Gange und abzulesen an dem Hochdruck, mit dem ausgerechnet die BRD den sog. »europäischen Einigungsprozeß« vorantreibt. Sehr wohl wissend, daß sie politisch und ökonomisch eben doch noch nicht so stark ist, um im Alleingang und den auch noch auf unabsehbare Zeit ohne die geringste Chance zu einer eigenen atomaren Bewaffnung[10], neben USA und Japan zu sitzen zu kommen.

Der erste Erfolg hat sich auch schon eingestellt. Konnte zu Zeiten des »Kalten Krieges« eine Abkoppelung der westeuropäischen Integration von den USA unter Hinweis auf den gemeinsamen Gegner verhindert werden, so sind die Vereinigten Staaten von Amerika nunmehr höchstens noch in der Lage, die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa rhetorisch zu konterkarieren. Bill Clintons überraschende Wendung in seiner Rede am Brandenburger Tor, in der er eine europäische leadership of Germany zu protegieren vorgab, konnte die European neighbours of Germany eigentlich nur zu äußerster Zurückhaltung gemahnen wollen. Zumal bei ihnen noch in Erinnerung sein dürfte, daß der im Wilhelminischen Berlin gezeugte und ausgerechnet in Versailles geborene deutsche Nationalstaat am Ende fast nur ein geschwollenes Preußen war.

Die Friedensbewegung steht gegenüber der Europa-Frage in einer doppelt schwierigen Situation, denn heute als dezidierter Europäer gelten zu wollen, ist wenigstens ambivalent geworden, nachdem es in Maastricht ohnehin nur um die kapitalistische Vereinigung Europas geht, die für die Bundesrepublik zum Stellplatz für ihren Einzug in die Runde der Großmächte werden soll[11]. Und nicht zu überhören ist nun eben auch der Widerspruch, der sich innerhalb bestimmter Kreise des deutschen Kapitals gegen Europa regt und etwa mit bayrischer Boden- und Mittelständigkeit den Gedanken verbindet, daß es Deutschland vielleicht doch auch ohne Europa schaffen könnte - und wenn überhaupt, dann höchstens mit einem erstklassigen »Kerneuropa«. Selbst die Verfasser der sog. »Friedensdenkschrift« der EKD haben sich offensichtlich hinreichend veranlaßt gesehen, vor einer solchen Variante der Großmachtergreifung warnen zu sollen und unter Hinweis auf die »wichtigsten Lehren der deutschen Geschichte« eingeschärft, »daß Alleingänge vermieden werden müssen«[12].

Die Vereinigten Staaten von Europa werden den Weltfrieden nicht sicherer machen. Der ist zwar ohnehin gefährdeter als je zuvor, wenn man nur an die atomaren Arsenale der liquidierten Sowjetunion denkt, von denen heute niemand weiß, wer sie morgen befehligen wird - was im Grundsatz übrigens für alle Atomwaffen gilt. Doch mit der zunehmenden Konturierung der Triade USA-Japan-Europa wird sich jene Auseinandersetzung zuspitzen, die auf eine - notfalls auch militärisch herbeigeführte - Entscheidung der Frage drängt, wer in dieser Welt die »Hegemonialordnung« diktiert. Denn wir dürften nicht mehr von »Imperialismus« reden, wenn wir davon ausgehen könnten, daß die Option der Weltherrschaft, um die es ja bereits im Ersten und erst recht im Zweiten Weltkrieg ging, nicht zu seinem Wesen gehören würde. Es deutet jedenfalls nicht das geringste darauf hin, daß hier ein wesentlicher Paradigmenwechsel eingetreten und der Kapitalismus im Grunde gar friedensfähig geworden wäre. Die »grundlegenden Muster der früheren Eroberungszüge bestehen bis zum heutigen Tag fort«, so Noam Chomsky in seinem 1993 im Lüneburger zu Klampen-Verlag erschienenen Buche: Wirtschaft und Gewalt[13]. Und man wird über diese Feststellung sogar noch hinausgehen müssen. Denn die Doktrin der »Neuen Weltordnung« schreibt nicht nur alte Weltmachtpolitik fort. Das erste Mal in der Geschichte des Imperialismus wird in ihr die Kriegsdrohung gegenüber Staaten, die sich nicht system- und also weltmarktkompatibel verhalten, zum öffentlich-kapitalrechtlichen Prinzip erhoben.

Das ist das Ende des Völkerrechts, ein Rückfall ins Frühmittelalter, der uns erst noch belehren wird, daß mit dem Ende des sog. Kalten Krieges eigentlich die Zeit eines »kalten Friedens« abgelaufen ist, dem gerade kein ewiger Weltfrieden folgen wird. Das Ende des Ost-West-Konflikts - oder genauer gesagt: der West-Ost-Konfrontation - ist zum Anfang einer hemmungslosen Offensive gegen den Süden geworden und zum Beginn eines neuen innerimperialistischen Konkurrenzkampfes.

Als Friedensbewegung stehen wir diesen Entwicklungen gegenwärtig relativ machtlos gegenüber, und dafür gibt es vielfältige Gründe. Ich will vier wenigstens erwähnen.

Erstens sind wir mit einem internationalen und höchst interdependenten Prozeß konfrontiert, der die Wirkung selbst der spektakulärsten Aktionen paralysiert, solange sie den nationalen oder eben gar nur einen lokalen Rahmen nicht überschreiten. Das unterscheidet die heutige Situation erheblich von der der ersten Hälfte der 80er Jahre, in der gerade auch der lokal organisierte Protest zur effektivsten Form des Widerstandes werden konnte, weil mit ihm eben auch die Gefahr lokalisierbar wurde. Ein Ort wie Mutlangen ist denn ja auch nachgerade zu einem Synonym geworden - für Raketenstationierung und für Friedensbewegung.

Zweitens: In einer Gesellschaft, in der die soziale Desolation noch schneller fortschreitet als die Durchsetzung der sie bedingenden und mit dem Knüppelwort von der »Standortsicherung« verklärten Großmachtpolitik, ist es nicht zu erwarten, daß die Friedensfrage eine der sozialen Frage auch nur annähernd vergleichbare Resonanz findet. Ganz im Gegenteil. Je bedrohter die ökonomische Existenz, desto größer die wahnwitzige Bereitschaft, dem Militärischen produktive Aspekte abzugewinnen. Selbst in Ostberlin, wo die PDS mit 34,7% bei der Erststimme zur stärksten Partei wurde, ist von Friedensengagement nicht sehr viel zu spüren. Und das ist nicht nur dem Faktum geschuldet, daß es in der DDR keine Friedensbewegung in dem bundesrepublikanischen Sinne des Wortes gab, sondern - neben relativ vereinzelten Gruppierungen, zu denen auch die CFK gehörte - eben einen Friedensrat auf der einen und eine sich als »unabhängige Friedensbewegung« firmierende Opposition auf der anderen Seite, die übrigens in der Gestalt ihres prominentesten Vertreters, des Erfurter Probstes Heino Falke, zu den Autoren der EKD-Kriegsdenkschrift gehört und die den sog. konziliaren Prozeß etwa in der Person des Herrn Eppelmann, dorthin zurückgeführt hat, wo er - jedenfalls in seiner oppositionsspezifischen Instrumentalisierung - hergekommen war, nämlich aus den strategischen Stuben der CDU/CSU und angeschlossener Verbände.

Drittens: Das Bewußtsein, zu einer »Herrenrasse« zu gehören, war noch längst nicht ausgestorben, als in der Bundesrepublik bereits die ökonomische und politische Umerziehung zu einem »Erste-Welt-Klasse-Bewußtsein« begann, gegen das inzwischen - ich unterstelle einmal - auch seine selbstbewußtesten Kritiker nicht mehr völlig immun sind. Eine ideale Rahmenbedingung für die Akzeptanz des schlichten Arguments, daß angesichts der »neuen Unübersichtlichkeit« halt irgend jemand in der Welt für Ruhe und Ordnung zu sorgen habe. Und warum sollen das ausgerechnet oder gar ausschließlich die Amerikaner sein. Die letzte reichsdeutsche Kriegsmission liegt so weit zurück, daß man bei »Friedensmissionen« nicht mehr zurückhaltend zu sein braucht. »Friedensmission« klingt in deutschen Ohren zwar ungewohnt, aber an den »Kolonialwarenladen« mußte man sich früher ja auch erst gewöhnen. Und überhaupt: »die belastete Vergangenheit« »rechtfertigt...keine grundsätzliche Sonderrolle Deutschlands«. Letzteres war noch einmal Originalton EKD-Denkschrift[14], in der nun aber gerade keine Kritik an der Deutschen Sonderrolle bei der diplomatischen Anerkennung des reichsdeutschen Verbündeten Kroatien geübt wird, die in hohem Maße zur Eskalation der jugoslawischen Diadochenkämpfe beigetragen hat und das Bild vom pyromanen Feuerwehrmann im Rahmen der »Neuen Weltordnung« zeigt.

Viertens: Die Arbeit der Friedensbewegung kann nicht abhängig gemacht werde von gesellschaftlichen und politischen Konditionen. Je friedensgefährdender sich diese entwickeln, desto größer die Verantwortung der Friedensbewegung. Und je kleiner deren Zahl, um so größer die Verantwortung der Einzelnen in ihr. Doch das Engagement der Friedensbewegung stößt gegenwärtig nicht nur extern auf lähmendes Desinteresse, auf Häme auch und auf feindselige Ignoranz. Auch intern hat sich Lähmung breitgemacht, denn allerorts stoßen wir auf Diskussionen, in denen die »Krise der Friedensbewegung« zum beherrschenden Thema geworden ist. Extern jedenfalls müssen wir uns einiges bieten lassen mit dem Tonfall des Hämischen, der schon immer zu wissen vorgab, daß die Friedensbewegung eine höchst suspekte Angelegenheit sei, wenigstens aber doch gewesen sei - damals, als man noch »Sowjetunion« sagen mußte und von »Fernsteuerung« reden konnte. Nachdem sich das nun alles erledigt habe bzw. erledigt werden konnte, sei es doch nur logisch, wenn nun auch die »sogenannte« Friedensbewegung in eben jenen Abgrund falle, in dem sich das rote Moskau längst beisetzen ließ.

Streichen wir Schadenfreude und Unterstellung einmal weg, dann bleibt hier zweifellos ein Zusammenhang benannt, der sich gar nicht leugnen läßt und auch gar nicht abgeleugnet werden sollte. Denn unbestreitbar ist natürlich der Kontext, in dem sich die Friedensbewegung zu Beginn der 80er Jahre neu formierte und zu einem politischen Faktor entwickelte. Und zu diesem Kontext gehörte eben nicht nur das NATO-Langzeitprogramm mit dem sog. »Doppelbeschluß«. Dazu gehörte auch die Existenz eines sozialistischen Lagers, das trotz SS-20 nicht in jener Perspektive gesehen wurde, die Pershing und Cruise Missiles gerechtfertigt hätten. Auch noch im Nachhinein ein bemerkenswerter Vorgang. Und der Haß der herrschenden Politik auf das Veto der Friedensbewegung richtete sich denn ja auch gar nicht in erster Linie gegen irgendein allgemeines Friedensengagement, sondern gegen die mit ihm direkt oder auch nur indirekt vollzogene Anerkennung sozialistischer Friedensbereitschaft. Gerade diese aber durfte um keinen Preis konzediert werden, wollte die NATO nicht ihre Standardlegitimierung verlieren. Über Jahre hatte die »Gefahr aus dem Osten« als psycho-ideologische Begründung des sog. Wettrüstens funktioniert. Jetzt auf einmal wurde sie nicht nur zunehmend außer Kraft gesetzt. Sie begann sich sogar in ihr Gegenteil zu verkehren: Nicht aus dem Osten, aus dem Westen drohte die Gefahr. Nicht gegen Moskau, gegen Washington mußte demonstriert werden, denn dort sprach man vom »Enthauptungsschlag« und von dem »Schlachtfeld Europa«, während man in Moskau einen Friedenskongreß nach dem anderen organisierte - ganz sicher mit Vorsatz, aber eben nicht als reine Propaganda.

Es macht schon Sinn, von der »Krise der Friedensbewegung« zu reden, denn mit der Liquidierung der sozialistischen Staatsverfassungen ist nicht nur ein Bezugsrahmen verloren gegangen, die Weltfriedensfrage insgesamt ist seitdem wieder einer allgemeinen Krise ausgesetzt. Gerade aber auch der Bezugsrahmen von gestern macht heute vielen zu schaffen. Unter dem Druck der postumen Dämonisierung der sozialistischen Ländern wächst der Leidensdruck, mit ihnen einst in einem Atemzug genannt worden zu sein oder gar auch einmal in Ostberlin vorgesprochen zu haben. Und so überbieten sich Dementis und Revokationen im verordneten Erklärungsnotstand, und bisweilen werden aus Helden sogar Schurken.

Dennoch sollten wir nicht von einer »Krise der Friedensbewegung« sprechen, denn der für heute angesetzte Begriff der »Krise« setzt voraus, daß sich die Friedensbewegung gestern nicht in einer solchen befunden hätte. Das anzunehmen aber dürfte ein Irrtum sein. Ganz gewiß, wir haben schon bessere Zeiten erlebt. Und wer einst an den großen Demonstrationen auf dem Hamburger Kirchentag oder in Bonn teilnahm, dürfte heute sehr bescheiden geworden sein. Doch eine Friedensbewegung steckt eigentlich immer in der Krise, solange es ihr nicht gelingt, Aufrüstung und Krieg wirklich zu verhindern. Weil Friedensbewegung kein Selbstzweck ist definiert sich die ihr eignende Krise nicht an der Zahl ihrer Mitglieder, an Organisation und Mobilisation, sondern tatsächlich am Erfolg - wiewohl es nicht der Erfolg ist, der unserer Arbeit Sinn und Verstand verleiht. Erfolg aber ist selbst dem flächendeckenden Engagement gegen die Raketenstationierung versagt geblieben. Wir sollten uns also durch das Wort von der »Krise« nicht noch zusätzlich irritieren und paralysieren lassen, sondern einfach danach fragen, was wir unter den heutigen Bedingungen leisten müssen und leisten können - selbst in der uns zugedachten Nebenrolle der »ewig Gestrigen«.

Vielleicht ist diese Rolle auch gar nicht so übel. »Ewig Gestrige« haben immerhin ein funktionierendes Erinnerungsvermögen, das in der Bundesrepublik lediglich gefragt ist, wenn es um ostelbische Immobilien und Ländereien geht. Als die DDR von der BRD okkupiert und nicht nur de facto zum Protektorat erklärt wurde, wollte sich jedenfalls in der bundesdeutschen Politik und Wirtschaft niemand mehr an die in der KSZE-Schlußakte unterzeichnete Anerkennung der europäischen Grenzen erinnern. »Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.« Aber alles spricht dafür, daß diese Erklärung von gestern schon heute ebenso in Vergessenheit geraten ist wie die einst von Adenauer aber auch noch von Brand gegebene Zusicherung eines Friedensvertrages mit der Sowjetunion. Und hätte nicht der Historiker Klaus Ehrler unermüdlich an diesen Wortbruch erinnert, wäre er selbst im kollektiven Bewußtsein der Friedensbewegung untergegangen. Auch wenn die Friedensbewegung gegenwärtig nur die Erinnerung an die Vertrags- und Wortbrüche bundesdeutscher Politik wachhalten könnte, würde sie einen gewichtigen Friedensdienst in einem Lande leisten, in dem selbst der 8.Mai 1945 vergessen werden darf, wenn Deutschland der Welt den Sieg erklärt.


[1] DER SPIEGEL, 8.2.1993.

[2] H. Schwilk/U. Schacht (Hg.): Die selbstbewußte Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, 1994, S. 285f.

[3] KONKRET 12/1990; 1+4/1991.

[4] Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-TEXTE 48, 1994, S. 2.

[5] Ebd., S. 18.

[6] D. Senghaas: Wohin driftet die Welt? Über die Zukunft friedlicher Koexistenz, 1994, S. 182.

[7] Ebd., S. 84

[8] Ebd., S. 124.

[9] Ebd., S. 229.

[10] Das Streben der BRD nach Atomwaffen darf jedoch keineswegs unterschätzt werden, auch wenn es sich gegenwärtig nur indirekt - aus den Reaktionen Frankreichs und Großbritanniens - erschließen läßt. Offensichtlich ist es aber bereits sehr massiv. Denn um dem Argument zuvorzukommen, gegen die Gefahr vagabundierenden Plutoniums könne sich die BRD nur durch eine eigene Atomrüstung schützen, haben Frankreich und Großbritannien eine Einbindung in das A-Waffensystem ihrer Armeen im Rahmen der WEU und des französisch-deutschen Eurocorps initiiert. So sieht der Vertrag über das Eurocorps vor, daß der gemeinsamen Truppe A-Waffen »beigestellt« werden können - ungeachtet der Frage, wer diese zu diesem Zeitpunkt befehligt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung kann nicht ausgeschlossen werden, daß die BRD ein großes Interesse an der medienwirksamen Aufbereitung des jüngsten Plutoniumschmuggels (so es dabei nicht gar um Inszenierungen ging) hatte, der durchaus dazu angetan war, die Bevölkerung auf »notwendige Gegenmaßnahmen« einzustimmen - zumal im nächsten Jahr die Verhandlungen über den Nichtweiterverbreitungsvertrag beginnen und die BRD von niemandem mehr gezwungen werden kann, ihren Vertragsmitgliedschaft fortzusetzen.

[11] Militärisch findet das u.a. auch seinen Ausdruck in der Forcierung des Baus eines europäischen Kampfflugzeugs, das als »Eurofighter 2000« die Planungen für den »Jäger 90« überholt hat und der »Europäischen Union« geradezu demonstrativ den Charakter einer europäischen Militärmacht geben soll.

[12] A.a.O., S. 30.

[13] N. Chomsky: Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur Neuen Weltordnung, 1993, S. 62.

[14] A.a.O., S. 31.

Zurück zum Anfang